Afrika – Kontinent der Kindersoldaten

Minderjährige kämpfen an allen Fronten

Wenn sich die Todfeinde auf der Mitte der Gabriel Tucker Bridge von Angesicht zu Angesicht begegnen würden, könnten sie in ihr eigenes Spiegelbild schauen. Hier das Lumpenmilitariat von Präsident Charles Taylor, das sich Regierungsarmee nennt, dort die verwahrlosten Horden der Rebellen, beide in der gleichen Kampfkluft, beide gleich grausam, beide gleich jung. Wenn sie in ihren Fantasieuniformen, wild um sich schießend, durch die Straßen rennen, mutet das an wie ein Karneval des Todes.

Manche dieser Kämpfer und Kämpferinnen haben gerade einmal das Schulalter erreicht. Sie führen einen Krieg der Kinder. Ihre Zerstörungswut hat Monrovia, die Hauptstadt von Liberia, in einen Vorhof der Hölle verwandelt. Daran hat auch die Unterzeichnung eines Friedensvertrages nichts ändern können. Anfang der Woche sollen Rebellen im Landesinnern wieder Massaker verübt haben, die Rede ist von 1000 Toten.

Saufgelage in der Nacht, der General ist verkatert

„Ich kommandiere 10.000 Mann“, protzt Scarborough. Man nimmt ihm das genauso wenig ab wie die Angabe zu seinem Alter. 18 Jahre alt ist er nach eigenem Bekunden. Sein jungenhaftes Gesicht lässt eher an einen 15-Jährigen denken. Auch seinen richtigen Namen will er nicht verraten, Scarborough, das müsse genügen.

Der General ist noch ziemlich verkatert von dem Gelage in der vergangenen Nacht. Er trägt ein Stirnband, nagelneue Nike-Sneakers und ein weißes T-Shirt. An einer Kette um seinen Hals baumelt eine Damenarmbanduhr, die Goldbeschichtung ist stellenweise abgeblättert. Offenbar will Scarborough gerne aussehen wie ein martialischer Clan-Chef aus der New Yorker Bronx, aber er ist, wenn überhaupt, nur dessen billige afrikanische Kopie. Er schiebt eine abgegriffene Kassette in seinen Ghettoblaster, HipHop aus Amerika. Scarborough braucht das zur allmorgendlichen Dröhnung, ehe es wieder so weit ist und er in die nächste Schlacht zieht.

Seine Leute reichen ihm weiches Toastbrot und einen Flachmann mit selbst gebranntem Fusel aus Zuckerrohr. „Wir haben es denen so richtig gegeben. Immer und immer wieder. Jetzt sind die Rebellen abgezogen“, prahlt der General und zeigt wieder hinüber auf die kugeldurchsiebten Reklametafeln und die zerschossenen Straßenlaternen auf der anderen Brückenseite. Allmählich stimmen auch die anderen ein in den Lobgesang auf die eigenen Heldentaten. Sie seien verdammt gute, mutige Kämpfer, er und seine Boys. Manchmal nennt Scarborough sie auch Männer. Einige der Männer sind erst sechs Jahre alt.

Eine Rotte ist soeben vom ersten Beutezug zurückgekehrt. Die Bewohner der Wellblechhütten ringsum kennen das schon. Wenn die Kerle in der Morgendämmerung auftauchen, geben sie ihnen das letzte Hemd. Sonst sind sie tot. Erschossen mit den Kalaschnikows, die mit leuchtenden Neonfarben besprüht sind. Die Marodeure sind unberechenbar, bei der kleinsten Irritation drehen sie durch und ballern auf alles und jeden. Oft gehen sie auch aufeinander los, mit Rasierklingen oder abgeschlagenen Flaschenhälsen.

Die kleinen Soldaten haben ein Stadium der Verrohung erreicht, das sich ein europäischer Kinderpsychologe nicht vorstellen kann. Sie sind das Ergebnis eines archaisch anmutenden Bürgerkrieges. Es geht um die Macht in Liberia. Und um seine Diamanten. Andere Schätze hat dieser vollkommen verarmte Staat nicht zu bieten.

Aber was heißt hier Staat? Liberia hat schon vor Jahren aufgehört zu existieren. Wer in den Staatstrümmern kämpft, gegen wen es geht und aus welchem Grund, das wissen die Kombattanten meist nicht zu sagen. Sie reden wirres Zeug, wenn man sie danach fragt. „Wir sind eine Anti-Terror-Einheit“, erklärt einer der kleinen Terroristen gewichtig.

