Freitag, 9. Oktober 2009

"Das ist lächerlich und peinlich"

US-Presse zur Obama-Auszeichnung

Die amerikanische und britische Presse überschlägt sich nach der Verleihung des Friedensnobelpreises an Barack Obama mit Spott - zu früh und unverdient sei die Auszeichnung des US-Präsidenten. SPIEGEL ONLINE zeigt die Kommentare der wichtigsten Zeitungen.

Hamburg - Selbst die dem US-Präsidenten wohlgesonnene New York Times äußert Bedenken an der Entscheidung des Osloer Komitees, den Friedensnobelpreis an Barack Obama zu vergeben. "Für Obama könnte die Auszeichnung zur Bürde werden. Obama hatte sich schon im Wahlkampf Vorwürfe anhören müssen, er setze zuviel auf internationale Popularität und verschleiere damit politische Inhalte. Ein Friedensnobelpreis in seinem Alter, nach nur neun Monaten im Amt gibt seinen Kritikern neues Futter."

Jennifer Loven von der Associated Press schreibt in einem Kommentar: "Der Preis wurde für Versprechen, nicht für Leistungen verliehen. Die meisten der ehrgeizigen Ziele Obamas, ob daheim oder im Ausland, sind doch gerade erst angelaufen und längst nicht beendet. Er hat keinen Grund, auf etwas stolz zu sein, das die Auszeichnung rechtfertigen würde."

Scharfe Worte findet Michael Binyon, Kommentator von Times Online. Er nennt die Entscheidung "absurd", sie mache aus der renommierten Auszeichnung eine "Farce". Selten sei eine Preisvergabe so tendenziös und voreingenommen entschieden worden. "Es liegt auf der Hand, dass das Komitee mit der Ehrung die Erleichterung Europas über das Ende der Ära Bush zum Ausdruck bringen und dem ersten schwarzen Präsidenten der USA Beifall zollen wollte." Allerdings sei die Rechnung nicht aufgegangen. "Stattdessen macht sich das Komitee in seinen Grundfesten lächerlich, indem es einen Mann ehrt, der gerade erst am Anfang seiner Amtszeit steht und noch keine handfesten Friedenserfolge vorzuweisen hat."

Der britische Economist schreibt: "Bislang hat Obama lediglich erreicht, dass sich der diplomatische Umgang mit einigen Staaten etwas entspannt hat. Selbst wenn der Preis mit der Intention verliehen wurde, Obama zu ermutigen: Es wäre viel überzeugender gewesen, damit zu warten. Bis der US-Präsident die Chance bekommen hat, seine Ziele umzusetzen." Allerdings sei es fraglich, ob Obama dies gelinge: "Im Moment arbeitet er an etlichen Projekten, bringt aber keines wirklich zu Ende."

"In Wahrheit hat Obama den Preis dafür bekommen, dass er nicht George W. Bush ist", meint der Guardian. "Die Frage ist nun, ob eine so mühelos verdiente Ehrung Obama wirklich helfen wird - oder der Preis noch doch ein Klotz am Bein ist, weil die Erwartungen zu hoch sind."

"Kurzfristig verleiht der Preis Obama mehr Durchsetzungskraft, mehr Autorität bei Verhandlungen mit renitenten Staaten", schreibt das amerikanische Time Magazine. "Aber eine Inspiration für den Frieden zu sein, das reicht nicht. Frieden schafft man mit Scharfsinn, mit harten Verhandlungen in langen Prozessen. Noch hat Obama dieses Geschick nicht bewiesen."

Die Washington Post nennt die Entscheidung aus Oslo "überwältigend", ist aber ebenfalls überrumpelt - schließlich sei es wohl noch ein bisschen früh, einem Präsidenten in seinem ersten Amtsjahr gleich diesen Preis zu verleihen. Kommentatorin Ruth Marcus ist außer sich: "Das ist einfach lächerlich, peinlich! Ich liebe Präsident Obama, ich schätze ihn, ich habe ihn gewählt. Aber er bekommt den Preis für ein paar gute Monate. Sicherlich konnte er, als er heute morgen mit der Nachricht geweckt wurde, selbst nicht fassen. Es ist einfach bizarr."

Verwundert zeigte sich auch Iain Martin im Wall Street Journal. Er findet die Auszeichnung für den US-Präsidenten "schlicht bizarr". Und fragt: Wofür? Weil Obama Frieden mit Hillary Clinton, seiner Wahlkampf-Widersacherin geschlossen hat?

Mittwoch, 7. Oktober 2009

Kanada: Schwule Blutspende beschäftigt die Justiz

Kyle Freeman pocht auf sein Recht, anderen Menschen mit einer Blutspende zu helfen.
Kyle Freeman pocht auf sein Recht, anderen Menschen mit einer Blutspende zu helfen.
Ein kanadischer Blutspendedienst hat einen schwulen Mann verklagt, weil dieser trotz eines Verbots gespendet hat; dieser hat Gegenklage wegen Diskriminierung eingereicht.

Der 36-jährige Kyle Freeman hat zugegeben, in der Hauptstadt Ottawa seit 1990 insgesamt 18 Mal Blut an den die Canadian Blood Services abgegeben zu haben. Er hat auf dem zuvor ausgefüllten Fragebogen gelogen und angegeben, nicht schwul zu sein. In Kanada darf allerdings kein Mann, der in seinem Leben mit einem Mann Sex gehabt, spenden. Die gleiche Regelung gilt auch in Deutschland.

Als Freemans Blut routinemäßig getestet wurde, kam heraus, dass er sich mit Syphilis infiziert hatte. Die sexuell übertragbare Infektionskrankheit ist leicht zu behandeln, kann aber ohne Medikamente tödlich enden. Als er dann auf Nachfrage des Blutspendedienstes einräumte, schwul zu sein, wurde er verklagt.

Freeman argumentierte am Dienstag beim ersten Verhandlungstag, dass sein Infektionsrisiko nicht höher gewesen als bei heterosexuellen Männern. Er habe – außer mit seinem Lebenspartner – keinen ungeschützten Sex gehabt. Außerdem habe er sich regelmäßig auf eine HIV-Infektion testen lassen. "Das Risiko war meiner Ansicht nach nahe Null", so Freeman. "Mein Vater war ein Blutspender. Er hat mir immer beigebracht, dass das der beste Weg ist, Menschen zu helfen." Er hat bereits eine Gegenklage gegen die Canadian Blood Services wegen Diskriminierung eingereicht. Er erklärte, dass in der kanadischen Verfassung garantiert sei, dass niemand wegen seiner sexuellen Orientierung benachteiligt werden darf. Er sei aber nur wegen seiner Homosexualität von dem Blutspendedienst belangt worden.

(Fortsetzung nach Anzeige)


Befürworter des Homo-Verbots argumentieren, dass Schwule generell gefährlicheren Sex hätten und daher zu einer Risikogruppe gehörten. Zwar werde das Blut stets auf sexuell übertragbare Krankheiten getestet, jedoch kann HIV erst Wochen nach der Infektion festgestellt werden.

In Deutschland setzt sich der Lesben- und Schwulenverband dafür ein, das generelle Verbot von Schwulen bei Blutspenden zu beenden. "Man kann nicht eine ganze Bevölkerungsgruppe unter Generalverdacht stellen", erklärte zuletzt LSVD-Pressesprecherin Renate Rampf. Sie argumentiert, dass bereits andere Länder wie Russland, Italien und Spanien das Homo-Verbot bereits aufgehoben hätten.

Auch Teile der Politik fordern die Gleichbehandlung von Schwulen: "Die Tatsache homosexuelle Männer lediglich aufgrund einer Eigenschaft – ihrer Homosexualität – zur Risikogruppe abzustempeln und damit auszuschließen ist problematisch weil das tatsächliche Verhalten überhaupt keine Rolle spielt", erklärte etwa der schleswig-holsteinischen FDP-Fraktionschef Heiner Garg. "Überlegenswert ist die Praxis in Frankreich, Menschen ohne Ansehen ihrer sexuellen Orientierung vor einer Blutspende durch einen Arzt gezielt zu ihrem Sexualverhalten zu befragen, um daraufhin über die Zulassung zur Spende zu entscheiden. Schließlich geht es darum anderen Menschen zu helfen – und in den meisten Fällen Leben zu retten – das können auch homosexuelle Männer."


Schweizer Juso greift Kirchenprivilegien an

Jungsozialisten wollen die "absolute Trennung von Kirche und Staat" - Martin Grichting: Finanzielle Ausstattung der Landeskirchen verhalte sich gegenüber der "gelebten Religiosität" mittlerweile wie "eine Rolls-Royce-Karosserie zu einem Töffmotor
Schweiz (kath.net/RNA)

Die Geschäftsleitung der Jungsozialisten der Schweiz hat ein Positionspapier verabschiedet, welches die radikale Trennung von Kirchen und Staat fordert, inklusive Abschaffung der Kirchensteuer und Schliessung der theologischen Fakultäten an staatlichen Universitäten.

Die Delegierten der Jungsozialisten werden am 24. Oktober über das Positionspapier befinden. Die Forderungen wollen sie im Parteiprogramm der SP verankert sehen.

Die Privilegien der christlichen Landeskirchen seien ein Affront für Nichtgläubige, sagt Cédric Wermuth, Juso-Präsident und Vizepräsident der SP Schweiz. Andere Religionsgemeinschaften wie Muslime oder Juden würden diskriminiert.

Das traditionelle Argument linker Politiker, wonach den Kirchen eine wichtige gemeinnützige Funktion zukomme, lässt Cédric Wermuth nicht gelten: «Staatliche Aufgaben wie die Armutsbekämpfung gehören in die Hand des Staates.» Beifall erntet der Vorstoss der Juso bei der Schweizer Freidenker-Vereinigung, deren Plakatkampagne («Da ist wahrscheinlich kein Gott - also sorg dich nicht, geniess das Leben») vergangene Woche von der Zuger Stadtregierung gestoppt wurde.

