Sonntag, 18. Januar 2009

Die politischen Folgen des Gaza-Massakers

Leila Farsakh
Israels Regierungsspitze hat vor wenigen Stunden nach dreiwöchigem Gemetzel - in bester Bush-Manier - eine unilaterale Waffenruhe im Gaza-Streifen verkündet, will aber "vorerst" weder eine Verhandlungslösung noch seine Besatzungstruppen aus Gaza abziehen. Damit stellt sich mehr denn je die Frage nach den politischen Konsequenzen dieses Blutbades und dieser Zerstörungsorgie der so genannten „Israel Defense Force“ (IDF). Die linke palästinensische Politologin Leila Farsakh (41) versuchte sie in einem Interview für „il manifesto“ vom 11.1.2009 zu beantworten.

Nach dreiwöchigem Gemetzel hat Israels Ministerpräsident Ehud Olmert nach einer Kabinettssitzung am Samstagabend ab Sonntag, den 18.Januar 2009 um 1 Uhr Mitteleuropäischer Zeit eine einseitige Feuerpause angekündigt, verweigert aber eine Verhandlungslösung und will die eroberten Teile des Gaza-Streifens „vorerst“ weiter besetzt halten. (ARD-„Tagesschau“ 17.1.09, 22:24 Uhr). Ein Hamas-Sprecher lehnte am Samstagabend in einer im palästinensischen Fernsehen übertragenen Ansprache eine solche am Unilateralismus von George W. Bush & Co. orientierte Vorgehensweise scharf ab. Hamas werde nicht die Präsenz eines einzigen israelischen Soldaten im Gazastreifen tolerieren und den bewaffneten Kampf bis zu ihrem Abzug und einem Ende der seit eineinhalb Jahren betriebenen Abriegelung fortsetzen („NZZ“ 17.1.2009).

Zuvor hatte sich die Kolonialmacht noch ein makabres Abschlussfeuerwerk gegönnt, dem allein Gaza 13 Menschen zum Opfer fielen. Viele der Toten waren durch die eingesetzten Phosphorbomben so stark verkohlt, dass sie nicht mehr identifiziert werden konnten. Dabei wurde von der israelischen Luftwaffe auch erneut eine UN-Schule (diesmal in Lahiya) direkt angegriffen und mehrfach getroffen. In sie hatten sich 1.600 Zivilisten geflüchtet. Zwei von ihnen wurden getötet, 14 weitere verletzt, wie UNRWA-Sprecher Christopher Gunness berichtete. Insgesamt brachte das zionistische Militär bislang 1.205 Palästinenser um. 410 davon waren Kinder, 108 Frauen und 113 alte Leute. („Ma’an News Agency“ 17.1.2009, 10:41 Uhr)

Die Große Koalition in Tel Aviv und die Masse der Israelis stört das bislang wenig. Der alles andere als radikale ägyptische Außenminister Ahmad Aboul Gheit dürfte den Nagel auf den Kopf getroffen haben als er am Samstag resigniert feststellte: „Israel ist trunken von Macht und Gewalt.“ („La Stampa“ 17.1.2009, 22:50 Uhr) Die jetzige einseitige Feuereinstellung ist denn auch weniger auf plötzliche Skrupel oder Friedensneigungen zurückzuführen und ebenso wenig auf das Erreichen der selbst gesteckten Ziele (Beendigung des Raketenbeschusses, Zerschlagung der Hamas bzw. des gesamten palästinensischen Widerstandes etc.), sondern schlicht und einfach dem Druck aus Washington geschuldet. Dort möchte der neue US-Präsident Barack Obama bei seinem Amtsantritt am 20.Januar nicht mit einem laufenden Gemetzel seines wichtigsten Verbündeten mit Mittleren Osten konfrontiert werden, um sein Image als Mann des „Change“ noch ein bisschen bewahren und kapitalisieren zu können.


Die Politologin: „Der Gaza-Streifen geht an Ägypten, aber für Abu Mazen wird das ein Todesstoß“
Michelangelo Cocco
Während die Offensive gegen Gaza sich dem zu nähern scheint, was die israelischen Militärbefehlshaber als die „Phase 3“ bezeichnen, das heißt neue militärische Operationen und die Invasion von Bodentruppen, die den Bombardements folgen werden, bleiben viele Fragen zu den Auswirkungen, die „Gegossenes Blei“ auf dem Schlachtfeld und in der Politik haben wird. Darüber diskutierten wir mit der Dozentin für Politische Wissenschaft an der Universität von Boston, Leila Farsakh. Als Palästinenserin mit amerikanischer Staatsbürgerschaft ist Farsakh in diesen Tagen in Ramallah, wo wir sie per Telefon erreichten.

