Sonntag, 11. Januar 2009

Inner-israelische Diskussion über Doppelmoral

'Die Zeit der Rechtschaffenen'
von Gideon Levy


Dieser Krieg offenbart, vielleicht mehr als seine Vorgänger, die wirklich tiefen Venen der israelischen Gesellschaft. Rassismus und Hass erheben ihre Häupter, so wie der Impuls nach Rache und der Durst nach Blut. Die "Neigung des Kommandeurs" in der israelischen Armee (IDF) ist es jetzt "soviele wie möglich zu töten" wie die Militärberichterstatter im Fernsehen es beschreiben. Und selbst wenn sich das auf Hamas-Kämpfer bezieht, ist diese Neigung immer noch abschreckend.

Die ungezügelte Aggression und Brutalität werden gerechtfertigt als das "Ausüben von Vorsicht": die furchterregende Balance des Blutes - ungefähr 100 tote Palästinenser für jeden getöteten Israeli - lässt keinerlei Fragen aufkommen, als ob wir uns entschieden hätten dass ihr Blut ein hundert mal weniger wert ist als unseres, als eine Bestätigung des uns innewohnenden Rassisnus.

Rechte, Nationalisten, Chauvinisten und Militaristen sind der einzig legitime 'gute Ton' in der Stadt. Belästige uns nicht mit Menschlichkeit und Mitleid. Nur an den Rändern des Camps kann eine Stimme des Protestes vernommen werden - illegitim, vom Scherbengericht ausgeschlossen und ignoriert von der Berichterstattung der Medien - von einer kleinen aber tapferen Gruppe von Juden und Arabern.

Neben all dem ertönt eine andere Stimme, vielleicht die schlimmste von allen. Dies ist die Stimme der Gerechten und Heuchler. Mein Kollege, Ari Shavit, scheint ihr redegewandter Sprecher zu sein. Diese Woche schrieb Shavit hier ("Israel muss seine medizinische Hilfe für Gaza verdoppeln, verdreifachen, vervierfachen", Haaretz vom 7. Januar): "Die israelische Offensive in Gaza ist gerechtfertigt ... Nur eine unmittelbare und großzügige humanitäre Initiative wird beweisen, dass wir uns sogar während der brutalen Kriegführung, die uns aufgezwungen wurde, daran erinnern, dass dort menschliche Wesen auf der anderen Seite sind."

Für Shavit, der die Gerechtheit dieses Krieges verteidigte und darauf bestand, dass er nicht verloren werden darf, ist der Preis immateriell; so wie die Tatsache, dass es keine Siege in solchen ungerechten Kriegen gibt. Und er wagt, im gleichen Atemzug, "Menschlichkeit" zu predigen.

Wünscht sich Shavit für uns zu töten und zu töten und dann Feldlazarette aufzubauen und Arzneimittel zu schicken, um die Verwundeten zu pflegen? Er weiß, dass ein Krieg gegen eine hilflose Bevölkerung, vielleicht die hilfloseste auf der ganzen Welt, nur grausam und widerwärtig sein kann. Aber diese Leute wollen immer herauskommen und dabei auch noch gut aussehen. Wir werden Bomben auf Wohngebäude werfen und dann werden wir die Verwundeten im Ichilov [Krankenhaus in Tel Aviv; Anmerkung des Übersetzers] behandeln; wir werden dürftige Fluchtplätze in UN-Schulen mit Granaten beschießen und dann werden wir die Behinderten in Beit Lewinstein [Reha-Klinik in der Nähe von Tel Aviv; A. d. Ü.] rehabilitieren. Wir werden schießen und dann werden wir weinen, wir werden töten und dann werden wir Tauerklagen ausstoßen, wir werden Frauen und Kinder niedermähen wie automatische Tötungs-Maschinen und wir werden auch unsere Würde bewahren.

Das Problem ist - so funktioniert es einfach nicht. Das ist haarsträubende Heuchelei und Selbst-Rechtfertigung. Diejenigen, die Brandrufe für mehr und noch mehr Gewalt loslassen ohne die Konsequenzen zu bedenken sind wenigstens ehrlicher dabei.

Man kann nicht beides gleichzeitig haben. Die einzige "Reinheit" in diesem Krieg ist die "Reinigung von Terroristen", was in Wirklichkeit bedeutet, schreckliche Tragödien zu säen. Was in Gaza passiert ist keine Naturkatastrophe, ein Erdbeben oder eine Überschwemmung, bei der es unsere Pflicht wäre und unser Recht den Betroffenen eine helfende Hand entgegenzustrecken und Rettungstrupps loszuschicken, so wie wir es so lieben. Zu allem Unglück sind all diese Disaster, die jetzt in Gaza geschehen sind von Menschen gemacht - von uns. Hilfe kann man nicht mit blutbefleckten Händen anbieten. Mitleid kann nicht aus Brutalität heraus erwachsen.

Aber es gibt immer noch welche, die beides wollen. Töten und unterschiedslos zerstören und auch gut dabei aussehend davonkommen, mit einem reinen Gewissen. Weiterzumachen mit Kriegsverbrechen ohne einen Sinn für die schwere Schuld zu haben, die sie begleiten sollte. Das braucht schon Nerven. Jeder, der diesen Krieg rechtfertigt, rechtfertigt auch alle seine Verbrechen. Jeder, der für diesen Krieg predigt und an die Gerechtigkeit des Massentötens glaubt, die er mit sich bringt, hat kein Recht irgendetwas über Moralität und Menschlichkeit zu äußern. Es gibt so etwas nicht wie gleichzeitiges Töten und Nähren. Diese Haltung ist eine genaue Repräsentation des grundlegenden, zweifältigen israelischen Befindlichkeit, die uns schon immer begleitet: Irgendeine Schlechtigkeit zu begehen, aber sich in unseren eigenen Augen als rein zu empfinden. Zu töten, zu beschädigen, auszuhungern, einzusperren und zu verletzen - und dabei im Recht zu sein wenn nicht sogar rechtschaffen. Die rechtschaffenen Kriegstreiber werden nicht in der Lage sein, sich diesen Luxus zu erlauben.

Jeder, der diesen Krieg rechtfertigt, rechtfertigt auch alle seine Verbrechen. Jeder, der ihn als einen Verteidigungskrieg betrachtet, muss die moralische Verantwortung für seine Konsequenzen tragen. Jeder, der jetzt die Politiker und die Armee ermutigt weiterzumachen, wird auch das Kainsmal tragen müssen, das nach dem Krieg auf seiner Stirn eingebrannt sein wird. Alle die den Krieg unterstützen, unterstützen auch den Schrecken/den Horror.

Aus: Haaretz (linke israelische Tageszeitung) Online-Ausgabe vom 09.01.09
Übersetzung aus dem Englischen

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen