Samstag, 2. Juni 2007

Der Tod des Studenten Benno Ohnesorg

Eine Gedächtnis-Übung zum 40. Jahrestag

Von Claudia Wolff

2. Juni 1967 in Westberlin:
Studenten-Demonstration gegen hohe Staatsgäste, den Schah von Persien, Reza Pahlevi, und seine Gemahlin Farah Diba. Am Abend kommt es vor der Deutschen Oper zu offenbar systematischen Prügel-Exzessen der Polizei, aus zahllosen Zeugenberichten spricht fassungsloses Entsetzen. Die eskalierte Polizei-Hysterie fordert schließlich ein Todesopfer: der Student Benno Ohnesorg, von dem keinerlei Gewalt ausgegangen war, wird von einem Zivilpolizisten in den Hinterkopf geschossen.

Der Tod des Benno Ohnesorg ist eine Urszene in der Geschichte der Protestbewegung:
Er radikalisiert die linken Studenten, die Außerparlamentarische Opposition - und er erregt und empört, weit über die studentische Szene hinaus, die linke und liberale Öffentlichkeit - scheint er doch einen Verdacht zu bestätigen, der lange schon schwelt. Im Vorfeld des von Unheils-Erwartung umwitterten G 8-Gipfels mag die Erinnerung an diesen 2.Juni als eine Art Mahnmal taugen.

Das Foto

- eingeschrieben ins Gedächtnis teilnehmender Zeitgenossen: Ein junger Mann liegt, offenbar hilflos, auf dem Rücken, mit geschlossenen Augen, ein geknülltes Tuch unterm Kopf, und etwas Dunkles, von dem man später wissen wird, dass es Blut ist. Rechts neben ihm kniend eine junge Frau in schwarzem Umhang, sie hält den Kopf des Liegenden mit beiden Händen, schaut, aus ihrer Perspektive, schräg nach links oben zu mutmaßlich Umstehenden, die sich außerhalb des Bildausschnitts befinden und denen sie, nach dem Ausdruck auf ihrem Gesicht zu schließen, empört etwas zuruft. Hinter ihr sieht man ein Stück vom Heck eines VW-Käfers, drei Buchstaben vom Kennzeichen. Westberlin.

Der auf dem Boden liegende Mann ist der Student Benno Ohnesorg, Minuten zuvor in den Hinterkopf geschossen von einem Zivilpolizisten namens Karl Heinz Kurras, Minuten zuvor auch von mehreren Uniformierten zusammengeknüppelt, die, so wird berichtet, noch weiter schlagen, als er schon angeschossen bzw. erschossen am Boden liegt.

Die Szene spielt in einem Westberliner Parkhof nahe der Deutschen Oper, es ist etwa 20 Uhr 30. In der Oper findet zu dieser Zeit eine Aufführung der Zauberflöte statt, in Anwesenheit hoher Staatsgäste, nämlich des Schahs von Persien, Reza Pahlevi, und seiner Gemahlin, einer Illustrierten-Berühmtheit namens Farah Diba. Sie werden begleitet vom deutschen Bundespräsidenten Heinrich Lübke, vom Regierenden Bürgermeister Heinrich Albertz und weiterer Polit-Prominenz.

Der Schah ist bei linken Studenten übel beleumundet als ein charakteristischer, vom Westen gesponserter Drittwelt-Diktator, da sind, das ist klar, Demonstrationen angesagt. Zumal man detaillierte Kenntnis von den Verhältnissen im Iran, der damals noch Persien heißt, grad eben gewonnen hat, bei der Lektüre eines im Frühjahr 67 erschienenen Buchs von Bahman Nirumand. Nirumand, ein Perser, der in Deutschland studiert, über Brecht promoviert hat: "Persien - Modell eines Entwicklungslandes; oder: Die Diktatur der Freien Welt" heißt das Buch, das Nachwort stammt von Hans Magnus Enzensberger.