Einig sind sich Taylors Horden nur in einem: Die Teufel, das sind immer die anderen, die Feinde, die primitiven Waldmenschen. Sie rösten die Genitalien ihrer Gefangenen, erzählt man sich, und hängen sie als Amulette um ihren Hals. „Sie sind barbarisch, sie glauben an Voodoo-Zauber“, weiß Scarborough in abgehacktem Pidgin-Englisch zu berichten. Er und seine Gefolgsleute dagegen seien zivilisierte Menschen ganz und gar. Sie nennen sich stolz Americo-Liberianer, manchmal auch Congos.

Sie ziehen durch die Straßen, ausgehungert, verwirrt, wütend

Ihre Vorfahren sind freigelassene Sklaven aus Amerika gewesen, die an der Moskitoküste Afrikas im Jahre 1847 Liberia gegründet haben, die Republik der Freien. Sie errichteten eine Art schwarzer Apartheid und diskriminierten die einheimischen Völker. Ihre Herrenmenschen-Mentalität den „wilden Stämmen“ gegenüber begründete die Wut, den Hass, der sie schließlich vernichten sollte – und das ganze Land dazu.

Die erwachsenen Offiziere in Präsident Taylors Armee haben meist eine abgeschlossene Laufbahn als Kindersoldaten hinter sich. Sie stießen vor rund 14 Jahren zu seiner Freischärlertruppe, die damals aus den Urwäldern kam, um Liberia von dem blutrünstigen Tyrannen Samuel Doe zu befreien. Als die berüchtigtste Einheit galt die „Small Boys’ Unit“, Taylors Prätorianergarde. Damals gingen zum ersten Mal Berichte über mordende Kindersoldaten rund um die Welt. Und schon damals wurden sie als Monster, Vampire, Menschenfresser oder Killermaschinen beschrieben.

Im Laufe der Jahre ist die Armee der Kindersoldaten nach UN-Angaben allein in Afrika auf 120000 angewachsen, weltweit sollen in 36 Ländern rund 300000 im Einsatz sein. Genaue Zahlen kennt niemand, denn viele der kleinen Soldaten wachsen während der langwierigen, bewaffneten Konflikte aus dem Kindesalter heraus. Und viele werden getötet, ohne dass jemand Notiz davon nimmt. Der Ugander Olara Otonnu, Sonderbeauftragter des UN-Generalsekretärs für Kinder in bewaffneten Konflikten, schätzt, dass zwischen 1990 und 2000 zwei Millionen Kindersoldaten gefallen sind. Sechs Millionen seien zu Invaliden geworden, zehn Millionen haben schwere seelische Schäden erlitten.

Liberias Präsident Charles Taylor, zugleich der Oberbefehlshaber, hat das Land am 11. August verlassen und befindet sich seitdem im sicheren Exil in Nigeria. Seine Soldateska und ihre Widersacher, die diversen Milizen unter dem Banner der Rebellen, aber werden in Liberia bleiben. Die einen sind vorerst in die Regenwälder und Mangrovensümpfe zurückgekehrt. Die anderen ziehen durch die Straßen von Monrovia wie lebende Zeitbomben, ausgehungert, verwirrt, wütend, weil sie seit Jahren keinen Sold mehr erhalten haben. Und sie sind frustriert, sie hören von Friedensverhandlungen, einem Friedensvertrag.

Monrovia gleicht einer Ruinenstadt. Auf der Landzunge von Westpoint gibt es kein Trinkwasser. Strom fließt schon seit Jahren nicht mehr. Die Menschen vegetieren zwischen stinkenden Müllbergen vor sich hin. Hunderte starben im Granatenhagel der Angreifer, die sich den klangvollen Namen LURD gegeben haben, ein Akronym für „Liberianer, vereinigt für Versöhnung und Demokratie“. 50.000 Menschen flohen während der monatelangen Belagerung der Hauptstadt in das Fußballstadion, wo unterdessen die Cholera ausgebrochen ist. Die Kinder sind in einem erbärmlichen Zustand.