Thomas Wipf, Präsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds, sagt gegenüber der «Sonntagszeitung»: «Religion ist eine gesellschaftliche Realität. Deshalb ist es sinnvoll, dass der Staat sein Verhältnis zur Religion in positiver Weise regelt.»

Für Martin Grichting, Mitglied der Deutschschweizerischen Ordinarienkonferenz der katholischen Kirche und der Churer Bistumsleitung, legen die Jusos den Finger auf einen wunden Punkt: Die finanzielle Ausstattung der Landeskirchen verhalte sich gegenüber der «gelebten Religiosität» mittlerweile wie «eine Rolls-Royce-Karosserie zu einem Töffmotor».

In Basel renne Wermuths Vorschlag «zu 90 Prozent» offene Türen ein, sagt Bernhard Christ, Vizepräsident des Kirchenrats der evangelisch-reformierten Kirche Basel-Stadt. Denn in Basel-Stadt ist die Trennung von Kirche und Staat seit 1910 weitgehend Wirklichkeit.

Der Staat stelle den Kirchen in Basel-Stadt zwar die Steuerdaten ihrer Mitglieder oder die Räumlichkeiten der staatlichen Schulen für den Religionsunterricht zur Verfügung. Doch den öffentlich-rechtlich anerkannten Kirchen fliesse nicht mehr Geld zu «als anderen sozialen Institutionen». Die öffentliche Hand zahle weder etwas an die Kirchengebäude noch an die Löhne der Seelsorgenden. Die Kantone Genf und Neuenburg kennen ebenfalls die Trennung von Kirche und Staat. Den Kirchenmitgliedern steht es frei, ihre Kirchenbeiträge zu entrichten.


Parlament wird nicht in Frage gestellt

WORTLAUT: URTEILSBEGRÜNDUNG ZUM KITA-BEGEHREN

„Ausgabenwirksame Volksbegehren sind nach der Verfassung von Berlin nur noch dann unzulässig, wenn sie das Haushaltsgesetz und den in ihm festgestellten Haushaltsplan für das laufende Haushaltsjahr unmittelbar zum Gegenstand haben. Dazu gehören Volksbegehren, die in einen im Zeitpunkt des Zustandekommens des Volksgesetzes geltenden Haushaltsplan eingreifen. Dagegen erstreckt sich der Haushaltsvorbehalt nicht auf finanzwirksame Gesetze, die sich lediglich auf künftige Haushaltsgesetze und künftige Haushaltsperioden auswirken. Diesen Anforderungen genügt das Kita-Volksbegehren.

Dem Volksgesetzgeber ist zwar jeder Eingriff in einen aktuellen Haushaltsplan und damit in den Kernbereich der Budgethoheit des Abgeordnetenhauses prinzipiell untersagt. Das Kita-Volksbegehren kann aber so ausgelegt werden, dass es diese Grenze wahrt. Die vorgesehenen Vorschriften, die zu Mehrausgaben führen, könnten im Falle eines erfolgreichen Volksentscheides frühestens mit dem nächsten auf die Verkündung des Gesetzes folgenden Haushaltsjahr in Kraft treten.

Entgegen der Auffassung des Senats gelten für die Zulässigkeit von Volksbegehren ... nicht die ... Einschränkungen, die der Verfassungsgerichtshof für die frühere Fassung des Haushaltsvorbehalts angenommen hat. Seit der Verfassungsänderung von 2006 unterliegen Volksbegehren und Volksentscheide über ausgabenwirksame Gesetze keiner höhenmäßigen ,Erheblichkeitsschwelle‘ mehr, ab der sie in das Haushaltsrecht des Parlaments unzulässig eingreifen.

Diesem Verständnis steht auch Bundesrecht nicht entgegen. Die landesverfassungsrechtliche Zulassung finanzwirksamer Volksbegehren und Volksentscheide, die im Erfolgsfall vom Parlament bei der Aufstellung künftiger Haushalte zu berücksichtigen sind, stellt weder das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip noch die Funktions- und Handlungsfähigkeit des Abgeordnetenhauses in Frage.“

(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 07.10.2009)

Ein Zeichen für Menschlichkeit

Eine Verurteilung schien wahrscheinlich – doch der wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung angeklagte Ex-Cap-Anamur-Chef Bierdel und seine Kollegen sind überraschend freigesprochen worden.

Cap Anamur-Protest 2004: "Kein Krieg gegen Flüchtlinge".

Der wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung nach Italien angeklagte frühere Vorsitzende der Hilfsorganisation Cap Anamur, Elias Bierdel, ist freigesprochen worden. Wie sein Anwalt Axel Nagler mitteilte, sprach das Gericht im sizilianischen Agrigent auch den Kapitän des Schiffs "Cap Anamur", Stefan Schmidt, frei, sowie den Ersten Offizier, den Russen Wladimir Dschkewitsch.

Die drei hatten trotz einer drohenden Geld- und Haftstrafe in den vergangenen drei Jahren im Gerichtssaal weiter zu der umstrittenen Rettungsaktion von 37 afrikanischen Flüchtlingen aus dem Mittelmeer in Italien gestanden.

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Eigentlich habe es bei dem Urteil nur eine Möglichkeit gegeben, so Ex-Cap-Anamur-Chef Elias Bierdel vor der Urteilsverkündung am Mittwoch gegenüber dem Deutschlandfunk: "Ein rauschender Freispruch und eine anschließende persönliche Entschuldigung durch den Staatspräsidenten Italiens". So politisch aufgeladen, wie das Verfahren aber war, hatte Bierdel nach eigenem Bekunden eine Verurteilung dennoch für wahrscheinlicher gehalten.

Italien hatte dem Schiff drei Wochen lang die Einfahrt in einen sizilianischen Hafen mit der Begründung verwehrt, die Flüchtlinge müssten nach Malta gebracht werden. Schließlich durften sie doch noch an Land gehen, wurden aber kurze Zeit später wieder abgeschoben.

Vorwürfe von Kritikern, er habe mit seiner Aktion damals ein Medienspektakel inszeniert, wies Bierdel zurück. Selbstverständlich seien Fehler gemacht worden, weil man auf die Situation nicht vorbereitet gewesen sei. So habe man etwa zu viel Zeit gebraucht, bis ein geeigneter Hafen zum Anlaufen gefunden war. Dennoch habe er keinen einzigen Journalisten eingeladen oder an Bord geholt. "Sie kamen, weil sie schauen wollten, und ich bin bis heute der Meinung, dass wir das gar nicht anders machen konnten", erklärte er.

Sich angesichts der Tatsache, dass Menschen in großer Zahl an der EU-Außengrenze verschwinden, ertrinken, verdursten und von europäischen Grenztruppen abgewehrt würden, auf Inszenierungsfragen zu konzentrieren, habe er schon damals und im Rückblick erst recht obszön gefunden.

Bierdel forderte in dem Radio-Interview auch die deutsche Regierung auf, bei den Flüchtlingsdramen auf See stärker Verantwortung zu übernehmen und ebenfalls Flüchtlinge aufzunehmen. "Warum sollten wir nicht geradezu mustergültig für Europa zeigen, wie man menschenwürdig und professionell umgeht mit denen, die bei uns Schutz und Hilfe suchen?", fragte er. Das sei aber ganz offensichtlich nicht erwünscht und das mache ihn ein bisschen traurig, denn die Möglichkeiten wären ohne weiteres da.

Piraten attackieren aus Versehen französisches Marineschiff


Der Angriff erfolgte in der Nacht - und endete im Desaster: Vor Somalia haben Seeräuber das französische Versorgungsschiff "La Somme" attackiert. Offenbar glaubten sie, einen Frachter im Visier zu haben. Mehrere Seeräuber wurden festgenommen.

Paris - Somalische Piraten haben ein französisches Kriegsschiff vermutlich mit einem Frachter verwechselt. Medienberichten zufolge befand sich die "Somme" rund 460 Kilometer vor der somalischen Küste, als sie in der Nacht zum Mittwoch gegen 1 Uhr Ortszeit attackiert wurde.

Konteradmiral Christophe Prazuck sagte am Mittwoch, Seeräuber in Ruderbooten hätten mit Kalaschnikow-Gewehren auf das Versorgungsschiff "La Somme" gefeuert, das die französische Flotte mit Treibstoff versorgt.

Die Besatzung der "Somme" habe die Piraten daraufhin verfolgt, berichtete der französische Rundfunk. Nach eineinhalb Stunden sei eines der zwei Piratenboote aufgebracht worden. Fünf Seeräuber hätten sich kampflos ergeben, teilte das Verteidigungsministerium am Mittwoch in Paris mit. Die Männer wurden festgenommen und an Bord des Versorgungsschiffs gebracht, wo sie derzeit vernommen werden. Verletzt wurde bei dem Übergriff niemand.

An Bord des angreifenden Bootes hätten die französischen Militärs weder Waffen, Wasser, noch Lebensmittel gefunden, erklärte Admiral Prazuck. Er sei überzeugt, die Piraten hätten einfach "alles über Bord geworfen".

Die "Somme" ist das französische Kommandoschiff im Indischen Ozean und beherbergt nicht nur den Generalstab der Marine für die Region, sondern auch die Führung der Luft- und Landstreitkräfte. Bei dem Angriff war es gerade auf dem Weg zu Fregatten der europäischen Überwachungsmission Atalanta, um diese mit Nachschub zu versorgen. Frankreich beteiligt sich an der EU-Mission "Operation Atalanta" zur Bekämpfung der Piraterie am Horn von Afrika.



"Die großen Banken müssen zerschlagen werden"

Er hat Milliarden seiner Kunden verloren und verbreitet trotzdem Optimismus: Investmentguru Mark Möbius spricht im SPIEGEL-ONLINE-Interview über Börsentipps und Bullenmärkte. Der Experte warnt vor einer zweistelligen Inflationsrate - und sagt eine große Verschiebung der Weltmärkte voraus.

SPIEGEL ONLINE: Herr Möbius, Sie gelten als einer der besten Kenner der Emerging Markets. Wie viel Geld Ihrer Kunden haben Sie während der Krise verbrannt?