Ulrike Marie Meinhof, damals noch Journalistin im vollen Glanz der Legalität, publiziert einen offenen Brief an die Gattin des Kaisers, in dem sie deren in Illustierten-Interviews verabreichte Auskünfte über das schöne Leben in Persien mit Nirumands tiefschwarzen Berichten sarkastisch konfrontiert. Am Vorabend des Schahbesuchs schließlich gibt es im Audimax der Freien Universität ein Teach-In mit Nirumand vor mehr als 3000 Studenten.

Das Terrain ist also bereitet für diesen von vorauseilender Skandal-Erwartung umwitterten Tag. Und morgens schon kann man einen Eindruck gewinnen von den Präferenzen der Polizei: Vor dem Schöneberger Rathaus sind, zur Begrüßung des Staatsbesuchs, Demonstranten versammelt - und die Polizei sieht tatenlos zu, wie eine Gruppe von kaisertreuen Persern, nachmals als "Jubelperser" berüchtigt, mit langen Holzlatten auf die Demonstranten einprügelt.

Ein Auftakt, der Stimmung macht.

Am Abend dann dieses 2.Juni stehen die Demonstranten, unter die sich auch unpolitisch prominenz-lüsterne Zuschauer mischen, dicht gedrängt auf dem Bürgersteig gegenüber der Oper in einer schlauchartigen Formation, hinter sich einen hohen Bauzaun, vor sich die polizeilichen Sperr-Gitter.

Ohrenbetäubendes Protestgeschrei habe es, so die Berichte von Augen-und Ohrenzeugen, bei der Ankunft des Schahs gegeben, ferner einige Eier- und Tomatenwürfe, die indessen nicht trafen, Rauchbomben, die von der Polizei in die Menge zurückgeschleudert werden, auch einige Steine seien, womöglich, geworfen worden. Als die Prominenz in der Oper verschwunden gewesen sei, habe sich die Demonstration zu zerstreuen versucht - was dann geschah, darüber gibt es unzählige, von fassungslosem Entsetzen gezeichnete Berichte - ich zitiere einen einzigen aus der Wochenzeitung "Die ZEIT" vom 9.Juni 1967:

"Vor den Barrieren formieren sich in gestaffelten Reihen Polizisten, die ihre Gummiknüppel schlagbereit in der Hand halten... um 20 Uhr 09 beginnt ein Massaker....Ohne Ankündigung des Polizeilautsprechers, ohne Warnung durch die Polizisten, ohne akuten Anlass prügeln Stoßtrupps auf die Demonstranten ein. In der Mitte entsteht für kurze Zeit ein Kessel. Als die Polizisten über die Barrieren prügeln, schreit ein Demonstrant "hinsetzen", aber die Polizisten schlagen auf die Sitzenden ein... Mädchen bitten: "Nicht schlagen", aber die Polizisten schlagen mit äußerster Kraft, schlagen auf Ohnmächtige, auf Liegende, auf Studenten, die ihren zusammengebrochenen Kommilitonen helfen wollen ...

Die Demonstranten drängen in panischem Schrecken in die Krumme Straße. Noch auf der Bismarckstraße wird ein Mädchen durch die Barriere gedrückt. Der Kaufmann Jürgen B. versucht zu helfen und bekommt dafür einen Faustschlag hinters Ohr. Er sieht, wie neben ihm ein junger Mann zu Polizisten sagt, er wolle auf die andere Straßenseite, sieht, wie vier oder fünf sich auf ihn stürzen, ihn niederknüppeln, ihm die Brille zerschlagen und, über ihn gebeugt, prügeln, während er schreit."

Aberwitzige Szenen, herausgegriffen aus einer Fülle ganz ähnlich lautender Zeugen-Berichte - sie stammen nicht nur von Demonstranten. Offenbar angehalten, ein Exempel zu statuieren, ist diese Polizei zusätzlich aufgeputscht durch die per Lautsprecher wiederholt verbreitete Falschmeldung, ein Polizist sei erstochen worden.

