Wer Belege für die Grenzen der US-Demokratie sucht, sollte sich die Gesundheitsreform im Detail anschauen. Sie enthüllt, was politische Entscheidungsfindungen in Washington ausmacht
Wer Belege für die Grenzen der US-Demokratie sucht, sollte sich die Gesundheitsreform im Detail anschauen. Sie enthüllt, was politische Entscheidungsfindungen in Washington ausmacht: von Lobbys und ihrem Geld und über das schier unendliche Palavern und andere Verfahrenstricks, um den Senat zu lähmen, über die politische Meinungsbildung per Telefon und Meinungsumfrage.
Die Gegner der Gesundheitsreform hatten Argumentationsvorlagen entwickelt, mit denen Aktivisten telefonisch "Druck" auf etwaige Befürworter der Reform ausüben sollten. Ganz oben auf diesen Listen steht der Staat, der sich ungerechtfertigt in die Privatsphäre seiner Bürger einmischt, die "Kostenexplosion" und die angeblichen "Gefahren für das ungeborene Leben" durch das Gesetz. Alle Argumentationslisten enthalten auch die Drohung mit einer Bestrafung mit dem Stimmzettel bei den bevorstehenden Kongresswahlen im November.
Umgekehrt haben sich auch "Telefonaktivisten" auf der Seite der Befürworter zu gemeinsamen Telefonaktionen getroffen. Viele Parlamentarier vergrößerten ihre Büros kurzfristig mit Praktikanten, um die täglich hunderte von Telefonanrufen entgegenzunehmen.
Lähmend wirkt das "Filibustern". Dabei versuchen Senatoren mit in die Länge gezogenen Redebeiträgen jede Entscheidungsfindung zu verhindern. Ein "Filibustern" ist selbst bei klaren Supermehrheiten möglich.
Wenn es jedoch keine Supermehrheit gibt, können nur andere parlamentarische Verfahrenstricks zu einer Mehrheitsfindung verhelfen. In diesem Fall soll das der "Reconciliation-Prozess" erledigen, bei dem die Änderungen im Gesetz nur noch eine einfache Mehrheit im Senat benötigen. Das Verfahren hilft zwar, ein Gesetz durchzubringen. Doch es verschafft ihm nicht dieselbe Legitimität.
Schwer bei der Entscheidungsfindung wiegt das gleiche Stimmengewicht, das kleine und dünn besiedelte Bundesstaaten im Senat haben. Dort wiegen Idaho oder Rhode Island genauso schwer wie die großen Bundesstaaten Kalifornien, Texas oder Pennsylvania. Es kommt hinzu, dass die Hauptstadt der USA nach wie vor kein Stimmrecht im Senat hat.
Über die düstere Rolle der Lobbys ist selten so offen diskutiert worden. Demokratische Abgeordnete warfen den Republikanern vor, sich an die Versicherungsbranche verkauft zu haben. Die Gesundheitsbranche in den USA ist ein hundertprozentiger Profitsektor. Sie ist teurer als in sämtlichen anderen Industrieländern. Bei der Gesundheitsreform gehören auch die privaten Krankenversicherungen zu den Gewinnern. Sie bekommen Millionen von zusätzlichen Kunden, denen der Staat bei der Zahlung ihrer Versicherungsprämien unter die Arme greift. Sie erhalten die Garantie, dass sie "Risikofaktoren" nicht finanzieren müssen: Rentner, Familien und Arme.
Obamas Gegner kündigen Verfassungsklage an
Nach seinem Erfolg im US-Repräsentantenhaus schlägt Präsident Obama leise Töne an. Die Gesundheitsreform sei keineswegs radikal, wie seine Kritiker behaupten. Deren Protest ebbt nicht ab: Mehrere Bundesstaaten kündigten an, eine Verfassungsklage einzureichen.
Von Anna Engelke, NDR-Hörfunkstudio Washington
Präsident Obama trat nach den wahrlich historischen Abstimmungen im Repräsentantenhaus betont zurückhaltend auf und vermied Gesten des Triumphes. Aber einen kleinen Satz gönnte er sich dann doch: "So sieht Veränderung aus", sagte er. Veränderung, auf die Obamas Anhänger im ersten Jahr seiner Präsidentschaft so sehnsüchtig warteten. Für viele Amerikaner wird sich jetzt in der Tat einiges verändern.
Als allererstes werden das die Menschen spüren, die wegen Vorerkrankungen derzeit keine Krankenkasse finden, die sie aufnimmt. Für sie stellt die Regierung in drei Monaten extra Geld bereit.
Innerhalb des ersten halben Jahres nach Inkrafttreten der Reform dürfen dann Krankenkassen Menschen mit Vorerkrankungen nicht mehr ablehnen. Die Kassen dürfen Kunden nicht rausschmeißen, weil sie zu viele Kosten verursachten, und Eltern können ihre Kinder bis zum Alter von 26 Jahren mitversichern.