Möbius: Während der vergangenen Boomjahre lag der Höchststand der von uns verwalteten Einlagen bei etwa 50 Milliarden Dollar. Nach der Lehman-Pleite fielen sie auf 15 Milliarden. Jetzt sind wir immerhin wieder bei 30 Milliarden.

SPIEGEL ONLINE: Ein großes Minus dafür, dass Sie als Aktienguru gelten.

Möbius: Viele Leute haben im falschen Moment ihr Geld abgezogen. Der Wert unserer Aktien fiel nur um 30 Prozent und hat sich zur Hälfte schon wieder erholt.

SPIEGEL ONLINE: Kleinanlegern tut das trotzdem weh.

Möbius: Wir raten den Anlegern deshalb zum Cost-Average-Verfahren - da wird jeden Monat die gleiche Summe angelegt, egal wo die Börsenkurse stehen. Unsere Kunden in Großbritannien haben damit in den vergangenen zehn Jahren trotz Krise jährlich 18 Prozent Gewinn gemacht.

SPIEGEL ONLINE: Aber wohl kaum mit US- oder europäischen Aktien?

Möbius: Die kann man tatsächlich vergessen. Wenn man den Dow oder entwickelte Märkte mit den Emerging Markets vergleicht, klafft eine riesige Lücke.

SPIEGEL ONLINE: Was also sollen Investoren tun?

Möbius: (lacht) Es klingt verrückt, aber sie müssen Aktien kaufen. Es ist so viel Geld im Umlauf, dass die Inflation bald steigen wird. Dem kann man nur gegensteuern, indem man Aktien, Sachwerte wie Immobilien oder Gold kauft.

SPIEGEL ONLINE: Wie hoch wird die Inflation werden?

Möbius: Sehr, sehr hoch. Ich gehe davon aus, dass sie zweistellig sein wird - zumindest in entwickelten Industrieländern wie den USA.

SPIEGEL ONLINE: Und in Europa?

Möbius: Deutschland war recht diszipliniert, andere Länder nicht. Das wird Konsequenzen haben.

SPIEGEL ONLINE: Das heißt, die Krise ist noch lange nicht zu Ende?

Möbius: Sagen wir es so: Ich bin mir sehr sicher, dass wir die Krise hinter uns gebracht haben. Auch weil etwa in den USA alles getan wird, um jedes erneute Abrutschen zu verhindern. So sprechen Berater von Barack Obama schon von einem weiteren Konjunkturpaket - schließlich will der Präsident wiedergewählt werden.

SPIEGEL ONLINE: Trotzdem steigen die Arbeitslosenzahlen. Wie können Sie so sicher sein, dass das alles nicht doch in einer Depression endet?

Möbius: Es wird mit nicht zu einer Depression kommen. Die Exporte aus China und viele andere Indikatoren zeigen Wachstum an.

SPIEGEL ONLINE: Was muss geschehen, damit eine solche Katastrophe sich nicht wiederholen kann?

Möbius: Die großen US-Banken müssen zerschlagen, die Geschäftsbanken von den Investmentbanken getrennt werden. Heute gibt es schon wieder größere Kreditinstitute als vor der Krise - dabei brauchen wir Banken, die nicht mehr zu groß sind, um Pleite gehen zu können. Wenn wir da jetzt nicht handeln, erleben wir in ein paar Jahren wieder den gleichen Schlamassel.

SPIEGEL ONLINE: Warum das?

Möbius: Weil die Derivate nach wie vor ein riesiges Problem für die Weltwirtschaft sind. Ihre Summe beläuft sich auf 600 Billionen Dollar, dem zehnfachen Wert der gesamten Weltwirtschaft. Eine erschreckend große Zahl von Firmen ist an diesen Wetten zugrunde gegangen. Derivate sind nichts anderes als Glücksspiel.

SPIEGEL ONLINE: Was also muss sich politisch ändern?

Möbius: Derivate müssen verboten, die verbleibenden standardisiert und handelbar gemacht werden. Diese Dinger dürfen nicht mehr der Geheimhaltung unterliegen. Das wäre ein guter Anfang, fast eine Revolution.

SPIEGEL ONLINE: Die Chinesen wirken als einzige entspannt - haben die alles richtig gemacht?

Möbius: Das täuscht. Auch die Chinesen haben Angst. Ihre Devisenreserven sind zu großen Teilen in Dollar angelegt, fast zwei Billionen. Die können sie derzeit nicht auf den Markt werfen. Also kaufen sie weltweit Minenkonzerne und Rohstoffe zusammen...

SPIEGEL ONLINE: ... während die USA sparen müssen.

Möbius: Ja - und das vor allem an Truppen und Raketenprogrammen. Die Chinesen haben ihnen wohl im Vertrauen gesagt: Wenn ihr den Mist nicht aufräumt, ziehen wir uns aus dem Dollar zurück.

SPIEGEL ONLINE: Was bedeutet das alles für die Aktienmärkte?

Möbius: Wir werden in diesem Jahr noch eine größere Korrektur sehen, es ging einfach zu schnell nach oben - aber grundsätzlich befinden wir uns in einem Bullenmarkt. Insgesamt geht es mit großer Volatilität aufwärts. Angeführt wird der Trend von den sich entwickelnden Märkten wie China, Indien, Brasilien.

SPIEGEL ONLINE: Wie lange geht das gut?

Möbius: Solange Liquidität vorhanden ist und die Produktivität steigt. Auch dabei spielt China eine wichtige Rolle. Das Land kauft US-Staatsanleihen und bietet Waren zu immer niedrigeren Preisen an.

SPIEGEL ONLINE: Gleichzeitig sollen die chinesischen Konsumenten die Welt retten, indem sie mehr kaufen. Ist das nicht widersinnig?

Möbius: Nein. In zehn Jahren wird China mit den USA gleichgezogen haben. Doch auch Europa wird nicht schlecht dastehen. Europas Vorteil ist, dass im Osten des Kontinents noch mit geringeren Lohnkosten produziert werden kann und dort ein riesiger Markt entsteht.

SPIEGEL ONLINE: Der große Verlierer der Krise sind also die USA?

Möbius: Die USA werden weiter absteigen und sich mit einer kleineren Rolle in der Welt zufrieden geben müssen.

Das Interview führte Jürgen Kremb

"Ich habe geschrien vor Schmerz"

Debatte um Hinrichtungen:Romell Broom kann von der eigenen Hinrichtung berichten. Nicht nur bei ihm kam es zu einer makabren Panne. Die Vollstreckung wird ausgesetzt. Vorerst.

Romell Broom, AP

Harrt seit 25 Jahren im Todestrakt eines US-Gefängnisses aus:
Häftling Romell Broom. Nun scheiterte seine Hinrichtung.

Zwei Stunden dauerte das Martyrium von Romell Broom, zwei Stunden versuchte ein Exekutivkommando ihn zu töten - dann wurde die Hinrichtung abgebrochen. Das Team fand keine Vene für die Todesspritze und der 53-Jährige verließ die Hinrichtungskammer im Gefängnis von Lucasville im US-Bundesstaat Ohio mit zerstochenen Venen und geschwollenen Gliedern, aber als lebendiger Mann.

"Ich habe geschrien vor Schmerz", sagte Broom hinterher. 18 Stiche zählte er nach dieser Tortur. "Ich habe geweint, mir ging es schlecht, meine Arme waren geschwollen", gab er zu Protokoll. "Mir ging es elend. Durch die Verletzungen der vielen Stiche konnte ich meine Arme nicht bewegen." Der Häftling soll 1984 ein 14-jähriges Mädchen vergewaltigt und umgebracht haben.

"Es funktioniert nicht!"

Nach der gescheiterten Hinrichtung von Romell Broom setzte ein US-Bundesgericht in Ohio die Vollstreckung der Todesstrafe vorerst aus. Die Richter gaben damit einer Klage des 43-jährigen verurteilten Mörders Lawrence Reynolds statt. Sie machten zwei grundsätzliche Bedenken geltend: Zum einen gäben Ohios Richtlinien für Hinrichtungen keinen Hinweis darauf, wie zu verfahren sei, wenn die Venen des Todeskandidaten nicht für die Giftspritze geeignet seien.

Zum anderen hätten der Fall Broom und zwei vorangegangene Fälle grundsätzliche Zweifel an der Kompetenz des Hinrichtungsteams geweckt. Denn Brooms Fall ist nicht der erste dieser Art. Bereits 2007 durchlitt in Ohio, wo seit 1999 der Menschenrechtsorganisation Amnesty International zufolge 32 Menschen hingerichtet wurden, ein Todeskandidat ein mehr als einstündiges Martyrium.

Während der Exekution hatte er wiederholt den Kopf geschüttelt und gesagt: "Es funktioniert nicht!" Mindestens zehn Mal musste die Nadel mit dem tödlichen Gift bei dem übergewichtigen Häftling neu angesetzt werden. Nach 90 Minuten wurde Christopher Newton, der einen Schachpartner im Streit erschlagen hatte, schließlich für tot erklärt.

Das Gift wirkte nicht

In einem anderen Fall wachte 2006 ein Gefangener wieder auf und erklärte den Wärtern, das Gift wirke nicht. Darum gelten nun neue Richtlinien. In Ohio wurde im Juni 2009 der verurteilte Mörder Daniel Wilson unter Anwendung der neuen Regeln mit der tödlichen Injektion hingerichtet. Diese sehen vor, dass der Wärter nach der Verabreichung einer ersten Spritze den Namen des Verurteilten rufen und ihn an der Schulter schütteln muss. Falls der Verurteilte darauf reagiert, soll eine zweite Dosis gespritzt werden.

Amnesty International zählte am 1. Januar 2009 in den USA 3297 zum Tode Verurteilte. Im Durchschnitt vergehen etwa zwölf Jahre von der Verhängung bis zur Vollstreckung der Strafe. Seit der Wiederaufnahme von Hinrichtungen im Jahr 1977 seien bis zum 31. Dezember 2008 insgesamt 1136 Todesurteile vollstreckt worden. Seit dem Jahr 1990 sei bei 23 Verurteilten posthum die Unschuld festgestellt worden, berichtet die Menschenrechtsorganisation.