Die Sportarena trägt den Namen des Expräsidenten: Samuel Doe. Die Kindersoldaten, die jetzt im verwahrlosten Hotel Intercontinental untergeschlüpft sind, schwärmen manchmal von der bestialischen Ermordung des Despoten – sie ist auf einem Video festgehalten. Es zeigt, wie Doe im September 1990 zu Tode gequält wird. Wie ihm seine Peiniger die Ohren abschneiden und ihn zwingen, sie zu essen. Wie er viehisch brüllt und langsam verblutet. Kopien der Aufnahmen werden auf den Schwarzmärkten in ganz Westafrika wie ein Kult-Movie gehandelt. Im ehemaligen Hotel Intercontinental haben sie sich das Video reingezogen wie einen Musik-Clip. Aber dann ist das batteriebetriebene Fernsehgerät irgendwann aus der Lobby verschwunden, seitdem sind die ganz jungen Killer auf die Schilderungen ihrer älteren Kampfgefährten angewiesen, die genüsslich ausmalen, was auf dem Video zu sehen war.

Wenn sie davon erzählen, machen Schnapsflaschen und Marihuana-Zigaretten die Runde. Abends kriechen sie auf die Matratzenlager in ihren mit Graffiti beschmierten Zimmern. Sie schlafen ineinander verschlungen wie Knäuel junger Welpen.

„Das sind doch unsere Kinder“, beschwört Gloria Scott, die höchste Richtern des Landes, am Sonntag in der Providence Church von Monrovia ihre Zuhörer. Gloria Scott spricht in der Kirche, in der vor anderthalb Jahrhunderten der Staat Liberia ausgerufen wurde. „Wir müssen ihnen zeigen, dass sie noch Kinder sind, auch wenn sie es nicht mehr wahrhaben wollen.“

Wie Hyänen fallen die Warlords über den Kongo her

Szenenwechsel, 4000 Kilometer östlich von Liberia: Schweigend marschiert eine lange Reihe von Kindersoldaten in glühender Mittagshitze über den Exerzierplatz von Aru, einem gottverlassenen Nest im Osten des Kongo. Die Gummistiefel sind ihnen viel zu groß, und die Gewehre und Granatwerfer wirken auf ihren mageren Schultern wie die Waffen eines Goliath. Der Kommandant, schwere Goldkette, weiße Nike-Turnschuhe, marineblauer Jogginganzug, präsentiert voller Stolz seine Truppe. Lässig wippend, wie ein Rapper aus Los Angeles, kommt er uns entgegen. Das Gebaren, seine Art zu sprechen, seine Kleidung, alles an ihm scheint aus Amerika zu kommen. Die USA sind das mächtigste Land der Welt, nirgendwo sonst treten die Schwarzen so cool und selbstbewusst auf – dem Kommandanten gefällt das, im Urwald des Kongo hat er seine Leitbilder gefunden.

Er hat sich den Kriegsnamen Jérôme zugelegt. Die Leute schimpfen auf ihn hinter vorgehaltener Hand, nennen ihn putain de la guerre, Hure des Krieges. Weil man nicht so genau weiß, auf welcher Seite der Kommandant eigentlich steht. Mal gibt er sich als Getreuer der kongolesischen Regierung in Kinshasa aus, mal als deren erbittertster Gegner – je nachdem, wer ihn fragt.

In Wahrheit treibt er sein eigenes Machtspiel. General Jérôme ist einer jener Warlords, die wie Hyänen über den Kongo herfallen. Er streitet sich mit anderen Kriegsfürsten um die Vorherrschaft im Distrikt Ituri. Den Kampf zu gewinnen dürfte mit seiner zusammengewürfelten Truppe nicht einfach sein – die Mehrheit seiner Leute sind Kinder.

„Ich habe sie von der Straße aufgelesen und in die Welt der Soldaten integriert, um sie vor dem Tod zu retten“, tönt Jérôme. Jetzt brauche er von den Vereinten Nationen Geld, damit er die vielen hungrigen Mäuler stopfen könne. Das fordert ausgerechnet der Anführer einer Killertruppe, die sich aus dem Umland der Distrikthauptstadt Bunia holt, was immer sie braucht: Hausrat, Vieh, Kleider, Maissäcke, Frauenkörper.

Wir kamen aus dem Süden nach Bunia. Auf den letzten 150 Kilometern waren rechts und links des Weges zahllose menschenleere Dörfer zu sehen. Irgendwelche Banden mussten sie überfallen und geplündert haben. Im Mai sorgten die bestialischen Massaker, die in Bunia stattfanden, weltweit für Schlagzeilen.

