Montag, 4. Juni 2007

In der Linken, den Medien und bei Indymedia bestimmt die Schuldfrage das Bild: Wer hat denn nun angefangen in Rostock?

Die gewaltbereiten Polizisten, die gewaltbereiten DemonstrantInnen, die Medien im Vorfeld mit ihrer Hetze gegen „Chaoten“, oder waren es Schäuble und der staatliche Gewaltapparat mit ihrem rechtskonservativem Kettengerassel, oder waren es die Nazis oder gar Agent Provocateure, wie manch einer glaubt?

Wahrscheinlich stimmt alles ein bisschen und dennoch ist nichts davon richtig, weil schon die Frage falsch gestellt ist.

Es ist natürlich Unsinn, dass vereinzelte "Agent Provocateur"-Aktionen DER Auslöser der Ausschreitungen gewesen sein sollen. Dennoch ist es richtig, dass Agent Provocateure sicherlich mit von der Partie waren und zur Eskalation beigetragen haben.

Ebenso zu vermuten ist, dass sich Nazis untergemischt haben. Das ist plausibel, da zum einen deren Demo in Schwerin nicht genehmigt wurde und sie sich daher dezentral formiert haben, zum anderen wurde in Nazi-Foren schon im Vorfeld zu G8 angekündigt, dass man sich als "Linke verkleidet" unter die Demo mischen wolle.

Natürlich gab es nicht nur Nazis und Agent Provocateure unter den Vermummten, es waren auch sogenannte "Antikids" unter ihnen, die ihre Wut offensichtlich auf diese Weise kanalisieren müssen und wollen, und aber auch DemonstrantInnen, die zwar schwarz gekleidet und vermummt waren, aber sich - wenn überhaupt - dann erst zu Aktion haben hinreissen lassen, nachdem sie sahen, wie die ebenso gewaltbereiten Polizisten wahl- und ziellos um sich und in die Menge prügelten und CS-Gas sprühten. Wahrlich ein Anblick, der größte Selbstbeherrschung für innere Gelassenheit abverlangt.

Provoziert hat nicht die pure Präsenz der Polizeitrupps, sondern die wie wild losgelassenen gewaltbereiten Polizisten, als sie schließlich in Aktion traten – wohl nicht zuletzt auch, um einzelne Angriffe auf Ihresgleichen zu „rächen“, ganz im Sinne des Korpsgeistes. Zur Gewalt bereit war jedenfalls mehr als nur eine Seite.

Mediale Konstruktion

Die Mainstream-Medien machen nun aus jenen DemonstrantInnen, von denen Stein- und Flaschenwürfe ausgingen und anderen hinzugekommenen Anwendern physischer Gewalt, deren Herkunft unaufklärbar ist, eine homogene Masse von "die Autonomen", was ebenso falsch ist, wie wenn die Linke da nun ein "wir" hinein projeziert.

Die Ausschreitungen sind von verschiedenen Leuten provoziert worden und aus verschiedenen Gründen und es ist ziemlich sicher, dass es eine Aufklärung darüber "wer und wie es wirklich war" und "wer wirklich angefangen hat" vor diesem Hintergrund sowieso nicht geben wird und selbst wenn das Puzzle mit Hilfe von Indymedia und anderen Medien bis auf das letzte Steinchen gelegt werden könnte, würde es nichts helfen: Die Definitionsgewalt über die „Wahrheit“ liegt wie immer bei denen, die die mit Wirkmacht ausgestatteten Sprecherpositionen inne haben: Die Pressestellen der Polizei, der Staatsanwaltschaft, des Innenministeriums, die Mainstream-Medien, die die Pressemitteilungen ventilieren, die ModeratorInnen von Talkshows und anderen Vorabendpalavern, die ganz auf Linie sind, weils sie es nicht besser wissen und wissen wollen.