Warum die Polizei, da sie gegen die zwischen Bauzaun und Absperrung schlauchartig eingezwängten Demonstranten vorging, zuerst in der Mitte angriff, das erklärt der Polizeipräsident Duensing einige Tage später mit einem unvergesslichen Satz, ich zitiere: "Nehmen wir die Demonstranten als Leberwurst, dann müssen wir in die Mitte hineinstechen, damit sie am Ende auseinander platzt."

Die Erschießung des in einen Parkhof der Krummen Straße geflüchteten Benno Ohnesorg, der gewaltlos demonstriert, sich keiner aggressiven Handlung schuldig gemacht hatte, nicht mal Mitglied irgendeiner radikalen Gruppe gewesen war - die Erschießung des Benno Ohnesorg ist der finale Skandal einer Polizei-Aktion von bis dahin einzigartiger Brutalität. Auch wenn der Schuss ein Unfall oder Zufall gewesen sein mag - im Kontext dieser gezielten Brutalität war er dann eben doch keiner.

Insofern stiftet er eine Urszene, die die linken Studenten, die Außerparlamentarische Opposition radikalisiert, das Thema "Gegengewalt" in den Debatten dramatisch nach vorne bringt, darüber hinaus aber die linke, auch die liberale Öffentlichkeit erregt und empört, wie man's in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte so noch nicht erlebt hat. Eine Zäsur.

Unter der ersten Protestresolution stehen Dutzende Namen von Schriftstellern, Publizisten, Theaterleuten. Alle Parteien, schreibt Hans Magnus Enzensberger, seien sich darin einig, die Verfassung verschwinden zu lassen, es sei der Beginn einer Treibjagd auf die Außerparlamentarische Opposition.

Sebastian Haffner spricht im "Stern" von einem, Zitat, "systematischen, kaltblütig geplanten Pogrom, begangen von der Berliner Polizei an Berliner Studenten"; auch ein FAZ-Journalist hat geplante Polizei-Brutalität wahrgenommen, wie sie bisher nur aus Zeitungsberichten über faschistische oder halbfaschistische Länder bekannt geworden sei. In allen Universitätsstädten finden Protest-Veranstaltungen und Trauerkundgebungen statt, in Köln erklärt der Soziologe Erwin K. Scheuch, Zitat:

"Wir älteren Menschen in dieser Gesellschaft müssen uns in dieser Situation des Protests der Studenten und eines Unrechts an den Studenten vor einer besonderen Art von Pharisäertum hüten: jeden Formfehler der Studenten zum Anlass der Distanzierung von unbequemen Studenten zu nehmen. Wir Älteren müssen jetzt versuchen, ihre Sache zu verstehen statt an ihren Formen Anstoß zu nehmen."

Nicht sehr lang allerdings wird die Verstehensbereitschaft bei Erwin Kurt Scheuch sich halten. Die Agitation der Studentenrevolte gegen die "Ordinarien-Universität" treibt ihn an die Gegen-Front, 1970 gehört er zu den Gründern des konservativen "Bundes Freiheit der Wissenschaft".

In umgekehrter Richtung verläuft der Weg des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, des Sozialdemokraten Heinrich Albertz. Ihm steht eine Art paulinischer Wende bevor.

Die ersten seiner Verlautbarungen aber zum 2.Juni sind geeignet, Öl ins Feuer zu gießen. Sie zeugen von einer kalten Ignoranz, die man nur verstehen kann, wenn man annimmt, dass der so Sprechende von eben jenem Ressentiment durchdrungen ist, welches die berüchtigt hetzerische Berichterstattung der in Berlin dominierenden Springer-Presse charakterisiert, seit Studenten begonnen haben, politisch zu stören. Und dazu kommt, natürlich, die permanente politische Anspannung in der seit sechs Jahren durch eine Mauer geteilten Stadt.