Früher lebten hier die Volksgruppen der Hema und Lendu friedlich Seite an Seite – ehe sich ihre Milizen gegenseitig abzuschlachten begannen und wahllos ihre Waffen auf die Bevölkerung richteten. „Es ist ein Teufelskreis der Gewalt. Hier geht es nur noch darum, die andere Ethnie auszurotten“, sagt Manfred Sack, von der Deutschen Welthungerhilfe in die Region entsandt. Die Stammesmilizen wollen im Verteilungskampf um die wertvollen Ressourcen des Kongo mitverdienen: Diamanten und Gold, Edelhölzer und begehrte Rohstoffe wie Columbit-Tantalit, das beim Bau von Mobiltelefonen, Videokameras oder auch zur Härtung von Weltraumkapseln verwendet wird.

Bunia wird von Milizionären terrorisiert, unter ihnen sind zahlreiche Kindersoldaten. Sie tragen zum Spaß gerne Frauenkleider, Stöckelschuhe, Perücken, Piratentücher, happy horror. An ihren Hälsen hängen Beutestücke, meist schwere Perlenketten und Silberkreuze. Sie patrouillieren durch die Straßen, als zögen sie zu einem Maskenball. Sie lauern hinter den mit bunten Plastikbändern markierten Checkpoints. Oder sie hocken einfach nur stundenlang rauchend und trinkend herum.

„Ich heiße Damase, ich bin hier der Kommandant“, meint ein Kerlchen an einer der Sperren und salutiert. Körpergröße: 1,50 Meter. Alter: vielleicht zwölf Jahre. Er befehligt zwanzig Kindersoldaten. Warum seid ihr hier? Blöde Frage. „Wegen des Krieges natürlich. Unsere Eltern leben nicht mehr. Jetzt verteidigen wir unsere Heimat. Wir sind bereit, dafür zu sterben.“ Seine Kumpane beginnen, kongolesische Freiheitslieder zu grölen.

Die Aufnahmeprüfung: Den eigenen Vater töten

Die „Karrieren“ dieser Kindersoldaten verlaufen alle ähnlich. Sie kommen zur kämpfenden Truppe, aus freien Stücken oder unter Zwang. Je nach Alter werden sie zunächst für niedere Dienste eingespannt. Die Jungen müssen als Meldegänger, Späher, Spione oder Lastenträger arbeiten, die Mädchen sammeln Brennholz, kochen, waschen, werden nicht selten als Sexsklavinnen missbraucht.

Sobald sie ein Gewehr tragen können, werden sie von ihren Anführern ins Feuer geschickt. Ihre Waffe ist die Kalaschnikow, das Modell mit Aluminiumgehäuse wiegt nicht viel mehr als drei Kilogramm. Das M-16-Gewehr aus amerikanischer Produktion ist ebenfalls leichtgewichtig und hat einen stark gedämpften Rückstoßeffekt. Siebenjährige können diese Waffen tragen, zerlegen und benutzen, als wären sie Spielzeuge.

Ehe die Rekruten in die Schlacht ziehen, lernen sie das Einmaleins der Gewalt, sie werden gedrillt und geschunden, erniedrigt und ausgepeitscht. Die älteren Spießgesellen drohen sie zu töten, wenn sie nicht selbst töten. Alkohol, Rauschgift oder Schnüffelstoffe dämpfen ihren Hunger, ihre Angst, ihre Skrupel. Der Gipfel des Psychoterrors ist der Zwang, Freunde, Verwandte oder Dorfnachbarn umzubringen. Kindersoldaten berichten immer wieder, wie sie auf ihre Familienangehörigen gehetzt wurden. Das Ziel ist, die Tötungshemmung zu überwinden. Wer seine Schwester oder seinen Vater umgebracht hat, ist fortan vermutlich zu jeder Grausamkeit fähig.

„Ich bin Kindersoldat geworden, weil ich gesehen habe, wie der Feind unser Land wegnehmen wollte“, erzählt der 12-jährige Kabal Kabataro. „Es ist ein Job.“ Seine Eltern wurden bei einem Massaker getötet. Hier im Camp von Aru hat er Freunde gefunden, die Truppe ist seine Ersatzfamilie. Stolz tritt Kabal vor seinen Kommandeur hin und präsentiert das Gewehr. Bald wird er sich im Kampf beweisen dürfen.

Children to the front, Kriegsherren schicken die jüngsten Soldaten oft in die vorderste Kampflinien. Sie dienen als menschliche Schutzschilde, als Lockvögel oder Gefahrenanzeiger. Man stellt sie an Straßensperren oder jagt sie in Minengürtel, wo sie verstümmelt oder zerfetzt werden. Im absurden Grenzkrieg zwischen Eritrea und Äthiopien – die Nachbarn stritten um 412 Quadratkilometer karges Land – starben Tausende von Minderjährigen in den Schützengräben. Militärhistoriker vergleichen das Kampfgeschehen mit den Völkerschlachten des Ersten Weltkrieges. Im Jahre 2000 war die äthiopische und eritreische Jugend das Kanonenfutter.