Zum Tode Verurteilte können in den USA je nach Bundesstaat durch die Giftspritze, den elektrischen Stuhl, die Gaskammer oder den Strang hingerichtet werden. In der Praxis hat sich aber die Giftspritze nahezu als alleinige Hinrichtungsmethode durchgesetzt - und das obwohl seit Jahren in Amerika über die Prozedur gestritten wird.

Schon 2005 warnten Ärzte, dass diese Art von Hinrichtung häufig mit Schmerzen verbunden sei. In vielen Fällen sei die verabreichte Dosis des Betäubungsmittels zu gering, um den Verlust des Bewusstseins zu erreichen, hieß es in einer im medizinischen Fachmagazin Lancet veröffentlichten Studie. Dieser Befund könne insofern nicht verwundern, als die Methode der Injektion auf einem Protokoll basiert, das vor drei Jahrzehnten ohne wissenschaftlichen Hintergrund erstellt worden sei, kritisiert Amnesty International.

In der Praxis führten ferner Inkompetenz, Nachlässigkeit und technische wie medizinische Komplikationen immer wieder zum Versagen dieser Methode. Auch im Fall von Broom warf das Gericht dem Exekutivteam "Inkompetenz" vor. In Ohio seien "ernsthafte und bedenkliche Schwierigkeiten bei der Exekution" von Häftlingen zutage getreten, heißt es in dem Urteil. "Angesichts der verfassungsrechtlichen und humanitären Bedeutung in allen Hinrichtungsfällen sind es diese Probleme auf jeden Fall wert, genauer betrachtet zu werden."

Auch der Oberste Gerichtshof in Washington hatte im September 2007 eine Klage von zwei zum Tode Verurteilten aus dem Bundesstaat Kentucky zugelassen. Die Obersten Richter befanden jedoch im April 2008 in einer Sieben-zu-zwei-Entscheidung die Anwendung der Giftspritze sei bei Hinrichtungen zulässig. Die Kläger hätten nicht ausreichend nachgewiesen, dass das Risiko von Schmerzen im Fall von Fehlern bei der Verwendung einer Spritze eine grausame Bestrafung darstelle.

In Ohio sollen nun bis November vorerst keine Hinrichtungen mehr durchgeführt werden. Auch Romell Brooms Hinrichtung ist seitdem aufgeschoben, seine Anwälte wollen die vollständige Aussetzung erreichen. Broom harrt bereits seit 25 Jahren im Todestrakt aus. Während der ganzen Zeit beteuerte er seine Unschuld.

Freisprüche im Cap-Anamur-Prozess

Wegen der Rettung von Flüchtlingen aus Afrika standen drei Cap-Anamur-Mitarbeiter in Italien vor Gericht. Der Vorwurf der Staatsanwälte: Beihilfe zur illegalen Einwanderung. Die Richter sahen dies offensichtlich anders.

Nach einem fast dreijährigen Prozess sprach das Gericht im sizilianischen Agrigent am Mittwoch (07.10.2009) nicht nur den früheren Vorsitzenden der Hilfsorganisation Cap Anamur, Elias Bierdel, frei. Auch der Kapitän des Schiffes "Cap Anamur", Stefan Schmidt, und der Erste Offizier, der Russe Wladimir Dschkewitsch, verließen den Gerichtssaal als freie Männer. Die drei hatten im Juni 2004 vor der italienischen Küste 37 afrikanische Flüchtlinge aus Seenot gerettet und nach Sizilien gebracht.

Die Anklage hatte argumentiert, die Flüchtlinge hätten nach Malta gebracht werden müssen, da sie in dessen Hoheitsgewässern gerettet worden seien. Die italienische Staatsanwaltschaft forderte daher je vier Jahre Gefängnis und eine Geldstrafe von 400.000 Euro für Bierdel und Schmidt. Bei Dschkewitsch allerdings hatte auch sie seit einiger Zeit auf Freispruch plädiert.

Elias Bierdel (links), Stefan Schmidt (Mitte) und der Erste Offizier des Schiffes, Wladimir Dschkewitsch (Foto: dpa)
Die Angeklagten: Ex-Cap-Anamur-Chef Bierdel, Kapitän Schmidt und Offizier Dschkewitsch (v.l.)

Im Gerichtssaal anwesende Vertreter von Hilfsorganisationen reagierten mit Jubel auf das Urteil. Bierdel und Schmidt zeigten sich glücklich über den Ausgang des Prozesses. Bierdel, der einen Schuldspruch aus "politischen" Gründen befürchtet hatte, sagte, der Freispruch sei eine "echte Sensation". Schmidt erklärte: "Dieses Urteil ist wichtig für alle, die Gutes tun!"

Auch der Gründer von Cap Anamur, Rupert Neudeck, begrüßte den Richterspruch. Er habe mit einem Freispruch gerechnet. Alles andere wäre eine "Katastrophe für das europäische Justizsystem" gewesen. Mit dem jetzt ergangenen Urteil seien gute Voraussetzungen dafür geschaffen, dass das "uralte Menschenrecht" auf Rettung in Seenot Geratener in Europa beachtet werden müsse, so Neudeck weiter.

Die Internationale Liga für Menschenrechte will Kapitän Schmidt am 13. Dezember in Berlin die Carl-von-Ossietzky-Medaille verleihen. Zur Begründung hieß es, die Rettungsaktion sei ein herausragender Beitrag zur Verwirklichung der Menschenrechte an den Grenzen der Europäischen Union gewesen.

Dreiwöchiges Tauziehen vor Italiens Küste

Die umstrittene Rettung hatte weltweit Schlagzeilen gemacht. Die "Cap Anamur II" war im Juni 2004 mit Hilfslieferungen beladen auf dem Weg in den Irak, als die Mannschaft zwischen Libyen und der südlich von Sizilien gelegenen Insel Lampedusa die Bootsflüchtlinge entdeckte. Die "Cap Anamur II" nahm 37 Afrikaner aus dem überfüllten Schlauchboot, das zu sinken drohte, an Bord. Der Kapitän steuerte die sizilianische Küste an, weil der Hafen von Lampedusa nach seiner Auffassung zu klein für die Ausmaße der "Cap Anamur II" schien.

Die 37 afrikanischen Bootflüchtlinge warten auf der 'Cap Anamur II' in Porto Empedocle (Foto: AP)
Drei Wochen saßen die Flüchtlinge 2004 auf der 'Cap Anamur II' fest

Die italienischen Behörden verweigerten dem Schiff jedoch die Genehmigung, sich der Küste zu nähern, mit der Begründung, die Flüchtlinge seien in maltesischen Gewässern aufgegriffen worden. Sie vertraten den Standpunkt, die Afrikaner hätten in Valetta von Bord gehen und gegebenenfalls dort Asylanträge stellen sollen. Erst nach einem dreiwöchigen Tauziehen ließ Italien die "Cap Anamur II" in den Hafen von Empedocle einfahren. Die an Bord befindlichen Flüchtlinge kamen in Abschiebehaft. Bierdel, Schmidt und Daschkewitz wurden unter dem Verdacht der Schlepperei verhaftet, später aber wieder auf freien Fuß gesetzt.

Kritik an medienwirksamer Inszenierung

Die italienische Staatsanwaltschaft sah es als erschwerenden Umstand an, dass die Aktion als Werbung für Cap Anamur gedient habe und als Medienspektakel inszeniert worden sei. Der damalige Innenminister Italiens, Giuseppe Pisanu, erklärte, Bierdel habe versucht, "das internationale Einwanderungsrecht zu brechen". Er habe einen Präzedenzfall schaffen wollen, "der den Transport illegaler Einwanderer nach Europa erleichtert". Auch in der deutschen Öffentlichkeit gab es Vorwürfe wegen einer allzu medienwirksamen Inszenierung der Rettungsaktion, wie es hieß. Kritik wurde etwa daran geübt, dass die Flüchtlinge mit Cap-Anamur-T-Shirts bekleidet in Porto Empedocle von Bord gegangen seien.

Bierdel und Schmidt, die bei dem Prozess in Italien nur zeitweise anwesend waren, wiesen sämtliche gegen sie erhobenen Vorwürfe zurück. "Die italienische Staatsanwaltschaft versucht, uns nachzuweisen, bewusst im eigenen Interesse gehandelt zu haben. Als hätten wir an der Rettung verdient. Das ist absurd", sagte Bierdel. Sein Handeln war indessen auch innerhalb seiner Organisation nicht umumstritten. Selbst Cap-Anamur-Gründer Neudeck hatte das Verhalten seines Nachfolgers an der Spitze der Hilfsorganisation offen kritisiert. Im Oktober 2004 wurde Bierdel als Vorsitzender abgewählt.

Flüchtlinge nach Ghana abgeschoben

Rupert Neudeck (Foto: dpa)

Die bei der umstrittenen Aktion geretteten Flüchtlinge wurden, bis auf einen, der bei seiner Ankunft in Italien noch minderjährig war, einen Monat später nach Ghana abgeschoben. Ihre Asylanträge waren in erster Instanz abgelehnt worden. Die "Cap Anamur II" lag mehrere Jahre beschlagnahmt im Hafen von Porto Empedocle. Später wurde sie von der Hilfsorganisation mit Gewinn verkauft.

Das Hilfswerk Cap Anamur wurde vor 30 Jahren von Neudeck in Köln gegründet. Zu internationaler Bekanntheit gelangte sie in den 80er Jahren durch die Rettung tausender Vietnam-Flüchtlinge im Südchinesischen Meer. Auch humanitäre Einsätze in Somalia, Mazedonien oder Äthiopien trugen der Organisation viel Lob ein.

