Missbrauch in der katholischen Kirche
Von Barbara Hans, Münster
Münster - Das Lieblingswort der Offiziellen der katholischen Kirche ist derzeit "Transparenz". Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz forderte eine "lückenlose und absolut transparente Aufklärung" der Missbrauchsfälle, der Hamburger Weihbischof Hans-Jochen Jaschke gelobte "Transparenz" via Fernsehen und auch im westfälischen Münster wurde die Vokabel nun bemüht.
"Das, was wir an Transparenz herstellen können, werden wir versuchen", sagte Peter Frings, Vorsitzender des Vinzenzwerks Handorf e.V., einem der Caritas im Bistum Münster angeschlossenes Kinderheim. Das Vinzenzwerk hatte zu einer Pressekonferenz eingeladen. Man wollte sich äußern zu den Vorwürfen, die ein Betroffener im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE erstmals öffentlich erhoben hatte.
Demnach wurden in dem Heim in den fünfziger und sechziger Jahren Kinder zu Opfern. Eckhard O.* berichtete von Schlägen, Demütigungen, körperlichen Misshandlungen und sexuellem Missbrauch durch Geistliche und Mitarbeiter der Kirche.
Jahrzehntelang hatte O. aus Angst und Scham geschwiegen, das Erlebte hatte er verdrängt. Heute ist er ein kranker Mann, hat Narben auf Körper und Seele. Die physischen Narben rühren von dem Schlägen der Nonnen - die psychischen von Jahren der Erniedrigung, die ihn zurückließen mit dem Gefühl: "Ich bin nichts wert."
Nun, da er weiß, dass er nicht mehr lange leben wird, hat er sein Schweigen gebrochen. In der Folge hat sich auch ein weiteres Opfer, Peter J.*, bei SPIEGEL ONLINE gemeldet.
J. berichtet ebenfalls von körperlichen Misshandlungen und Missbrauch im Vinzenzwerk - bis mindestens Mitte der siebziger Jahre. Zu jener Zeit soll sich ebenfalls ein Geistlicher an den Kindern vergangen haben. Auch demütigende Rituale mussten die Kinder über sich ergehen lassen: Wer beispielsweise ins Bett gemacht hatte, wurde vor den anderen bloßgestellt.
Im Rahmen einer Pressekonferenz wollten sich die Verantwortlichen nun zu den Anschuldigungen äußern. Allein: Wer ist für die Vorfälle verantwortlich?
Die Verantwortung geht im Geflecht aus Zuständigkeiten verloren
Von den Nonnen des Ordens "Schwestern unserer lieben Frau", die das Vinzenzwerk in den fünfziger und sechziger Jahren leiteten, leben nur noch wenige.
Die heutige Leiterin der Einrichtung, Schwester Mechtild Knüwer, ist erst seit wenigen Jahren in Münster-Handorf. Der pädagogische Leiter ist ohnehin kein Kirchenmann, der Vorsitzende des Trägervereins ist Justiziar bei der Caritas, ein Mann um die 50. Gewiss, auch er war nicht für den Missbrauch im Heim verantwortlich.
Die Frage nach der Verantwortung scheint spürbar über der Runde in dem kleinen Raum zu liegen, wo die Pressekonferenz stattfindet. Das Gebäude des Vinzenswerks mit seinen Türmchen und Erkern ist imposant, das Stadtzentrum viele Kilometer entfernt. Münster gleicht hier einer ländlichen Kleinstadt mit Wiesen, Weiden, schmucken Einfamilienhäusern. "Die Beweisführung ist schwierig, weil die Taten rund 50 Jahre zurückliegen", sagt Vereinsvorsitzender Frings. Und sie ist schwierig, weil die Verantwortlichkeit irgendwo zwischen früherer Heimleitung, Orden, Bistum und Caritas versumpft.
Im Vinzenzwerk ringt man um Zuständigkeiten. "Die Geistlichen, die in Verdacht stehen, die Kinder sexuell missbraucht zu haben, waren nicht beim Vinzenzwerk angestellt", sagte Schwester Mechtild SPIEGEL ONLINE. Es waren Priesteramtsanwärter, die sich "ehrenamtlich" und "in ihrer Freizeit" um die Jungen kümmerten.
Verzweifelt versucht man dieser Tage, die Vergangenheit möglichst alt aussehen zu lassen. Vorfälle in den fünfziger Jahren? Die liegen immerhin ein halbes Jahrhundert zurück. Viele Zeitzeugen sind verstorben, Akten vernichtet, das Erinnern fällt schwer.
Es war eine "andere Zeit", hört man oft, nicht einmal die Opfer selbst, heißt es, könnten das bestreiten.
Schwester Adelgert Daubert ist zur Pressekonferenz erschienen, eine kleine, schmale Frau mit einem freundlichen Gesicht, 82 Jahre ist sie alt. Sie repräsentiert ihre Ordensschwestern, fünf von ihnen leben heute noch auf dem Gelände in Handorf.
"Ich kann mich nur vage erinnern, dass so etwas in der Heimschule vorkam", sagt sie, als sie nach den Misshandlungen gefragt wird. Die Aufklärungsarbeit sei im Interesse der Schwestern, "wir bedauern die Vorfälle sehr". Die Bedingungen zur damaligen Zeit seien "sehr schwierig" gewesen, die Klassen sehr groß.