Hintergrund:
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Weitreichende Veränderungen erst ab 2014
Die großen Veränderungen kommen allerdings erst in vier Jahren: Dann bekommen Familien mit geringen Einkommen für ihre Krankenkasse Unterstützung vom Staat und dann erst setzt die Versicherungspflicht für Amerikaner ein: "Das ist also keine radikale Reform, aber es ist eine grundlegende Reform", sagte Obama. Mit diesem Satz versuchte er sich gegen die Vorwürfe der Republikaner zu stemmen, er peitsche gerade eine linksradikale, eine quasi sozialistische Gesundheitsreform durch den US-Kongress.
"Außerhalb Washingtons sind die Menschen wütend"
"Das ist eine massive Übernahme des amerikanischen Gesundheitssystems durch den Staat", kritisierte Senator John McCain, Obamas Konkurrent im vergangenen Präsidentschaftswahlkampf. Der Republikaner McCain ist überzeugt, dass seine Partei die Mehrheitsmeinung der US-Bürger vertritt: "Innerhalb Washingtons mag es diese ganze Euphorie geben, mit Champagner anstoßen und so weiter. Aber außerhalb Washington sind die Menschen sehr wütend, sie mögen die Reform nicht, und wir werden versuchen, sie zurückzudrehen."
Genauso wie die Republikaner im Repräsentantenhaus geschlossen gegen die Gesundheitsreform stimmten, so blasen sie jetzt geschlossen zur Jagd auf die Reform. Bis zu den Zwischenwahlen im November, wenn ein Drittel des Senats und das komplette Abgeordnetenhaus neu gewählt wird, wollen sie Obamas Reform zum entscheidenden Wahlkampfthema machen.
"Im November kommt es zum Zusammenprall der Titanen"
David Gergen, Berater der Präsidenten Nixon, Ford, Reagan und Clinton stellt sich auf weiteren erbitterten Streit zwischen Republikanern und Demokraten ein: "Dieser Kampf ist inzwischen so tief verwurzelt in unserer Politik und wird auch nicht so schnell verschwinden. Aber jetzt kann der Präsident seine Demokraten mobilisieren, die ohne diesen Sieg demoralisiert gewesen wären. Deswegen werden wir in diesem November einen ziemlichen Zusammenprall der Titanen sehen", prognostiziert er.
Das Obama-Rezept
Obama ist in die Reihe jener US-Präsidenten gerückt, die Historisches verändert haben. Bei der Gesundheitsreform taktierte er klug und bewies politischen Mut.
Vor wenigen Tagen noch sah es so aus, als wäre Barack Obama am Ende seines ersten Amtsjahres an die Grenzen seiner Möglichkeiten gelangt. Der Präsdent des "Yes we can!", dessen Wahl einen seit Jahrzehnten nicht mehr dagewesenen euphorischen Ruck sowie gigantische Erwartungen ausgelöst hatte, schien in einer schier unauflöslichen Blockade zu stecken. Innenpolitisch wie außenpolitisch.
Die Abstimmung über die Gesundheitsreform hat diese Dynamik gebrochen. Auf einen Schlag ist Obama in die Reihe jener US-Präsidenten gerückt, die Historisches verändert haben. Die Gesundheitsreform ist ein Kompromiss. Doch vor allem ist sie der größte soziale Fortschritt, den die USA seit vier Jahrzehnten wagen. Im reichsten Land der Erde war die Ausgrenzung von inzwischen mehr als 50 Millionen Menschen aus jeder Art von Krankenversicherung seit langem ein Skandal. Doch alle bisherigen US-Präsidenten sind daran gescheitert. Zuletzt hat Bill Clinton im Jahr 1994 vergeblich eine Reform versucht. Obama ist der Mann, der es geschafft hat.
Der Weg bis zur Abstimmung im Repräsentantenhaus war laut und voller Aggressionen. Innerhalb und außerhalb des Kongresses kämpfte die Opposition mit allen Mitteln gegen die Gesundheitsreform. In der Auseinandersetzung kam es zu extremen Mitteln, wie die US-Öffentlichkeit sie lange nicht erlebt hat. Bei Demonstrationen, die bis zum letzten Moment vor der Abstimmung andauerten, beschworen die Reformgegner einen Untergang des "freien Amerikas", die Einmischung in das Privatleben der Bürger durch eine - selbstverständlich böse - "große Regierung", die Auslieferung der USA an Sozialismus oder alternativ Faschismus und einen "Freifahrschein für Abtreibungen". Auf Transparenten tauchte der Präsident mit Hitlerbärtchen oder mit dem Namen "Barack Tse-Tung" auf. Die Hasskampagnen gegen den ersten afroamerikanischen Präsidenten übertrafen alles, was seine weißen Amtsvorgänger erlebt haben.