Die Story von Rostock ist längst geschrieben, ehe das letzte Puzzlestein gefunden ist. Ohne wenn und aber, hier die Bösen dort die Guten, wir haben es schon immer gesagt und fertig ist der Diskurs. Manufacturing Consens. Bei aller Kritik an den Steine- und sonstwas-Werfern, die völlig berechtigt ist, soweit ungeschützte Menschen getroffen werden, sollte also Vorsicht beim Urteil darüber walten, wem die Schuld dafür in die Schuhe geschoben wird – „DemonstrantInnen oder Polizei“?.

Heterogenität

Falsche Frage. Grade unter ersteren gibt es keine abgestimmte, gemeinsam und kollektiv handelnde Gruppe von überwältigenden „4000 Autonomen“ die militant vorgehen, es gibt alle, alles und vor allem Widersprüchliches und Uneinigkeit. Längst kein Korpsgeist unter den Demonstrierenden und das ist auch gut so.

Nun gab es im Vorfeld zwar einen jetzt achso vorwurfsvoll zitierten Konsens darüber (wieso wurde der nicht eingehalten? Wer hat ihn zuerst gebrochen?), eine Demonstration ohne Ausschreitungen durchzuführen. Ein Konsens, der sogar gemeinsam mit der Polizei zu der geteilten Erwartung geführt haben soll, dass die Sache am 2. Juni ein riesiges, großes buntes Fest werden sollte (was gabs da eigentlich zu feiern?).

Niemand hatte angeblich was anderes als ein friedliches buntes Fest erwartet (und genau deshalb eine martialische Aufrüstung polizeilicher Gewalt in die Rostocker Seitenstrassen bestellt, mal so für alle Fälle????) und dabei ganz ehrlich tatsächlich völlig vergessen, dass bei einem solch aufgeladenen und im Vorfeld schon erhitzten gesellschaftlichen Knotenpunkt ein solcher Konsens immer schon fragil ist. Honnit soit qui mal y pense.

Wie auch immer: Wenn dieser Konsens dann gebrochen wird, dann gehören dazu mehr Seiten als nur eine. Die eine Gewalt, soviel konnten alle sehen, ging von einer zerstreuten Minderheit aus, gemessen an der Anzahl der DemonstrantInnen, die andere Gewalt zählte Tausende und hatte organisierte Befehlsgewalt dahinter zu stehen, die per Funkspruch agierte. Befehl nach vorne, losjagen, schlagen, sprühen, mitnehmen, Befehl nach hinten, zurückziehen, warten und nochmal von vorne das Spiel. Die andere Seite, soweit sie auch wirklich zu den DemonstrantInnen gehört, agiert im Chaos, unkoordiniert aus der Menge, in Seitenstrassen rein, aus Seitenstrassen raus, total scheisse aus hintersten Reihen DemonstrantInnen gefährdend (mit Wurfgeschossen), völlig bescheuert im Alleingang oder aber aus Reflex ohne jede Überlegung halt irgendwie was grad so kommt unternehmen, Reaktion Gegenreaktion - bis in die Gewahrsahmnahme rein und coole Bilder für Spiegel-Online und Schäuble, der jetzt erst recht seinen Apparat zusammen zieht und auch ziehen darf (es ist dennoch nicht die Schuld der „Autonomen“, dass sie sich instrumentalisieren lassen für mehr Law and Order, es sind schon jene, die instrumentalisieren, die dies tun und nutzen).

Auseinandersetzung notwendig

Jedenfalls: Aus all diesen Gründen kann sich strenggenommen keine Linke mit der Militanz „der Autonomen“ (wer ist das genau?) identifzieren oder dahinter stehen und eben dann auch genauso wenig davon distanzieren. Fragt die halt, die es vermeintlich getan haben, fragt ob, was und warum sie es getan haben - wenn ihr es wissen wollt. Kritisiert genau dieses dann (oder eben auch nicht), streitet mit denen, die das (was?) gut finden, streitet mit anderen, die das (was?) scheisse finden und seht ab von ungesicherten, pauschalen Zuschreibungen, die nur dazu beitragen, ein Bild zu zeichnen, dass den Medien willkommen ist, weil es ihre schlichten Weltbilder bedienen hilft.