Die Leitung des Heims hat gewechselt, das Misstrauen bleibt
Die Runde hat die Opfer gebeten, sich direkt bei dem Heim und der jetzigen Leitung zu melden, man will ja "Transparenz" schaffen.
Die Betroffenen sagen, die Konferenz sei für sie ein Treffen ohne Ergebnis gewesen. Die Leitung des Heims mag gewechselt haben - doch das Misstrauen von früher bleibt.
Eckhard O. und Peter J. haben begriffen, dass sie bei ihrem Kampf um Gerechtigkeit nicht unbedingt auf die katholische Kirche bauen können. Man hat sie verunglimpft, verwiesen, vertröstet. In einem Brief der Bischofskonferenz an Eckhard O. heißt es: "Sie können sicher sein, dass sich die katholische Kirche mit aller Kraft für größtmögliche Transparenz bezüglich der Heimerziehung in Deutschland in der Nachkriegszeit einsetzt."
Anders als andere Kinder, die Opfer sexuellen Missbrauchs durch Geistliche wurden, hatten die Kinder in den Heimen keine Familie, an die sie sich hätten wenden können - und die ihnen einen Rückzugsraum und Schutz geboten hätte. Sie wuchsen in der Obhut der katholischen Kirche auf und mussten erleben, wie sie den Verantwortlichen jahrelang ausgeliefert waren. Nicht nur den Tätern, sondern auch denen, die nicht einschritten und die Täter gewähren ließen. Sie machten sich durch ihr Schweigen mitschuldig an dem Leid der Kinder - wenn auch nicht in juristischer, so in moralischer Hinsicht. Noch heute machen sie sich mitschuldig - durch ihr Schweigen.
Im Vinzenzwerk hofft man, eine Einsicht in die Akte Eckhard O.s könne die Aufklärungsarbeit voranbringen. Eine Hoffnung, mehr nicht. Denn die Vermerke wurden, wie Schwester Mechtild betonte, in den seltensten Fällen von den Nonnen selbst geschrieben. Es sind kryptische Notizen. Sie lassen zwar erkennen, dass man das Kind als problematisch ansah - jedoch steht dort nichts von körperlichen Züchtigungen, erst recht nicht von sexuellem Missbrauch.
In Eckhard O.s Akte fand sich lediglich ein Verweis auf seine "blühende Phantasie" - zuvor hatte er versucht, eine Schwester über den Missbrauch durch einen Priesteramtsanwärter, die "Todsünde", wie er es nannte, zu informieren. Die Hoffnung, die Akten würden für "Transparenz" sorgen, ist ein Trugschluss.
Das Schweigen bei den Domspatzen
Zur Aufklärung können einzig die Opfer beitragen. Die Erinnerung hat sich ihnen eingebrannt, sie kennen noch alle Details. Doch sie brauchen einen unabhängigen Ansprechpartner. Der Fall Ettal zeigt, wie groß das Bedürfnis der Opfer nach einem neutralen Vermittler ist. Sonderermittler Thomas Pfister, der an diesem Freitag einen ersten Zwischenbericht vorstellte, ist innerhalb von einer guten Woche von 100 Betroffenen kontaktiert worden.
Auch Peter J. wünscht sich eine unabhängige Kommission, ein offenes Gespräch im Beisein unabhängiger Ermittler. "Es muss einen Rahmen geben, in dem gesagt wird: 'Das ist passiert, das sind die Verantwortlichen.' Die Fakten müssen auf den Tisch. Die Alternative darf nicht sein, dass man zusammen eine Tasse Kaffee trinkt, redet, die Hände schüttelt und das war's dann."
Der Münsteraner Bischof Felix Genn hat sich nach Bekanntwerden der Vorwürfe in einem Brief geäußert. "Das unsägliche Leid, das von kirchlichen Verantwortlichen wehrlosen Kindern zugefügt worden ist, beschämt mich zutiefst. Ich entschuldige mich bei allen Opfern", heißt es darin.
Was den Opfern fehlt, ist ein Eingeständnis von Schuld. Bezogen auf die verantwortlichen in der Kirche heißt das: Um ent-schuldigt zu werden, müsste man zunächst einmal eigene Schuld eingestehen.
Die Kommission des Bistums für entsprechende Fälle kündigte am Freitag an, den von Eckhard O. erhobenen Vorwürfen nachgehen zu wollen. Möglicherweise werde der beschuldigte Geistliche vorgeladen, sagte Kommissionsmitglied Gudrun Schramm-Arntzen.
Die Betroffenen haben das Gefühl, dass die Kirche mauert - allen Transparenzbekundungen zum Trotz. "Mich erschüttert die Kultur des Schweigens", sagt der Vater eines Jungen SPIEGEL ONLINE, der das Musikgymnasium der Regensburger Domspatzen besucht. Auch hier sollen in den fünfziger und sechziger Jahren Jungen sexuell missbraucht worden sein.
Die Reaktion auch dort: Schweigen. Bislang habe man am Gymnasium nicht mit den Schülern gesprochen und ihnen gar gedroht, man würde sie der Schule verweisen, wenn sie mit Journalisten sprächen. Die Lehrer sagten den Kindern, sie dürften nichts über die Anschuldigungen sagen. "Es gibt keinen Umgang mit dem Thema. Die Sache wird bislang einfach totgeschwiegen. Dabei kriegen die Kinder ohnehin mit, dass es nicht alles so katholisch ist, wie man tut."
*Die Klarnamen sind der Redaktion bekannt.
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