Noch in der Nacht erklärt Albertz, der von der Prügelszenen nichts gesehen haben kann, weil er in der Oper saß, die Geduld der Stadt sei am Ende. Zitat:

"Die Polizei, durch Rowdies provoziert, war gezwungen, scharf vorzugehen und von ihren Schlagstöcken Gebrauch zu machen. Ich sage ausdrücklich und mit Nachdruck, dass ich das Verhalten der Polizei billige und dass ich mich durch eigenen Augenschein davon überzeugt habe, dass sich die Polizei bis an die Grenzen des Zumutbaren zurückgehalten hat."

Das bleibt der Tenor auch in den Erklärungen der folgenden Tage. Keinerlei Kritik am Vorgehen der Polizei, die nur ihre "schwere Pflicht" tut.

Zitat: "Diese Pflicht heißt zuerst und mit allem, was es auch in notfalls harten Zugriffen bedeuten kann, Sicherheit und Ruhe in dieser Stadt zu gewährleisten... der Senat steht hinter der treuen Pflichterfüllung jedes einzelnen Polizeibeamten."

Heinrich Albertz, der, bevor er Politiker wurde, ein evangelischer Pastor gewesen war.

So ähnlich reden die meisten Verantwortungsträger, so ähnlich redet die Gewerkschaft der Polizei. Auf der Straße, bei den "Bild"- und "Morgenpost"-Lesern, fällt das Vokabular, in dem sich die Wut auf den "studentischen Mob", die "Gammler" und "Kommunistenschweine" entlädt, naturgemäß drastischer aus. Sogar in den Krankenhäusern sind einschlägige Erfahrungen zu machen. Noch ein Zitat aus dem Bericht des ZEIT-Reporters Jürgen Zimmer:

"Ulrike Krüger, Philsophiestudentin aus Kassel, gehört zu den ersten Opfern. Mehrere Polizisten dreschen auf sie ein... Ich finde sie auf einer Wiese an der Krummen Straße, sie windet sich in Krämpfen, ihr Gesicht ist blutüberströmt, die Kleider sind verschmutzt.

Später diagnostizieren sie im Westend-Krankenhaus eine Nierenprellung. Dort fallen auch Äußerungen wie diese: "Die dreckigen Studentinnen. Denen braucht man bloß unter die Röcke zu sehen". Als Ulrike Krüger am nächsten Tag starke spastische Schmerzen bekommt und der ärztliche Notfalldienst gerufen wird, weigert sich der Bereitschaftsarzt: "Wenn das mit der Prügelei zu tun hat, kann ich aus juristischen Gründen nicht kommen."

Heinrich Albertz wird sich in den folgenden Wochen und Monaten aus dem Beton der blinden law-and-order-Kameraderie allmählich lösen, ja - die Augen scheinen ihm tatsächlich aufzugehen. Im September 1967 tritt er zurück, eingekesselt auch vom Intrigentheater seiner sozialdemokratischen Parteigenossen - zumal die nach der Macht strebende Gruppe der jungen Rechten traut ihm die gnadenlose Härte nicht länger zu, die sie für angemessen hält. In einem eben erschienenen Buch "Wie starb Benno Ohnesorg?" rekonstruiert der Berliner Autor Uwe Soukup das parteiinterne Agieren gegen Albertz mit akribischer Genauigkeit. Er präsentiert überdies Fotos vom 2.Juni, die man noch nie gesehen hat, sammelt viele Indizien, die dafür sprechen, dass der Polizeieinsatz vor der Deutschen Oper einer von längerer Hand entworfenen, möglicherweise an Albertz vorbei entworfenen Strategie gefolgt ist.

In seiner letzten Rede vor dem Berliner Abgeordnetenhaus jedenfalls erklärt Heinrich Albertz, ich zitiere:

"Ich war am schwächsten, als ich am härtesten war, in jener Nacht des zweiten Juni, weil ich dort objektiv das Falsche tat."

Albertz ist wieder Pastor geworden. In den folgenden Jahren hat er des öfteren zum Ausdruck gebracht, dass er sich für die Ermordung Benno Ohnesorgs verantwortlich fühle. Anfang der 80er-Jahre gehört er dann zur Prominenz der Friedensbewegung, praktiziert nun seinerseits zivilen Ungehorsam bei der berühmten Blockade der Mutlanger Raketen-Depots.