Streitet untereinander und nicht vor dem, tut euch schon gar nicht mit dem Mainstream gemein (die wollen was anderes), der will euch verkaufen und euch gegen euch selbst wenden. Spekuliert ruhig rum und lasst Spekulationen korrigieren, solange, bis irgendwas klar ist.

Nochmal jedenfalls: Die Schuldfrage ist nun auch deshalb falsch gestellt, weil sie latent davon ausgeht, dass sich zwei Gruppen darauf geeinigt haben, sich nicht zu prügeln und jetzt haben sich die einen (die Bösen) nicht daran gehalten, weshalb die anderen (die Guten) leider zu schlagen mussten (wahlweise „Demonstranten“ oder „Polizisten“ einsetzbar). Nun – auch wenn es eine Einigung gegeben hat im Vorfeld, sie basiert auf höchst ungleichen Kräften.

Es ist ja klar, dass die Polizei allen anderen Menschen zwei Dinge voraus hat: Elaboriertere Mittel zur Ausübung von physischer Gewalt und – noch viel wesentlicher – das Monopol zur Ausübung von Gewalt. Polizisten dürfen prügeln und wenn sie es nicht dürfen, können sie es trotzdem, weil sie in der uniformierten Verkleidung nicht individuell identifizierbar sind und weil sie einen Institutionenapparat (Kollegium, Justiz) um sich herum haben, der sie hinreichend vor rechtlichen Konsequenzen zu schützen vermag.

Das soll jetzt nicht heißen, dass Polizisten mit Gehwegplatten beworfen werden sollen. Es sollen aber vor diesem Hintergrund zwei Fragen gestellt werden, die nie ins Fernsehen kommen: die bereits erwähnte „warum wirft jemand Steine gegen eine Gewalt, die sowieso am längeren Hebel sitzt?“ (was geht eigentlich in diesen Menschen so vor? Ernsthaft.), die andere: Wieso läßt die Polizei nicht ein einziges Mal zu, dass die DemonstrantInnen selbst untereinander aushandeln und klären, wie mit physischer Gewalt aus den eigenen Reihen (im wörtlichen Sinne gemeint) umzugehen ist. Selbst bei der von der Pressestelle der Polizei genannten reichlich übertriebenen Zahl von bis zu 4000 „Gewalttätern“ und der reichlich untertriebenen Zahl von 25.000 DemonstrantInnen (absurdes Verhältnis, so schwarz war die Demo nie) insgesamt, wäre es durchaus zumutbar, dass die Letzteren einen Umgang mit Ersteren ganz selbstständig finden.

Dann geht vielleicht schon auch mal ein Auto kaputt oder die ein oder andere Fensterscheibe zu Bruch, aber es käme mit Sicherheit zu keiner Eskalation in diesem Ausmaß, das – täräää – und jetzt kann man das ja auch mal relativieren - gemessen an der Anzahl der DemonstrantInnen im übrigen gar nicht soooo wild war. Kreuzberg hat schon anderes erlebt. Der Sachschaden war nicht mal eine Million, die Glasereien und Strassenbau-Unternehmen freuts, Knochenbrüche heilen.

Übrigens: Den gewaltmäßig unbeteiligten und deeskalierenden DemonstrantInnen, die bei den ziellosen Polizeiaktionen regelmäßig als Kollateralschäden ihr Fett abkriegen weint kein einziger eine Träne in Funk und Fernsehen hinterher und auch von der Polizei hat man noch keine Entschuldigung vernommen. Die Medien jedenfalls mit ihrer autistischen Focussierung auf die Gewaltbilder reduzieren die Demonstration des größeren Spektakels wegen auf eine einzige Gewaltorgie, der Rest war Karneval. Wenn man so will wäre ohne Krawalle und Kavala nur die bunte Party in den Nachrichten gelandet.

http://de.indymedia.org/2007/06/.shtml

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