Autoren: Ursula Kissel / Stephan Stickelmann

Dienstag, 6. Oktober 2009

Reiche Beute, aber kein klarer Kurs

Die Piratenpartei nach der Wahl

Die Piratenpartei hat vor der Bundestagswahl mehr Aufmerksamkeit genossen als alle anderen Splitterparteien. Und sie kam mit reicher Beute aus der Wahlschlacht: Rund zwei Prozent bringen ihr Hunderttausende Euro aus der Wahlkampfkostenerstattung ein, zudem sind die Mitgliederzahlen explodiert. Nun soll die Partei professionalisiert werden. Experten sind allerdings skeptisch.

Von Patrick Gensing

Passender hätte es nicht sein können: Direkt an der "Waterkant" konnten die Piraten bei der Bundestagswahl einen ihrer größten Erfolg einfahren. Auf der Hamburger Veddel überholte die junge Partei mit 10,6 Prozent der Stimmen sogar die CDU, die auf 10,2 Prozent kam. Auch in anderen Großstädten zeigten die Piraten Flagge - und wie groß das Potenzial für Themen wie Internet, Datenschutz und Bürgerrechte ist. In Berlin holten die Freibeuter 3,4 Prozent der Zweitstimmen, bundesweit erreichten sie immerhin zwei Prozent - mehr als die Grünen bei ihrem ersten Antritt bei einer Bundestagswahl. Drei Jahre später, im Jahr 1983, saß die Öko-Partei dann im Parlament.

Hochburgen der Piratenpartei bei der Bundestagswahl (Quelle: Wahlatlas)
Hochburgen der Piratenpartei bei der Bundestagswahl sind in Orange eingefärbt

30 Jahre später soll es "bereit zum Ändern" durch den Bundestag schallen, so hoffen es die Freibeuter im Hinblick auf die nächste Bundestagswahl. Daher soll das Geld aus der Wahlkampfkostenerstattung laut Parteichef Jens Seipenbusch investiert werden, um die politische Arbeit zu professionalisieren. Das ist auch dringend nötig, meinen Experten wie der Politikwissenschaftler Oscar Gabriel. Er sagt, alles deute darauf hin, dass das Abschneiden der Piratenpartei ein "Einzelphänomen" sei. "Die Partei ist mit der Biertrinkerpartei und ähnlichen Gruppen zu vergleichen", so Gabriel.

Die Piratenpartei hat einen großen Bonus gehabt.
Markus Beckedahl von Netzpolitik.org sieht zwar Chancen, mit Hilfe der Partei wichtige Fragen der digitalen Kultur auf die politische Agenda zu setzen, doch müssten die Piraten nun erst einmal zu sich selbst finden. Dabei steht nach dem Wahlkampf jetzt die eigentliche Arbeit an: "Konzepte und Expertenwissen" müssten erarbeitet werden, so Beckedahl. Im Wahlkampf sei das gar nicht nötig gewesen, da viele Medien den Piraten einen überraschend großen Bonus in Sachen Kompetenz gewährt hätten.

Debattenkultur: Männlich, dominant und leicht aggressiv

Beckedahl sieht vor allem ein Managementproblem auf die Piraten zukommen, denn die Mitgliederzahl hat sich in den vergangenen Monaten verzehnfacht - auf mehr als 10.000. Das vereinfacht die interne Debatte nicht, denn bei der Piratenpartei soll möglichst viel basisdemokratisch entschieden werden. Im Internet versteht sich: Im Piratenforum wird kommuniziert, im Piratenwiki sollen die Positionen zu den einzelnen Themen entwickelt werden. Doch wer die zumeist rechthaberischen und kleinteiligen sowie zeitaufwändigen Debatten im Netz kennt, der weiß: eine echte Sisyphos-Arbeit.

Zudem weht auch bei der Piratenpartei im Forum eine überraschend steife Brise. Der überwiegende Teil der Anhänger sei die Kommunikation in anonymen Mailinglisten gewohnt, sagt Beckedahl. Diese sei vor allem männlich geprägt, dominant und leicht aggressiv im Stil. "Die nonverbale Kommunikation fehlt", dadurch werde der Ton schnell pampig - und das übertrage sich auf die Partei.

Einsatz für die Meinungsfreiheit?

Die mangelhafte Diskussions- und Streitkultur zeigt sich besonders deutlich am Umgang mit Kritikern. Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns - so lautet bei vielen Piraten offenbar das Motto. "Das haben auch Leute erfahren müssen, die mit der Partei sympathisieren, aber eben auch mal kritische Fragen gestellt haben", so Beckedahl. Noch ärger sieht es im Fall der linken Wochenzeitung "Jungle World" aus. Diese hatte sich über den naiven Umgang der Piraten mit einer neurechten Zeitung beziehungsweise mit fragwürdigen Aussagen von Piraten zum Holocaust lustig gemacht.


Daraufhin drohte ein Bundesvorstandsmitglied der Piratenpartei - die sich Meinungsfreiheit und Kampf gegen "Zensur" auf die Fahnen geschrieben hat - mit rechtlichen Schritten, sollte sich die Zeitung nicht entschuldigen. Und via Twitter und anderen Web-2.0-Instrumenten hetzen einzene Piratenpartei-Anhänger nun auf unterstem Niveau gegen kritische Journalisten.

Auch Verschwörungstheoretiker und Leute vom rechten Rand

Mit ihren teilweise recht grobkörnig gezeichneten Feindbildern bestehend aus Politik, Medien und Sicherheitsbehörden können die Piraten zudem auch ganz rechte Kreise bedienen. Ein "Autonomer Nationalist" aus dem Ruhrgebiet meint, in seiner Szene hätten "recht viele" die Piratenpartei gewählt - wegen des "ganzen Überwachungswahns". In Niedersachsen machte bei der Partei ein ehemaliger Neonazi-Kader aus Sachsen mit. Als dies wenige Wochen vor der Wahl intern bekannt wurde, wandten sich die Piraten ausgerechnet an das Landeskriminalamt, um Ratschläge für das weitere Vorgehen einzuholen.

Die Piratenpartei sei bei der Bundestagswahl vor allem eine Protestpartei gewesen, meint Beckedahl, das habe auch "Freaks, Verschwörungstheoretiker und Leute vom rechten Rand" angezogen. Ganze 13 Prozent der männlichen Erstwähler haben ihr Kreuz bei der Partei gemacht, doch ob die Zukunft wirklich den Piraten gehört, so wie es Vorstandsmitglied Aaron Koenig nach der Wahl verkündete, das erscheint derzeit fraglich.

Verfassungsgericht prüft Berlusconis Immunität

Das italienische Verfassungsgericht hat mit der Prüfung des Immunitätsgesetzes begonnen, das Ministerpräsident Silvio Berlusconi und die drei weiteren höchsten Repräsentanten des Staates vor Strafverfolgung schützt.

Berlusconi drohen Korruptionsprozesse, sollte das Immunitätsgesetz gekippt werden.

Die 15 Richter traten zunächst für eine auf zwei Stunden angesetzte öffentliche Anhörung zusammen, bei der Vertreter der Gerichte in Mailand und Rom zu Verfahren gehört wurden, in die Berlusconi verwickelt war. Der Regierungschef selbst wurde durch drei Anwälte vertreten.

Das Urteil könnte frühestens Dienstagabend fallen, aber auch erst Mittwoch bekannt werden. Möglich ist auch eine Vertagung um zwei Wochen.

Berlusconi drohen Verfahren

Sollten die Richter das im Juli 2008 auf Betreiben Berlusconis verabschiedete sogenannte Alfano-Gesetz für verfassungswidrig befinden, droht dem Regierungschef die Wiederaufnahme einiger Verfahren.

In einem besonders aufsehenerregenden Prozess in Mailand müsste sich der 73-Jährige womöglich wegen Beeinflussung von Justizbehörden verantworten. Berlusconi wird vorgeworfen, seinen früheren Anwalt David Mills für Falschaussagen in Prozessen in den 90er-Jahren bezahlt zu haben.

Montag, 5. Oktober 2009

GEMA stellt Forderungen an Unions-FDP-Koalition

Wirtschaft & FirmenVor den anstehenden Koalitionsgesprächen zwischen der CDU/CSU und der FDP hat der Rechteverwerter GEMA seine Forderungen formuliert. Ein zentraler Bestandteil ist dabei der stärkere Schutz von Urheberrechten im Internet.

Der Schutz des geistigen Eigentums soll nach Vorstellung der GEMA im Regierungsprogramm ebenso fest verankert werden wie die angemessene Vergütung schöpferischer Leistungen - sowohl in Deutschland als auch in Europa, hieß es in einer Stellungnahme der Organisation.

So fordert man von der Bundesregierung unter anderem Unterstützung bei der Durchsetzung eines gesamteuropäischen Rechtsrahmens für Verwertungsgesellschaften. Bisher gibt es hier vor allem im Online-Bereich massive Probleme, weil der Online-Markt im Grunde europaweit organisiert ist, die Verwertungsgesellschaften jedoch national arbeiten.

Das hat in der Vergangenheit bereits dazu geführt, dass verschiedene Vorhaben nicht umgesetzt werden konnten. Eines der bekanntesten Beispiele dafür ist Apples iTunes Store. Das Unternehmen konnte hier nicht eine einheitliche Plattform für alle Euro-Länder schaffen, sondern musste die vielen Länder einzeln angehen.

Die neue Bundesregierung soll außerdem für größere Klarheit bei der Regelung der Urheberabgaben auf elektronische Geräte und Speichermedien sorgen, so die GEMA. Zwar gab es im Rahmen des zweiten Korbs der Reform des Urheberrechts in diesem Bereich Übergangsfristen, die von den Geräteherstellern aber nicht akzeptiert wurden.

"Von daher wünschen wir uns von der neuen Bundesregierung, dass sie eine Präzisierung und Verlängerung der Übergangsregelung vornimmt oder an den Verhandlungstisch mit Verwertungsgesellschaften und Industrieverbänden zurückkehrt", erklärte der Verband.

Der vom Bundeswirtschaftsministerium initiierte Wirtschaftsdialog für mehr Kooperation bei der Bekämpfung der so genannten Internetpiraterie zielt auf freiwillige Vereinbarungen zwischen der Telekommunikationswirtschaft und den Rechteinhabern zur Bekämpfung von Internetpiraterie.

"Wir wünschen uns von der zukünftigen Bundesregierung, dass sie dieses Thema zur Chefsache erklärt und ihm damit einen höheren rechts- und gesellschaftspolitischen Stellenwert einräumt", so die GEMA weiter. Hier hat sie durchaus gute Chancen, stehen die beiden neuen Koalitionspartner doch eher für die Interessen der Inhalte-Anbieter statt für die der Verbraucher.

Sonntag, 4. Oktober 2009

Marihuanaplantage in Wohnung mit Rockmusik beschallt

Die Hamburger Polizei ist bei einer Wohnungsdurchsuchung mit einer ungewöhnlichen Zuchtmethode für Marihuanapflanzen konfrontiert worden. Die von den Beamten am Freitag entdeckte Plantage mit 144 Hanfpflanzen wurde nicht nur professionell bewässert und beleuchtet, sondern zusätzlich mit Musik der Hardrockband «Scorpions» beschallt, wie die Polizei am Sonntag mitteilte.

Der 29 Jahre alte Wohnungsinhaber wurde vorübergehend festgenommen, er befindet sich inzwischen wieder auf freiem Fuß. Er soll zusammen mit einem Gleichaltrigen die Plantage betrieben haben.
Bei der Kontrolle der Wohnungen beider Männer stellten die Drogenfahnder laut Polizei diverse Beweismittel, mutmaßliches Dealergeld in Höhe von 2000 Euro sowie 20 weitere Marihuanapflanzen sicher.
Auf die Plantage im Erdgeschoss war die Polizei zufällig gestoßen, nachdem sie von Hausbewohnern auf aus der Wohnung laufendes Wasser aufmerksam gemacht worden war. Feuerwehrleute brachen daraufhin die Terrassentür auf, weil niemand anwesend war. Im Bad hatte sich ein offenbar zur Pflanzenbewässerung genutzter Gartenschlauch von einem Wasseranschluss für eine Waschmaschine gelöst.

"Allah möge Sarrazin mehr Verstand geben"

Nach seinen umstrittenen Äußerungen über Türken und Araber nimmt der Druck auf Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin zu. Er sei als Vorstandsmitglied nicht mehr tragbar, teilte die Bundesbankgewerkschaft mit. Der stellvertretende Chef der türkischen Zentralbank rief in dieser Sache höheren Beistand an.
Zeitung: Sarrazin geht zur Bundesbank

Unter Druck: Thilo Sarrazin

Der Vizechef der türkischen Zentralbank hat die Äußerungen des Bundesbank-Vorstandsmitglieds Thilo Sarrazin über türkische Migranten kritisiert. „Allah möge ihm mehr Verstand geben“, sagte Ibrahim Turhan nach einer Meldung der Zeitung „Sabah“ vom Sonntag.

Der deutsch-türkische Politiker und Reiseunternehmer Vural Öger forderte den Ausschluss Sarrazins aus der SPD. Jemand wie Sarrazin könne nicht Mitglied der Sozialdemokraten bleiben, wurde Öger von mehreren türkischen Medien zitiert. Zuvor hatte schon die Berliner SPD-Bundestagsabgeordnete Eva Högl ein Parteiausschlussverfahren gefordert.

Zuvor hatte Bundesbank-Präsident Axel Weber seinem Vorstandskollegen Sarrazin Konsequenzen nahegelegt. „Es geht hier nicht um Personen“, sagte Weber am Rande der IWF-Herbsttagung in Istanbul. „Es geht um Institutionen. Die Bundesbank ist eine in Deutschland mit hohem Ansehen verbundene Institution“, betonte er.

Jeder, der darin eine Funktion habe, müsse „sich seiner Verantwortung für diese Institution und für ihr entsprechendes Standing in der deutschen Öffentlichkeit bewusst sein“, fügte der Bundesbank-Präsident hinzu. Jeder müsse also „mit sich selbst ins Gericht gehen“, ob sein Handeln zur Förderung dieser Institution beitrage oder nicht.

„Ich sehe schon, dass hier ein Reputationsschaden entstanden ist“, sagte Weber mit Blick auf Sarrazins Äußerungen. Es gelte nun, diesen Schaden zu reparieren. Er verwies darauf, dass sich Sarrazin von seinen Äußerungen distanziert und entschuldigt habe. Diese Entschuldigung Sarrazins nannte Weber notwendig und angemessen.

Weber sprach dennoch insgesamt von einer „bedenklichen Entwicklung“ für die Bundesbank, die ihr geschadet habe. Dieses Verhalten sei nicht mit dem Verhaltenskodex der Deutschen Bundesbank vereinbar. Die Bundesbank-Gewerkschaft VdB schloss sich den Forderungen Webers an. Sarrazin habe dem Institut mit seinen Äußerungen erheblichen Schaden zugefügt, erklärte die Arbeitnehmervertretung am Sonntag.

„Insbesondere die ehrverletzende Art und Weise der Äußerungen sind mit dem Amt eines Vorstandsmitgliedes der Deutschen Bundesbank nicht vereinbar“, hieß es weiter. Die Gewerkschaft verwies darauf, dass jeder Mitarbeiter der Bank „bei ähnlichen Äußerungen mit schwersten dienstlichen Konsequenzen rechnen“ müsse. Es sei daher „schon aus Gleichbehandlungsgrundsätzen unabdingbar“, dass Sarrazin sein Amt zur Verfügung stelle, sagte der VdB-Bundesvorsitzende Harald Bauer.

Sarrazin hatte im Gespräch mit der Berliner Kulturzeitschrift „Lettre International“ unter anderem eine mangelnde Integration vor allem von Türken und Arabern in Berlin kritisiert. Zugleich hatte Sarrazin zum Rundumschlag gegen seine frühere Wirkungsstätte ausgeholt: Berlin sei insgesamt belastet durch zwei Faktoren: „der 68er-Tradition und dem Westberliner Schlamp-Faktor. Es gibt auch das Problem, dass vierzig Prozent aller Geburten in der Unterschicht stattfinden“, sagte Sarrazin in dem Interview.

Das SPD-Mitglied Sarrazin sitzt seit Mai im Vorstand der Bundesbank, der von der Bundesregierung bestellt wird und nur vom Bundespräsidenten entlassen werden kann. Der ehemalige Berliner Finanzsenator hat einen der drei Sitze, für die der Bundesrat Vorschläge macht.

Der 64-Jährige war vor seiner Berufung sieben Jahre Finanzsenator in Berlin und verpasste der hoch verschuldeten Hauptstadt einen rigiden Sparkurs. Schon in dieser Zeit war er mit provokanten Äußerungen aufgefallen. Das Verhältnis zwischen Sarrazin und Weber gilt seit langem als zerrüttet. Weber hatte sich bereits im Vorfeld intern wiederholt gegen die Ernennung des Berliners ausgesprochen. Für eine Entlassung durch den Bundespräsidenten ist ein Antrag des Bundesbank-Vorstands nötig, dem Weber vorsteht.

Auch in der SPD wächst der Unmut über das prominente Mitglied. Sarrazin müsse „sich überlegen, ob er zu den Grundwerten der SPD steht oder nicht“, sagte Christian Gäbler, Fraktionsgeschäftsführer der Partei im Berliner Abgeordnetenhaus und Vorsitzender von Sarrazins Kreisverband Charlottenburg- Wilmersdorf dem „Tagesspiegel am Sonntag“. Demnach wird sich die Schiedskommission des Kreisverbands mit dem Fall befassen.

Islamfeindlichkeit in Deutschland

Israel-Flaggen gegen Muslime

Der islamfeindliche Verein „Pax Europa“ ruft zum Protest gegen den „Tag der Offenen Moschee“ auf und trifft auf ein Gegenbündnis aus religiösen Gruppen und Antidiskriminierungsverbänden. VON KARIN SCHÄDLER

Kinder hören zum Tag der offenen Moschee in Köln einem Imam zu, der die Rituale erklärt.

Aus Sorge um das „christlich-jüdische Abendland“ ist sie extra aus Süddeutschland angereist. Es finde eine „schleichende Islamisierung“ statt, sagt die Frau mittleren Alters, etwa wenn muslimische Eltern ihre Mädchen nicht gemeinsam mit Jungen in den Schwimmunterricht lassen wollen. Denn Muslime seien „als Ausländer hier“ und daher müssten sie sich in jeder Hinsicht integrieren. Wenn manche christlichen Eltern ihre Kinder nicht in den Sexualkundeunterricht schicken möchten, finde sie das aber „in Ordnung“.

Um gegen die „Okkupation“ des dritten Oktobers als „Tag der Offenen Moschee“ und die „Islamisierung“ der deutschen Gesellschaft zu protestieren, wie es im ursprünglichen Aufruf hieß, hat der islamfeindliche Verein „Pax Europa“ am Samstag zu einer Kundgebung vor der Gedächtniskirche in Berlin aufgerufen. Etwa 200 Menschen folgten dem Aufruf.

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Einer der vielen Freiwilligen, die am Samstag in den Moscheen zahlreichen Besuchern ihre Fragen beantworteten, ist dennoch optimistisch. Schließlich hat er mitbekommen, dass es eine Gegendemonstration gibt, an der auch Vertreter der Grünen, der Linken sowie christliche und jüdische Organisationen teilnehmen. Nach der Tötung der Ägypterin Marwa El-Sherbini im Dresdener Landgericht Anfang Juli, die nach Angaben der Staatsanwaltschaft durch Hass auf Muslime motiviert war, gelang ein solcher Schulterschluss zumindest in der Hauptstadt nicht. „Vielleicht haben wir daraus gelernt“, sagt Nina Mühe, eine der Mitorganisatorinnen des Bündnisses „gegen antimuslimischen Rassismus“. Etwas mehr als 300 Menschen nahmen an der Gegendemo teil. Auf der Liste der Unterstützer finden sich viele Antidiskriminierungsverbände und Einzelpersonen wie der Regisseur Neco Çelik oder die ehemalige Berliner Ausländerbeauftragte Barbara John.