Afrikanische Kindersoldaten sind willige und billige Jungkrieger, im Budget der Militärs oder Aufständischen stellen sie nur einen geringen Kostenfaktor dar. Man muss nicht viel investieren, um sie zu gefügigen Mordinstrumenten zu machen. Sie essen weniger als die Alten. Sie fordern in der Regel keinen Sold. Sie haben noch keine ausgeprägten Moralvorstellungen, sie sind leicht zu manipulieren. Die Identitätskrisen während der Pubertät lassen sich wirksam instrumentalisieren. Als Heranwachsende wollen sie angeben, sie wollen herrschen. Die jüngeren Kameraden fürchten sie oft mehr als ihre Feinde.

Geborgenheit im Bund mit gleichaltrigen Waffenbrüdern

„Kindersoldaten sind die effizientesten und skrupellosesten Soldaten“, sagt Olara Otunnu, der UN-Beauftragte. Sie sind Wegwerfmenschen, die schnell ersetzt werden können. Wenn sich die Reihen ihrer Truppe lichten, lassen die Kommandeure neue Kinder kidnappen. Man greift sie einfach weg, vom Bolzplatz, aus dem Klassenzimmer, dem Flüchtlingslager oder dem Dorf, das man gerade niedergebrannt hat.

In manchen Bürgerkriegsgebieten Afrikas liefern sich Milizen, Rebellentrupps und Armeeeinheiten einen regelrechten Wettlauf um die frischen, jungen Kräfte. Die Lord's Resistance Army, eine Mörderbande unter der Führung des Religionsfanatikers Joseph Kony, soll in Norduganda 12.000 Minderjährige verschleppt haben. Im Kongo stehen laut Unicef 20.000 bis 40.000 Kinder unter Waffen, an allen Fronten, unter allen Fahnen.

Meist haben die „Wadogos“, die Kleinen, wie sie in der Verkehrssprache Kisuaheli genannt werden, keine Wahl: Entweder sie marschieren mit, oder sie werden getötet. Aber es gibt auch Kinder, die sich freiwillig anschließen. Sie sehen keine andere Überlebenschanche mehr, weil ihre Familien ermordet und ihre Hütten zerstört wurden. Ein bewaffneter Bund von Gleichaltrigen bietet scheinbar Schutz, er vermittelt sogar eine gewisse Geborgenheit. Vor allem aber: Das Soldatenleben eröffnet einen Ausweg aus der Elendsfalle.

Als nach dem Untergang des Regimes von Diktator Mobutu in Zaire ein Radiosender der Hauptstadt Kinshasa Freiwillige zur Verteidigung des Vaterlandes suchte – Mindestalter 12, Höchstalter 20 –, meldeten sich spontan 5000 Jugendliche. Das Reservoir minderjähriger Rekruten in Afrika ist gewaltig. Allein die Zahl der Aids-Waisen, die einen oder beide Elternteile verloren haben, wird auf elf Millionen geschätzt. Die Zahl der Straßen- oder Flüchtlingskinder ist nicht bekannt. Sie irren durch den Kontinent, ein Heer der Verzweifelten, Hoffnungslosen und Gewaltbereiten. Der kleine Birhimana, Held in Ahmadou Kouroumas Roman über das Leid der Kindersoldaten, ist eine Kunstfigur. In der Wirklichkeit hat er Zehntausende von Brüdern und Schwestern. Sie betreiben das Geschäft des Todes, um selbst zu überleben.

Denn der ewige Krieg, die Gewaltexzesse, die Aids-Pandemie (29 Millionen Afrikaner sind HIV-positiv), die Massenflucht und der Hunger haben das wichtigste Netz der sozialen Sicherung, die traditionelle afrikanische Großfamilie, zerstört. Nichts ist dran an der oft geäußerten Behauptung, Afrikaner erlebten normalerweise doch zumindest eine glückliche Kindheit. Die Not ist überall, nicht nur in den chronischen Konfliktländern Somalia, Sudan, Kongo, Angola, Burundi, Sierra Leone und Liberia.