Wie erklären Sie sich die Tatsache, dass die Palästinenser des Westjordanlandes trotz der von den Satelliten-TVs immer wieder gesendeten Bildern von den Massakern in Gaza nicht gegen den Besatzer rebellieren?
„Das ist ein Umstand, der auch mich betroffen macht, aber es gibt verschiedene Gründe dafür, die ich Ihnen erläutere: Zuallererst einmal unterbindet die Palästinensische Autonomiebehörde von Abu Mazen ((d.h. Mahmud Abbas)) die Demonstrationen. Gestern (am Freitag, den 9.Januar; Anm.d.Red.) gab es hier in Ramallah eine, an der circa 3.000 Menschen teilgenommen haben. Dem Demonstrationszug folgten mehrere hundert bis an die Zähne bewaffnete Beamte aller vier Abteilungen der Sicherheitsdienste der Autonomiebehörde. Sobald einer der Demonstranten die Hamas hochleben ließ, wurde er niedergeknüppelt und kam es zu Polizeieinsätzen. Sagen wir es ganz deutlich: Was die Repressionsapparate anbelangt, ähnelt die Autonomiebehörde inzwischen sehr den arabischen Regimes. Nach Arafats Tod hat die Behörde ihre Funktion geändert und die Aufgabe übernommen, die Ordnung aufrechtzuerhalten und zu versuchen den palästinensischen Staat, der ihr versprochen wurde, gerade über die soziale Kontrolle zu erreichen. Es gibt aber auch noch einen anderen Grund, warum keine ((spontanen)) Proteste ausbrechen: Im Augenblick hat die Hamas kein Interesse daran, im Westjordanland eine Revolte auszulösen, weil sie keinen Bürgerkrieg will, weil sie sich ganz auf Gaza konzentriert hat und weil sie in der West Bank in den letzten Monaten durch Verhaftungen Hunderter ihrer Aktivisten, Funktionäre und Bürgermeister durch die Besatzungstruppen geschwächt wurde. Außerdem hat die Linke, die durchaus für den Widerstand gegen die Besatzung eintritt, kein politisches Projekt entwickelt, das in der Lage wäre, die Wut der Leute zu kanalisieren.“

Was ist das Ziel der israelischen Offensive?
„Das erste – sehr schwer zu erreichende – Ziel ist die Vernichtung der Hamas. Eine so hohe Zahl an Opfern erklärt sich auch durch den Versuch die Leute zur Rebellion gegen die Regierung der Islamisten aufzustacheln. So wie 1982 im Libanon als die Libanesen nach 80tägiger Belagerung die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) aufforderten, das Zedernland zu verlassen. Der Regimewechsel ist ein sehr schwer zu erreichendes Ziel, auch weil ich nicht glaube, dass die Autonomiebehörde jemals den Mut hätte, sofort nach dem Rückzug der israelischen Panzer wieder nach Gaza zurückzukehren. Das andere Ziel ist, die Islamisten stark zu schwächen.“

Warum besitzt für die Hamas der Grenzübergang von Rafah, zwischen Gaza und Ägypten, einen so hohen Stellenwert?
„Vor allem weil die Kontrolle der palästinensischen Seite der Grenze zu Ägypten für sie eine Form der internationalen politischen Anerkennung repräsentiert. Bevor sie – als Antwort auf die israelische Belagerung – vor sechs Monaten den Raketenbeschuss wieder aufnahmen, hatten die Islamisten (den Israelis und den anderen Palästinensern) demonstriert, dass sie in der Lage sind diesen Grenzübergang und ganz allgemein den Gaza-Streifen zu kontrollieren. Nachdem die Israelis im vergangenen Jahr die Waffenruhe durch Luftangriffe auf Rafah brachen, wurden wieder Kassam-Raketen auf Israel abgefeuert. Nun möchten Israel und Abu Mazen der Autonomiebehörde die Kontrolle des Grenzübergangs übertragen, während die Hamas dies für sich reklamiert. Ägypten, das die Grenze bis vor kurzem zusammen mit der Hamas bewachte, ist jetzt an einer Schwächung der Hamas interessiert – ein Ziel, dass sich mit dem israelischen ‚Minimalziel’ deckt.“

Welche Auswirkungen wird eine so blutige Offensive auf das Verhältnis zwischen Hamas und Fatah haben?
„Der Angriff, der mit dem Ziel begonnen wurde die Hamas zu schwächen und eventuell zu eliminieren, wird tief greifende Auswirkungen haben. Die Hamas zeigt, dass sie ihm widerstehen kann. Das könnte zwei Folgen haben, die beide von großer Tragweite sind. Zunächst einmal denke ich, dass eine Lösung gefunden wird, die es Ägypten (wahrscheinlich zusammen mit der Hamas) gestattet, bei der Kontrolle des Gaza-Streifens eine besondere Rolle zu spielen. Der wahre Verlierer in dieser Angelegenheit ist allerdings die Fatah, weil sie von einem Großteil der Bevölkerung mittlerweile als die Partei betrachtet wird, die angesichts der Bomben auf Gaza die palästinensische Sache verraten hat. Somit könnte es – parallel zur Rückkehr Ägyptens nach Gaza – zu einem Zusammenbruch der Autonomiebehörde kommen, was dazu führen würde, dass das Westjordanland wieder in den Einflussbereich Jordaniens gerät.“

Das ist alles andere als ein gemeinsamer Staat. Bewegt man sich auf eine „Drei-Staaten-Lösung“ mit Israel, einem ägyptischen Gaza und einer jordanischen West Bank zu?
„Gaza und das Westjordanland können wir nicht als Staaten bezeichnen. Gaza wird niemals einer werden und Cisjordanien wird, während weiterer jahrelanger sinnloser Verhandlungen, der öffentlichen Meinung als Staat ‚verkauft’ werden. Der einzige Weg, um dieses Unglück zu verhindern, ist eine Neugründung der PLO unter Einbeziehung der Hamas und mit einem stärkeren Gewicht der Linken.“

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