Zur Gegendemonstration gehört auch ein „Friedensgebet“ in einer Kirche, an dem neben muslimischen und christlichen Vertretern auch eine Bahai-Gemeinde und die islamische Reformbewegung Ahmadiyya teilnehmen. Eine Sufi-Gruppe präsentiert mehrere Musikstücke. Aliyeh Yegane von der Bahai-Gemeinde „Geistiger Rat“ sagt, sie sei sofort bereit gewesen, die Veranstaltung zu unterstützen. Zwar würden die Bahai im Iran von Vertretern des Islam verfolgt, sie sei aber überzeugt, dass dies nicht dem „wahren Islam“ entspreche. Zudem seien die Bahai durch ihre lange Geschichte der Verfolgung besonders sensibel für das Thema Diskriminierung, auch, wenn andere davon betroffen seien.

In der Ankündigung der Gegendemo wird Pax Europa vorgeworfen, Ängste zu schüren und ein „Feindbild Islam“ aufzubauen. René Stadtkewitz, Berliner CDU-Abgeordneter und Landesvorsitzender von Pax Europa, sagt hingegen: „Wir wollen über die totalitäre Ideologie des Islam aufklären.“ Daher würden sie am Tag der Deutschen Einheit ein Zeichen setzen für Menschenrechte und gegen Unterdrückung. Auf mehreren Plakaten wird auf die islamfeindliche Internetseite Politically Incorrect (PI) hingewiesen. Stadtkewitz sagt über PI: „Viele Beiträge treffen den Kern.“

Viele der „Pax Europa“-Anhänger haben sich in Israel-Flaggen eingewickelt oder tragen diese vor sich her. „Ich will damit zeigen, dass ich mit Rassismus nichts zu tun habe“, sagt ein Teilnehmer. Ein anderer bekräftigt: „Wir wollen endlich diesen ewigen Vorwurf loswerden, wir seien Rechtsextremisten.“ Ein älterer Herr will mit der Israel-Flagge gar ausdrücken, dass Muslime ihre Frauen unterdrücken würden. „All das steckt da drin“, meint er.

Eine der Rednerinnen der Gegendemo, Iris Hefets von der „Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden im Nahen Osten“, spricht kurze Zeit später laut ins Mikrofon: „Sie instrumentalisieren uns Juden für die Ausgrenzung einer neuen Minderheit.“ Als die Gegendemonstranten an den „Pax Europa“-Anhängern vorbeiziehen, rufen sie immer wieder „Nazis raus“. Zur Verwunderung mancher Passanten wird der Sprechgesang erwidert, so dass sich nun beide Gruppen gegenseitig als „Nazis“ diffamieren. Eine Sympathisantin von „Pax Europa“ sagt, der Islam sei schließlich eine Ideologie, die mit dem Nationalsozialismus zu vergleichen sei.

Anhand solcher Aussagen fällt es den Gegendemonstranten nicht besonders schwer, geschlossen gegen „Pax Europa“ aufzutreten, auch wenn die verschiedenen Organisationen aus dem Bündnis „gegen antimuslimischen Rassismus“ in vielen anderen Fragen unterschiedliche Positionen zu Islamthemen vertreten. „Aber wir wollen das eben in einem Dialog bearbeiten“, sagt eine der Mitorganisatorinnen der Gegendemo, die evangelische Pfarrerin Gerdi Nützel.

Flugzeug-Crew prügelt sich in 9000 Metern Höhe

In einem indischen Airbus haben sich Piloten und Stewardessen während dem Flug eine Schlägerei geliefert. Dies vor den Augen von 100 entsetzten Passagieren.
Während dem Streit waren die Fluggäste vorübergehend zweitrangig. (reuters/symbolbild)

Wie die Zeitung «The Times of India» berichtete, geschah die Auseinandersetzung auf einem Flug von den Vereinigten Arabischen Emiraten nach Delhi. Zuvor hatte eine Flugbegleiterin den Piloten sexuelle Belästigung vorgeworfen.

Cockpit zeitweise unbesetzt

Der Streit mit Faustschlägen und wüsten Beleidigungen brach in der Bordküche aus. Das Cockpit des Airbus A-320 war sogar zwischenzeitlich unbesetzt.

Die 24-jährige Flugbegleiterin und der Co-Pilot wurden bei dem Streit verletzt. Die Fluggesellschaft Air India kündigte eine Untersuchung des Vorfalls an.

Einige Gründe für die Ablehnung der US-Olympiakandidatur beim IOC

Als einen "Sieg der Dritten Welt" hat Fidel Castro die Wahl von Rio de Janeiro zum Austragungsort der Olympischen Spiele 2016 noch am Freitagabend im Internetportal Cubadebate bezeichnet. Ein paar Stunden vorher hatte IOC- Präsident Jacques Rogge mit „eiserner Maske“ und „bebender Stimme“ - so der KStA - der Welt und Präsident Obama „die Sensation verkündet“. Der saß inzwischen schon im Flugzeug und ließ der Welt mitteilen, dass er noch vor dem Abflug aus Kopenhagen an Bord der Air Force One „ein langes Gespräch mit General McChrystal, dem eigens eingeflogenen Befehlshaber der ISAF-Truppen in Afghanistan“ geführt habe. Seine Reise war also nicht ganz umsonst.

Fidel Castro: „Wir teilen die Freude der Brasilianer“

„Die einflussreichsten Wirtschaftsmächte haben darum gekämpft, darunter die beiden führenden Länder, die USA und Japan. Dennoch hat die brasilianische Stadt Rio de Janeiro gewonnen", freute sich Castro nur drei Stunden nach der mit einer auch die deutschen Medien völlig überraschenden Mehrheit getroffenen IOC-Entscheidung von Kopenhagen. Dieser Sieg sei ein Beweis für den wachsenden Einfluss der Länder, „die um ihre Entwicklung kämpfen".

„Obgleich die volksnahen Sportarten wie Baseball aus dem Olympia-Programm ausgeschlossen sind, damit Bourgeoisie und Vertreter der reichen Schichten Möglichkeiten für ihren Zeitvertreib haben, teilen die Länder der Dritten Welt die Freude der Brasilianer und werden Rio de Janeiro bei den Olympia-Vorbereitungen unterstützen", schrieb der 83jährige Comandante. „Genauso geschlossen" sollten die Länder der Dritten Welt an die für Ende dieses Jahres geplanten Verhandlungen über den Klimawandel herangehen „und darum kämpfen, dass die klimatischen Veränderungen und die Eroberungskriege nicht über dem Streben aller Völker der Welt nach Frieden, Entwicklung und Überleben dominieren.“

„Sim, nós podemos“

Natürlich berichteten die üblichen Medien am Samstag nicht über diese Botschaft aus Kuba, obwohl sie per Satellit sofort weltweit vom lateinamerikanischen TV-Sender Telesur in Caracas und - sogar auf Deutsch - von der russischen Agentur für internationale Informationen RIA Novosti auch im Internet verbreitet wurde. Denn, so der KStA: „Während Madrid, das auch vor vier Jahren erst in der Finalrunde geschlagen wurde, mehr auf interne Diplomatie als auf publikumswirksame Auftritte setzte, baute Rio de Janeiro voll auf Emotionen.“ Präsident Luiz Inácio Lula da Silva habe sich nämlich mit dem Slogan „Sim, nós podemos“ Obamas „Yes, we can“ auf portugiesisch zueigen gemacht und eindringlich gefordert: „Das olympische Feuer soll endlich in einem tropischen Land brennen!“ Und Rio de Janeiros Bewerbungschef Carlos Nuzman habe gar einen Atlas mit allen bisherigen olympischen Orten vorgewiesen: „...mit 30 europäischen Fähnchen und 12 in Nordamerika, mit fünf in Asien und zwei in Australien“.

Die Auftritte der Obamas

Dass nicht nur der persönliche Auftritt des ehemaligen brasilianischen Gewerkschafters Lula da Silva in Kopenhagen, sondern auch die „Antiterrorkampf“ genannte, vom kubanischen Guantánamo bis nach Afghanistan und Pakistan reichende Kriegspolitik der USA und ihre kolonialistische Lateinamerikapolitik bei der Entscheidung der 105 IOC-Mitglieder eine Rolle gespielt haben könnten, kam offenbar keinem der deutschen Medienberichterstatter und Kommentatoren in den Sinn. Da halfen weder der mit achteinhalb Minuten längste Bewerberauftritt der vier anwesenden Staatschefs mit so entlarvenden Obama-Sätzen wie „Ich bitte Sie dringend, Chicago zu wählen. Ich bitte Sie dringend, Amerika zu wählen… Das ist nicht nur ein amerikanischer Traum, das ist der olympische Spirit", noch die rührselige Vorstellung seiner Frau Michelle. Die hatte vor ihm eine sechsminütige Ansprache über ihre Geburtsstadt, deren Nähe zum Sport und über einen Helden aus Chicago gehalten - ihren an Multipler Sklerose erkrankten und verstorbenen Vater.

Ergebnis der beiden Auftritte: Entsetzen am Freitagmittag in der Regierungshauptstadt Washington, als IOC-Präsident Rogge im fernen Kopenhagen mitteilte, dass Chicago danach die wenigsten Stimmen aller Bewerber auf sich vereinigt hatte und darum bereits im ersten Wahlgang ausgeschieden war. Schließlich geht es bei den Olympischen Spielen nicht nur um Sport, sondern immer auch um Werbung für die Politik und die weltweite Selbstdarstellung des gastgebenden Landes. Und auch die US-Sponsoren, die zwar beim IOC nicht mehr so stark im sogenannten Top-Marketingprogramm vertreten sind wie früher, dürften sich über die Abfuhr des Kandidaten Chicago einigermaßen gewundert haben.