Kinder, die alle tückischen Tropenkrankheiten überstanden haben, die nicht an Malaria gestorben ist, an Gelbfieber, Flussblindheit oder Tuberkulose, wachsen im Mangel auf. Die meisten nur mit ein paar Fetzen am Leib, ohne Schuhe, geschlafen wird auf Lehmböden. Vor allem die Mädchen müssen hart arbeiten. Sie schleppen Wasser und Feuerholz, schuften auf dem Feld, betreuen ihre jüngeren Geschwister. Die Jungen hüten das Vieh und werden manchmal zu den Diamantenwäschern oder Goldgräbern geschickt. Oder sie müssen in einer Erzgrube Sklavenarbeit verrichten. Die Dorfschulen haben kaum Lehrmittel, den Krankenstationen – wenn es überhaupt welche gibt – fehlt es an Medikamenten. Von einer guten Ausbildung, einem Arbeitsplatz, einer besseren Zukunft können die meisten Kinder nur träumen.

Eine lange Odyssee liegt hinter Eric Nyeri. Jetzt hat er sein Ziel erreicht: das Trainingslager in Aru. Er ist gerade acht Jahre alt geworden. Auch für ihn ist die Kindertruppe eine Ersatzfamilie. Auch er redet von einem sicheren Job. „Ich habe ihn angenommen, weil ich unser Land verteidigen will.“

Musikkanäle, die ins letzte Urwalddorf senden

Was wirklich in Eric Nyeri vorgeht, was er wirklich denkt, das verrät er nicht. Wahrscheinlich würde es sich, wenn er ehrlich wäre, ungefähr so anhören: Eric, du bist jetzt wieder wer! Du hast ein Gewehr, und das Gewehr verleiht dir Macht. Du musst nicht mehr zittern und hungern, denn du kannst dir nehmen, was du willst, du kannst tun, wozu du Lust hast. Den Kassettenrekorder eines fremden Jungen klauen, die Wolldecke der Frau an der Straßenecke, die Biskuits aus dem Vorratsraum einer Hilfsorganisation. Gar nicht zu reden von all den schönen Dingen, die du im Fernsehen gesehen hast, auf diesen Musikkanälen, die ins letzte Urwalddorf senden: Turnschuhe von adidas und Nike-Kappen, Sweatshirts, Sonnenbrillen von Ray Ban – lauter Sachen, die du sonst nie bekommen würdest. Jetzt kriegst du sie, du musst nicht bezahlen. Wenn sich jemand wehrt, knallst du ihn einfach ab.

„Der Krieg erschien mir wie ein großes Spiel. Ich war froh, mit anderen Kindern marschieren zu dürfen“, erinnert sich die heute 26-jährige China Keitetsi. Sie war Kindersoldatin in Uganda, bei den Rebellen von Yoweri Museveni, der heute Präsident des Landes ist. Sie hat ein Buch geschrieben über das große, faszinierende Mordspiel, das den Kindersoldaten ein Gefühl der absoluten Freiheit beschert. Im mordenden Kollektiv können sie ihre „Gelüste der Selbstentgrenzung“ ausleben, die der Göttinger Gewaltforscher Wolfgang Sofsky beschreibt. Weil alle das Gleiche tun, muss sich keiner schuldig fühlen. Oft sind die Jungkrieger so mit Drogen voll gepumpt, dass sie sich an ihre Gräueltaten gar nicht mehr erinnern. Ein afrikanischer Junge schilderte dem amerikanischen Time Magazine, wie ein Kampfgefährte mit seinem Revolver in die Vagina eines Mädchens schoss. Das Mädchen, stundenlang vergewaltigt, hatte um Gnade gefleht. „Für das Elend, das Kindersoldaten erfahren und das sie erzeugen, sind sie nicht verantwortlich, das unterscheidet sie von erwachsenen Soldaten“, sagt Andreas Rister, der zuständige Fachreferent der deutschen Sektion von terre des hommes in Osnabrück. „Aber es gibt die Verantwortlichen. Es sind die Feldkommandeure der Rebellen oder Regierungstruppen. Es sind die Armeechefs und Staatsoberhäupter, die die Aushebung von Kindersoldaten anordnen oder stillschweigend dulden“ (siehe Interview unten).