Der geläuterte Albertz, der sich in ein religiös konnotiertes Schuldgefühl - man kann vielleicht sagen: gerettet hat - der geläuterte Albertz spricht von Ohnesorgs Ermordung - ein moralisches, kein juristisches Urteil.

In den Prozessen, die gegen den Todesschützen Kurras geführt werden, steht der Vorwurf des Totschlags nur zur Debatte. Für die von ihm behauptete Notwehr-Situation gibt es nicht den geringsten Beweis, wie genau es zum Schuss kam, bleibt ungeklärt. Kurras wird im ersten Prozess freigesprochen, in einem zweiten 1970 zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt, nach vier Monaten aus der Haft wieder entlassen, später in den Polizeidienst reinstalliert.

Der Freispruch, man kann es sich denken, beheizt die Revolte enorm. Zumal es einen provozierenden Vergleich gibt: unter der Anschuldigung, einen Stein geworfen zu haben, die aber schließlich vor Gericht widerlegt wird, sitzt der Kommunarde Fritz Teufel 148 Tage in Untersuchungshaft.

Die Ereignisse rund um den "Polizeistaatsbesuch" - so der Titel eines exemplarischen Dokumentarfilms des Schweizer Filmemachers Roman Brodmann - die Ereignisse des 2. Juni 1967 aktualisieren den Faschismus-Verdacht mit einer Vehemenz, die man nur versteht, wenn man sich ins Gedächtnis ruft, wie und warum das Misstrauen gegen den Staat und seine politische Klasse in den Sechzigerjahren herangereift ist.

1962, im Sommer, war es in München erstmals zu tagelangen Straßenschlachten zwischen Demonstranten und Polizei gekommen - die sogenannten "Schwabinger Krawalle" - ausgelöst durch das Vorgehen der Polizei gegen ruhestörende Straßenmusikanten - noch ist da kein dezidiert politisches Ziel.

Im Herbst 1962 dann der große politische Skandal der "Spiegel-Affäre", die Verhaftung des Herausgebers Rudolf Augstein und des Redakteurs Conrad Ahlers, denen man, nach einer Titel-Geschichte über den desolaten Zustand der Bundeswehr, Landesverrat vorwirft. Die Bundesregierung - noch heißt der Kanzler Konrad Adenauer - die Bundesregierung habe ihren ersten unverhüllten und weithin sichtbaren Angriff auf die Grundrechte der Verfassung unternommen, schreibt Enzensberger. Dieser Spiegel-Skandal erzwingt schließlich den Rücktritt des Verteidigungsministers Franz Josef Strauß, da sich nach ersten Leugnungsversuchen dessen Drahtzieherschaft herausstellt.

Strauß, der Hauptdarsteller in diversen zwielichtigen Affären, ist in diesen Jahren eine bei Linken und Linksliberalen zutiefst verhasste Figur, jede politische Schändlichkeit traut man ihm zu. Und dann verschärft die Debatte über die Notstandsgesetze, aufflammend Mitte der 6oer Jahre, den Verdacht gegen die Regierungsparteien, zumal gegen CDU und CSU. Sie stehen für Konformismus, Spießertum, Prüderie, für Reaktion und Restauration, für den geballten Mief der Fünfzigerjahre. Unter ihrer, sagen wir: Schirmherrschaft, hatten Protagonisten des NS-Regimes ihre Karrieren in der Bundesrepublik wieder aufnehmen dürfen, sie scheinen haupt- oder jedenfalls mit verantwortlich für das Beschweigen und Verdrängen zu sein, dem die Revolte der Sechzigerjahre ihr moralisches Pathos, Aufklärungs- und Entlarvungs-Pathos entgegensetzt.

In der Bundestagswahl von 1965 scheitert die oppositionelle SPD erneut. Noch einmal hatte es eine Kampagne deutscher Schriftsteller für diese SPD und ihren Kanzlerkandidaten Willy Brandt gegeben, eine der Mitarbeiterinnen im Wahlkontor: Gudrun Enßlin.