Obama ist auf keine einzige Provokation eingegangen. Selbst auf dem Höhepunkt der Kampagne gegen die Gesundheitsreform, die immer auch eine Kampagne gegen seine Politik, seine Person und seine Vita war, hat er die Ruhe bewahrt. Nachdem der normale parlamentarische Weg Ende Januar - mit einer Nachwahl in Massachusetts und dem Verlust der demokratischen Supermehrheit im Senat - gescheitert war, nahm er die Gesundheitsreform selbst in die Hand. Er machte ihre Durchsetzung zur Chefsache. Und verknüpfte sein politisches Schicksal mit ihrem Gelingen.
Die Methode Obama ist die der hartnäckigen und langen Verhandlung auf vielen verschiedenen Schienen. Taktisch, politisch und moralisch. Nachdem er alle Wege erschöpft hatte, ging er das Wagnis einer Abstimmung ein. Dazu gehörte politischer Mut. Denn die Abstimmung war nicht von vorneherein gewonnen. Und eine Niederlage hätte zugleich das Ende jeder weiteren Reformmöglichkeit der Ära Obama besiegelt.
Auf der taktischen Ebene machte Obama mehrere spektakuläre Schachzüge. Kurz vor Ende des Reformprozesses lud er im Februar die Spitzen beider Parteien zu einem eintägigen Gesundheitsgipfel ein. Nach einem Jahr Debatte legte er dabei - vor laufenden Fernsehkameras - sämtliche Karten auf den Tisch. Und forderte die republikanische Opposition stärker als die eigenen demokratischen Gefolgsleute auf, Vorschläge zu machen, auf die er eingehen wollte. Die Botschaft an die Nation war eindeutig: Ich bin kompromissbereit. Taktisch war auch die Wahl des Abstimmungsverfahrens der "Reconciliation". Dabei kann eine einfache Mehrheit im Senat statt der sonst üblichen "Supermehrheit" eine Reform durchsetzen. Und taktisch waren auch die Vier-Augen-Gespräche, zu denen Obama jene Demokraten empfing, die ursprünglich gegen die Reform waren. Es handelte sich um 40 Mitglieder des Repräsentatenhauses. In den vergangenen Tagen und Stunden vor der Abstimmung schaffte Obama es, zumindest sechs von ihnen auf seine Seite zu ziehen. Dabei machte er politische und finanzielle Zugeständnisse, die weit auseinandergingen.
Parallel dazu - und politisch - konzentrierte Obama seine Kraft in der Endphase vor der Abstimmung im Repräsentantenhaus beinahe vollständig auf die Gesundheitsreform.
Er sprach vor Parlamentariern, reiste in einzelne Bundesstaaten, als wäre er erneut im Wahlkampf. Er trat in Rathäusern und Universitäten auf. Er sprach von "Geschichte", von "Mut", von "sozialer Gerechtigkeit" und von einer moralischen Verpflichtung - für sich und für die Parlamentarier.
Opposition der Tea Party
Das Ergebnis dieses weitgehenden persönlichen Engagements ist keineswegs ein Triumph. Am Sonntagabend votierten auch 34 Demokraten gegen die Reform. Obama ist es nicht gelungen, sie auf seine Seite zu ziehen. Schwer wiegt auch, dass sämtliche Republikaner geschlossen gegen die Reform gestimmt haben.
So viel Parteidisziplin ist in den USA selten. Das ist ein Zeichen, dass die Bipartisanship, das Parteigrenzen überschreitende Vorgehen, das Obama im Wahlkampf und zuletzt auch mit dem "Gesundheitsgipfel" postuliert hat, nicht funktioniert. Die Geschlossenheit der Republikaner bei dieser Abstimmung kündigt an, dass die Fundamentalopposition von Republikanern im Parlament und der Tea Party außerhalb in der zweiten Hälfte von Obamas Amtszeit weitergehen wird.
Obama wird das Gesetz zu der vor Wochen bereits totgeglaubten Gesundheitsreform voraussichtlich schon am Dienstag dieser Woche unterzeichnen. Noch bevor der Senat den Änderungsvorschlägen zugestimmt haben wird. Die Zeit danach wird schwierig werden. Doch dieses Mal weniger für den Präsidenten selbst als für jene Demokraten, die sich von ihm haben überzeugen lassen. Wenn sie in diesen Tagen in ihre Wahlkreise zurückkommen, werden viele schon am Flughafen von Gegendemonstranten empfangen werden. Für sie hat das Weiße Haus bereits detaillierte Argumentationshilfen entwickelt.
Der Präsident selbst hat ebenfalls noch mehrere Auftritte für die Zeit nach der Abstimmung geplant, bei denen er die US-Amerikaner von den Vorteilen der Reform für sie überzeugen will. Doch vor allem wird Obama sich nun in die anderen Reformen stürzen, die allesamt von der Gesundheitsdebatte der letzen Wochen überschattet waren. Allen voran die Arbeitslosigkeit und die Regulierung des Finanzmarkts.
Auch außenpolitisch wird der hart errungene Erfolg in der Gesundheitsreform Folgen haben. Moskau, Jerusalem, Teheran und andere Machtzentren, wo Obama zuletzt als zögerlich und schwach gegolten hat, sind vorgewarnt. Er hat seine Regierungsfähigkeit bewiesen.
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