Ihren eigenen Nachwuchs schicken diese Mächtigen oft gerne auf Eliteschulen in Europa oder Amerika, die Kinder der Armen lassen sie im Busch verbluten. Wenn der Krieg vorüber ist, wollen sie nichts mehr davon wissen. Seit in Angola die Waffen schweigen, bestreiten sowohl die MPLA-Regierung als auch die Aufständischen der Unita den massenhaften Einsatz von Kindersoldaten. Denn sie wissen: Schon ihre Rekrutierung verletzt die UN-Konvention zum Schutz der Kinder und ist nach den Statuten des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag ein Kriegsverbrechen. Alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen haben die Konvention unterzeichnet. Alle bis auf zwei: Somalia und die USA.

Szenenwechsel, rund 500 Kilometer nördlich von Bunia: Im Gleichschritt Marsch, vorwärts ihr kleinen Krieger! Die Truppe bewegt sich zum Rhythmus monotoner Trommelschläge. Exerzieren, das haben sie bei der sudanesischen Volksbefreiungsarmee SPLA gelernt. Aber heute tun sie es für den Frieden, und sie werden nicht auf Leben und Tod kämpfen, sondern um Medaillen – bei den Olympischen Spielen der Kindersoldaten. Die finden nun schon zum dritten Mal statt, auf dem staubigen Militärflughafen von Turalei, einem 300-Seelen-Nest im Südsudan.

Hilfsorganisationen richten Olympische Spiele aus

Keine siebzig Kilometer vom Dorf entfernt liegen die umkämpften Ölfelder. Das Ringen um das schwarze Gold im Sudan, um die politische Macht und um den einzig wahren Glauben hat den zweitgrößten Flächenstaat Afrikas in den längsten Bürgerkrieg der postkolonialen Geschichte gestürzt. Das Islamistenregime im Norden gegen den christlich-animistischen Süden, Regierungstruppen gegen Rebellen, so geht das seit 1955, unterbrochen durch ein paar Friedensschlüsse und Feuerpausen. Die blutigste Phase begann Anfang der 1990er Jahre. Unterdessen sind rund 1,5 Millionen Sudanesen an den Folgen von Krieg und Hungersnöten gestorben.

Die meisten der 1500 Kinder, die sich zum großen Sportfest in Turalei versammeln, haben aufseiten der SPLA gekämpft. Sie sind desertiert oder wurden entlassen. Die Aufständischen wollten ein Zeichen des guten Willens setzen – und spekulieren auf Hilfsgelder. Manche der ehemaligen Kindersoldaten sind aus ihren zerstörten Dörfern tagelang hierher gewandert, denn dies ist eine Veranstaltung, die es nirgendwo sonst auf der Welt gibt. Für drei Wochen dürfen sie ihre Albträume verdrängen, die immer gleichen Geschichten von Verschleppung, Versklavung und Vergewaltigung.

„Eines Tages griffen die wilden Reitertrupps der Murahelin unser Dorf an“, erzählt Mary Nyandagou. „Sie trieben die Rinder zusammen und schossen blindlings um sich. Viele Bewohner konnten fliehen, aber ich war damals noch zu klein, um wegzurennen. So haben sie mich gefangen. Ich musste in den Camps das gestohlene Vieh hüten und für die Soldaten kochen. Meine Eltern habe ich nie wieder gesehen.“

Die muslimischen Reitertrupps sind gefürchtet im Land der Dinka, der größten Volksgruppe am oberen Nil. Sie fackeln Dörfer ab, töten die Männer, verschleppen die Frauen und Mädchen, um sie als Sexsklavinnen zu halten. Doch über dieses Thema will die 14-jährige Mary nicht reden. Sie ist jetzt eine gute Läuferin, vielleicht schafft sie den Sprung aufs Treppchen.

Aber es gibt keinen olympischen Frieden in Turalei. Ein Luftangriff stehe unmittelbar bevor, raunen die Leute. Die Dörfer, aus denen die Olympioniken kommen, werden regelmäßig bombardiert. Der Landstrich hat sich in eine triste, steinzeitliche Ödnis verwandelt. Es gibt keine Schulen, keine Kliniken, keine Arbeit, nicht einmal Straßen, die diesen Namen verdient hätten. In periodischen Abständen brechen Hungersnöte aus. Der Start in ein neues, friedliches Leben mitten in einem Kampfgebiet – kann das überhaupt gelingen?