Wie alles anfing.

Willy Brandt hat Erfahrung mit dem überlebenden Nazi-Geist - einige der politischen Gegner lieben es, seinen Patriotismus durch diffamierende Anspielungen auf die antinazistische Vergangenheit des Emigranten in Zweifel zu ziehen. Dass dieser Willy Brandt dann 1966 den Außenminister einer Großen Koalition macht, der ein ehemaliger NSDAP-Genosse namens Kurt Georg Kiesinger als Kanzler vorsteht, dass er sich mit einem Franz Josef Strauß, der jetzt den Finanzminister gibt, an den Tisch des Kabinetts setzt - eines Kabinetts, das im Begriff ist, die hoch verdächtigen Notstandsgesetze zu verabschieden - das wird nicht als Pragmatismus des Übergangs verstanden - das ist zu viel. Das ist die Stunde, da sich Enttäuschung, Frust und Wut entladen in die APO - die Außerparlamentarische Opposition.

Hans Magnus Enzensberger, 1967, Zitat: "Die parlamentarische Regierungsform ist vollends zur Fassade für ein Machtkartell geworden, das der verfassungsmäßige Souverän, das Volk, auf keine Weise mehr beseitigen kann. Abstimmungen im Bundestag gleichen seitdem der Prozedur, die in den Volksdemokratien üblich ist; Debatten sind überflüssig geworden. Die Regierung ist dabei, diese Situation durch Manipulationen der Wahlrechts und durch Notstandsgesetze zu zementieren. Das Ende der zweiten deutschen Demokratie ist absehbar."

Dieses damals weit verbreitete, innenpolitisch motivierte Bedrohungsgefühl verbindet sich mit der Empörung über das Vorgehen der USA in Vietnam, die Protestbewegung beginnt in den USA, greift nach Europa über. Die Wahrnehmung der Leiden der mit Napalm terrorisierten vietnamesischen Bevölkerung verallgemeinert sich dann zu einer überschwänglichen, wenn auch nur abstrakt-theoretischen Umarmung aller Befreiungsbewegungen der Dritten Welt - das Buch "Die Verdammten dieser Erde" von Frantz Fanon, das den gewaltsamen Aufstand der Massen imaginiert, ist eine der Lektüren der Stunde. Man muss nur in den 65er, 66er, 67er, 68er Ausgaben der von Enzensberger herausgegeben Zeitschrift "Kursbuch" blättern, um wieder zu finden, was die Neue Linke damals bewegt.

Soweit die Skizze einer aus durchaus heterogenen Motiven zusammengebrauten, potentiell explosiven Gestimmheit: dahinein geschleudert also an diesem 2.Juni die Erfahrung entfesselter Polizeigewalt - der Brandsatz, das Stimulans eines Verdachts, der sich längst in Bereitschaft hält, begierig geradezu nach Signalen, die ihn zu bestätigen scheinen: "Kapitalismus führt zum Faschismus".

"Sie werden uns alle umbringen." Das habe, berichtet ein Zeuge, eine junge Frau hysterisch geschrieen, am Abend des 2. Juni auf einer Versammlung des SDS, des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds.

"Sie werden uns alle umbringen - ihr wisst doch, mit was für Schweinen wir es zu tun haben - das ist die Generation von Auschwitz, mit der wir es zu tun haben - man kann mit Leuten, die Auschwitz gemacht haben, nicht diskutieren. Die haben Waffen und wir haben keine. Wir müssen uns auch bewaffnen."

Nicht alle, die dabei gewesen sind, wollen diese Szene bestätigen. Und auch dafür, dass es, wie gelegentlich kolportiert wurde, Gudrun Enßlin gewesen sei, die derart geschrieen habe, gibt es offenbar keinen Beleg. Indessen - erfunden bzw. nachempfunden oder nicht: in dieser Szene bildet sich der rabiate Kurzschluss ab, der Realitätsverlust, dem dann ein paar Dutzend junger Leute zum Opfer fallen. Sie sehen sich jetzt als Widerstandskämpfer, nachholend, was die feige Elterngeneration nicht getan hat.