Ganz Lateinamerika freut sich

In ganz Lateinamerika dagegen - nicht nur an der Copa Cabana - brach Jubel aus, als sich im dritten Durchgang Rio mit 66:32 Stimmen gegen Madrid durchgesetzt hatte. Nicht nur der ehemalige Arbeiterführer Lula da Silva, der die Olympiabewerbung zur Chefsache gemacht hatte, auch Venezuelas Staatspräsident Hugo Chávez, gegen den mit US-Unterstützung bereits mehrere Putschversuche unternommen wurden, strahlte in Telesur. Sogar sein zurzeit gefährlichster Gegner im Nachbarland Kolumbien, Präsident Alvaro Uribe, erklärte, er sei „sehr zufrieden", obwohl die USA dort mit seiner Genehmigung seit einigen Wochen Truppenbasen ausbauen - angeblich um die Drogenmafia zu bekämpfen. Der Mexikaner Mario Vazquez Raña, der an der Spitze der Organisation steht, die den Panamerikanischen Sport repräsentiert, ist sich sicher, dass die Brasilianer "großartige Spiele" veranstalten werden. Und die die chilenische Staatspräsidentin Michelle Bachelet freute sich: „Wie gut, dass Brasilien gewonnen hat. In unserem Lateinamerika finden nun die Spiele 2016 statt" - was der KStA „euphorisch“ nannte.

Am Sonntag wird in Rio de Janeiro ein großes Volksfest stattfinden, das von Telesur über Satellit weltweit übertragen wird. Der aus Venezuela stammende Sender kann auch in Europa uncodiert empfangen werden.

20 Mythen über Märkte

Unter Mythen versteht man jene Behauptungen, die als offenkundig wahr angesehen werden, ohne je bewiesen worden zu sein. Man hört sie im Radio, von Freunden, von Politikern; durch ihre Allgegenwärtigkeit und stete Wiederholung scheinen sie allgemein akzeptiert zu sein.

… leider auch, wenn es um Marktwirtschaft geht, von dem einen oder der anderen unserer geschätzten Kommentatorenschaft hier auf antibuerokratieteam.net…

Der Wissenschaftler Tom Palmer vom US-amerikanischen libertären Think-Tank CATO befasste sich in einem Papier mit verschiedenen Mythen der Marktwirtschaft. Er hat zwanzig Mythen über Märkte zusammengestellt, in vier Kategorien geordnet (moralische Kritik, wirtschaftliche Kritik, Mischung aus moralischer und wirtschaftlicher Kritik, allzu begeisterte Verteidigung) und kritisch hinterfragt.

Das Liberale Institut bei der Stiftung für die Freiheit hat das Papier übersetzt und hier als PDF publiziert.

Sie können es auch kostenfrei als gedruckte Version über die Stiftung bestellen. Sehr lesenswert!



Rebellion in der Ölprovinz

Randale am saudischen Nationalfeiertag

Es begann als ausgelassene Feier und endete in einem Desaster: Am saudischen Nationalfeiertag am vergangenen Wochenende haben etwa 200 junge Männer in der Ölprovinz Dammam Läden und Restaurants attackiert. Einige Randalierer wurden bereits dafür ausgepeitscht, andere in Erziehungsheime überstellt. Wie konnte das passieren?, fragt die saudische Öffentlichkeit jetzt.

Von Esther Saoub, ARD-Hörfunkstudio Dammann

Sie tragen saudische Fahnen über den Schultern, manche auch vor dem Gesicht. Doch statt zu feiern, zerstören sie: Sie werfen Steine in Schaufenster, treten Türen ein, schüchtern die Kunden ein. Mahmoud Sabri, Filialleiter bei Starbucks direkt an der Uferpromenade von Dammam, stand in der Nacht hinter dem Tresen: "Die waren da draußen und haben den Nationalfeiertag gefeiert, hier drin war Betrieb. Plötzlich flogen Stühle durch die Luft, Tische, Steine", berichtet er. "Die Jungs haben dann die Türen aufgebrochen und das Geld aus der Kasse gestohlen." Das ganze habe nur zehn Minuten gedauert, aber diese zehn Minuten seien eine Katastrophe gewesen. "Gott sei Dank wurde niemand verletzt".

In der Familienabteilung hätten die Angestellten die Türen verrammelt. "Die Randalierer zertrümmerten das Glas, aber konnten nicht herein", berichtet der Filialleiter weiter. "Hier waren Kinder, manche Frauen sind vor Angst ohnmächtig geworden. Alle waren geschockt. Das waren 50 Jungs." Die Bilanz am nächsten Morgen: 180 Festnahmen und ein Dutzend geschädigte Geschäftsleute. Was die Randalierer nicht mitgenommen haben, haben sie zerstört.

Die Wasserpfeife - ein Stück erkämpfte Freiheit

Rauchende Männer vor einem Straßencafé in Bahrain - in Saudi-Arabien ein Stück Freiheit.

Einige Tage später wenige Kilometer weiter südlich: Hier liegt die Uferpromenade, die Corniche, von Qatif, einer Nachbarstadt. Es ist kurz vor neun Uhr abends. Einige Jungs spielen Fußball. Daneben sitzen drei junge Männer auf Klappstühlen. Die Wasserpfeife blubbert. Alltäglich in anderen arabischen Ländern, aber hier in Saudi-Arabien ein Stück hart erkämpfte Freiheit: "Wenn ich irgendwo anders sitzen würde, käme gleich die Sittenpolizei und würde sagen: 'Die Wasserpfeife ist verboten!' Weil man in der Öffentlichkeit ist, hier darf man nicht rauchen."

Die Männer sind zwischen Anfang und Ende zwanzig, zwei haben Jobs, einer sucht noch. Was sie in ihrer Freizeit machen? "Die meisten Orte in Saudi-Arabien sind für Familien, alleinstehende Männer dürfen da nicht rein. Öffentlich feiern geht auch nicht. Selbst in den Einkaufszentren, in die wir dürfen, belästigt uns die Sittenpolizei", berichten die jungen Männer. "Manche Jugendlichen machen Fehler, sie sprechen Frauen an - und wir anderen zahlen dann dafür." Wenn die Wächter sähen, dass man an einem Laden zweimal vorbeilaufe oder dass man neben einer Frau gehe, "denken sie sofort, man sei nicht zum Einkaufen hier, sondern um Frauen anzumachen".

"Es gibt noch nicht einmal Autorennen"

"Jugendliche in Saudi-Arabien haben kaum Möglichkeiten, ihre Freizeit zu gestalten", sagt der Journalist Muhammad as-Saleh "Entweder sie entladen ihre Energie am falschen Ort, oder sie suchen den richtigen, aber den gibt es kaum", sagt er. Keine Literaturclubs oder Kulturvereine, keine Menschenrechtsgruppen, keine politischen Salons. Es gebe noch nicht einmal Autorennen und kaum sportliche Aktivitäten. Auch Kinos seien verboten. "Das alles unterdrückt die Ambitionen der Jugend", so der Journalist.

Kommt eigentlich nur noch eins in Frage, unter sich bleiben. "Wir setzen uns zusammen, auf der Corniche oder bei einem von uns Zuhause", erzählen die jungen Männer an der Promenade. Sie nennen das Diwaniya - ein Treffen wie unter Dichtern. "Wir unterhalten uns, schauen Fernsehen, erzählen Geschichten."

Ob sie überhaupt Frauen kennen? "Nur meine Mutter", antwortet einer und lacht. Sogar seine Kusinen verschleiern ihr Gesicht, wenn sie ihn treffen. "Beziehungen zu Frauen sind in unserer Religion verboten. Die Familien sind der Meinung, dass ihre Töchter keine Männer treffen dürfen, und wir selbst akzeptieren auch nicht, dass sich eine Frau zu uns setzt. Unmoralische Beziehungen gehen eben nicht für uns." Das sei schon ok so, murmeln die Jungs - und lachen wieder. Hat wirklich niemand eine Freundin? "Naja, manche jungen Männer haben bestimmt verbotene Beziehungen, aber das machen sie eben heimlich", so die Antwort.

Wie feiert man ausgelassen?

Die Randalierer vom Nationalfeiertag wussten nicht wohin mit ihrer Energie und sie wussten auch nicht, wie man ausgelassen feiert - denn das ist normalerweise gar nicht erlaubt im Königreich. Als dann Restauranttüren vor ihnen verschlossen blieben, weil dort nur Familien herein dürfen, sind sie ausgetickt. 20 junge Männer haben schon bezahlt für ihren Übermut: zwei Tage später wurden sie mit 30 Hieben öffentlich ausgepeitscht.

Samstag, 3. Oktober 2009

Fall Kassandra: 14-Jähriger verdächtig

Mordkommission hat Tatverdächtigen ermittelt

Im Fall der in einen Gully-Schacht geworfenen Kassandra hat die Polizei einen erst 14-jährigen Tatverdächtigen festgenommen. Er sei schon länger verhaltensauffällig und besuche eine Förderschule, teilten Polizei und Staatsanwaltschaft am Samstag (03.10.09) mit.

Die versteckte Jacke Kassandras hatte die Ermittler auf die Spur des Jugendlichen gebracht. Der 14-Jährige sei bereits am 15. September als Zeuge vernommen worden. Dabei habe er völlig gelassen und abgeklärt gewirkt. Er hatte Hausverbot für den Spieltreff, in dem sich Kassandra vor der Tat aufgehalten hatte. Seit der Grundschule sei der Junge verhaltensauffällig und besuche eine Förderschule, erklärten Polizei und Staatsanwaltschaft am Samstag (03.10.09) in Mettmann.

Mädchen schwer verletzt

Die neunjährige Kassandra war am Abend des 14. September 2009 von der Betreuung in einem Katholischen Jugendtreff nicht nach Hause zurückgekehrt. In der Nacht zum 15. September wurde das inzwischen als vermisst gemeldete Kind von einem Suchhund der Polizei in einem verschlossenen Kanalschacht in rund 1,50 Meter Tiefe gefunden. Die Neunjährige war schwer misshandelt und lebensgefährlich verletzt worden. Nur mit einer Notoperation konnte das unterkühlte Kind gerettet werden. Der Täter hatte Kassandra schwere innere Verletzungen und eine Gehirnerschütterung zugefügt. Der Gesundheitszustand des Mädchens hat sich mittlerweile stabilisiert.