„Es geht!“, meint Acuil Banggol, der Wettkampfleiter. Der Hüne mit seinen 2,10 Metern Körpergröße bringt für seine Arbeit bei der Hilfsorganisation Sudanese Production Aid die idealen Voraussetzungen mit: Er war erst Soldat der SPLA, dann Basketballprofi. Sein eigener Sohn wurde im Alter von acht Jahren entführt, musste in einer Kampfeinheit dienen und konnte fliehen. „Man muss die im Krieg erlernten Fähigkeiten wie Disziplin und Opferbereitschaft in konstruktive Bahnen lenken.“ Die Erwachsenen seien verloren, sagt Banggol. „Aber gebt mir die Kinder, und ich werde sie verändern.“ Er will die Schrecken des Krieges aus ihren Köpfen verbannen. Sie sollen lernen, dass man Konflikte auch friedlich lösen kann. „Nur so können sie Hoffnung schöpfen, jemals ein normales Leben zu führen.“

Unicef und drei weitere Hilfsorganisationen versuchen, in dieser ausgebluteten Region Schulen zu bauen und Lehrer auszubilden. Besondere Lehrer, Pädagogen, die sich Tausender ehemaliger Kindersoldaten annehmen. Die Olympischen Spiele von Turalei im Südsudan sind Teil des Rehabilitationsprogrammes. Aber sobald die Kinder heimkehren in ihre Dörfer, kommen auch ihre Ängste zurück. Vor den Antonow-Flugzeugen und ihren Bomben. Vor den Reiterhorden. Vor den Kinderfängern.

„Wenn ich morgens aus meinen Albträumen erwache und aus dem Fenster schaue, fühle ich mich erlöst“, erzählt China Keitetsi, die ehemalige Kindersoldatin aus Uganda. „Da draußen ist es grün, du bist in Dänemark.“ In Kopenhagen, wo sie als Kindergärtnerin arbeitet, hat sie gelernt, mit ihren Traumata zu leben. „Denn sie gehen nie weg. Mein Körper ist hier, aber oft reist die Seele zurück nach Uganda. Dann sehe ich, wie die gefangenen Kinder vor uns knien. Ich sehe ihre Augen, immer wieder ihre Augen.“

Die Arbeit mit Kindersoldaten gehört zu den schwierigsten und undankbarsten Aufgaben, die ein Entwicklungsexperte heutzutage übernehmen kann. „Ohne die Rekonstruktion des Sozialen kann ihre soziale Reintegration nicht gelingen“, sagt Thomas Gebauer von der Hilfsorganisation medico international. Übersetzt bedeutet das: Man kann die zerstörten Seelen nicht einfach wegsperren und warten, bis die Konflikte, die ihre Misere verursacht haben, gelöst sind. Die Kinder werden in den Mahlstrom des Krieges zurückgerissen, sobald sie den Schutzraum der Rehabilitation verlassen.

Eine verlorene Generation, die nie eine Schule besucht hat

Im Südsudan läuft seit 1991 ein Unicef-Programm zur Demobilisierung von Kindersoldaten. In manchen Monaten strömen bis zu tausend erschöpfte Gestalten in die Auffanglager. „An eine psychologische Einzelbetreuung ist natürlich nicht zu denken“, klagt Ben Parker, ein Koordinator des UN-Kinderhelfswerks. Es fehle an Fachkräften und auch an Geld, vom zuletzt beantragten Zuschuss in Höhe von 2,3 Millionen Dollar sei nur die Hälfte bewilligt worden. „Wir müssen uns darauf konzentrieren, den traumatisierten Kindern wieder elementare Lebenstechniken beizubringen. Ihr einziges Handwerkszeug war das Gewehr. Sie gehören zu einer verlorenen Generation, die nie eine Schule besucht hat.“

Die wenigen Psychologen gehen manchmal hinaus in die Dörfer, um eine Art Gruppentherapie zu versuchen. „Aber auch das ist schwer, denn viele Gemeinden sind auseinander gefallen“, berichtet Parker. Es kann auch passieren, dass die Helfer ein Kind mühsam resozialisiert haben, es dann aber plötzlich verschwindet, zurück in die Maschinerie des Krieges.

Martin Areic war ein überzeugter Kindersoldat, seine Vergangenheit bereitet ihm deshalb keine Seelenqualen. „Ich bereue es nicht, Menschen getötet zu haben“, erklärt der 16-Jährige. „Ich habe es getan, um zu verhindern, dass uns die Nordsudanesen ermorden. Ich habe es für die nächste Generation getan.“

Aber jetzt hat er keine Zeit mehr, um über sein Schicksal als Kindersoldat zu reden. Er ist der Kapitän seines Fußballteams aus dem Dörfchen Aweng und wird gleich den Anstoß zum Endspiel beim Olympischen Turnier machen. Es geht um Gold oder Silber. Das Motto: Ehre statt Gewehre.

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