Was übrigens die fatal überziehende Auschwitz-Assoziation angeht: nicht mal Sebastian Haffner vermag sich ihrer zu erwehren. Die Polizisten vom Schlage des Schützen Kurras seien, so schreibt er, ich zitiere, "Für die Nacht der langen Knüppel genau so wenig allein verantwortlich, wie es die Kaduk und Boger in Auschwitz waren. Die Hauptverantwortung tragen damals wie heute Schreibtischtäter mit manikürten Händen." Sebastian Haffner.

Und Hans Magnus Enzensberger? Er ist 37, viel älter als die revoltierenden Studenten, längst ein Star der linksintellektuellen Szene. Und er drückt sich 1967 so aus, Zitat:

"Was auf der Tagesordnung steht, ist nicht mehr der Kommunismus, sondern die Revolution. Das politische System der Bundesrepublik ist jenseits aller Reparatur. Man kann ihm zustimmen, oder man muss es durch ein neues ersetzen. Tertium non datur ... Es ist die Staatsmacht selbst, die dafür sorgt, dass die Revolution nicht nur notwendig (das wäre sie schon 1945 gewesen) sondern auch denkbar wird - wenn auch nicht, in absehbarer Zeit, möglich ... Die Studenten haben sich der Alternative zuerst gestellt und sie am eigenen Leibe erfahren. In den Berliner Polizeipogromen vom Sommer dieses Jahres haben sich die ersten Kerne einer revolutionär gesinnten Opposition gebildet."

Die Revolution also - notwendig und denkbar. Dann allerdings kommt dieses kleine, nachgeschobene "wenn auch" - "wenn auch nicht, in absehbarer Zeit, möglich."

Aha, sagen wir heut, beim Wiederlesen, dieser kleine Nachsatz, den man leicht übergehen konnte, fasziniert vom heroisch-dezisionistischen Gestus dieser Prosa - der kleine Nachsatz - das ist die Hintertür, durch die sich der Revolutions-Rhetoriker, wenn's zu Taten kommt, davon machen kann. Was er bekanntlich auch tut.

Etwas mehr als zehn Jahre werden vergehen, dann wird das Bild des erschossenen Studenten Benno Ohnesorg überschrieben oder überblendet von den Fotografien eines anderen Opfers: da sieht man den entführten Arbeitgeber-Präsidenten Hanns-Martin Schleyer, gedemütigt, gepeinigt zwischen Todeserwartung und letzter Hoffnung, im sogenannten Volksgefängnis der RAF.

Schleyer, als ehemaliges Mitglied der SS die Inkarnation der Kontinuität, gegen die die Studenten rebelliert haben - jetzt von den vermeintlich antifaschistischen Kämpfern so zugerichtet und ausgestellt, dass seine prekäre Vorgeschichte ganz und gar verschwindet hinterm kreatürlichen Elend. Was für ein Erfolg! Das erste Mal, hat später jemand geschrieben, sieht man einen SS-Mann als Opfer. Seine Mörder kann man nur noch verachten. So weit haben sie die Polizei -Brutalität des Berliner Sommers längst überholt!!

Der Berliner Sommer - der deutsche Herbst. Das Opfer Ohnesorg - das Opfer Schleyer. Kausalität? Nein, keine Kausalität, kein Determinismus. Aber ein Zusammenhang - ein - wenn auch komplexer - Zusammenhang - ein Zusammenhang doch.

Der historische Zufall beschert uns den 40.Jahrestag dieses 2.Juni in einem Augenblick, da der G8-Gipfel in Heiligendamm bevorsteht - auch dies ein Ereignis, Staatsbesuchs-Ereignis, das von vorauseilender Unheils-Erwartung umbrandet ist. Da mag die Vergegenwärtigung des "Polizeistaatsbesuchs" als eine Art Mahnmal taugen, für Demonstranten und Polizisten, und auch für Minister.

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