Freitag, 19. März 2010

Pädophilie: Dämonisiert und verharmlost


Warum kommen aber sexuelle Übergriffe in bestimmten Institutionen so häufig vor?

Warum kommen aber sexuelle Übergriffe in bestimmten Institutionen so häufig vor?

Die vielen Fälle sexuellen Missbrauchs, die in den vergangenen Wochen in Deutschland ans Licht gekommen sind, verlangen nach Aufklärung - auch durch die Wissenschaft. Was ist eigentlich Pädophilie? Was sind ihre Ursachen? Kann man Pädophile therapieren? Sind es nur Pädophile, die Kinder missbrauchen? Gibt es, wie der öffentliche Rummel nahelegt, immer mehr Fälle von Missbrauch? Um mit der Frage nach der Häufung zu beginnen: Nein, im Gegenteil. Neue Erhebungen belegen, dass sexueller Missbrauch und Gewalt gegenüber Kindern stark rückläufig sind. Zudem geht die sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen längst nicht immer nur von pädophilen Tätern aus. Pädophilie mündet ihrerseits nicht zwangsläufig im Kindesmissbrauch.

Der Sexualforscher Michael Seto von der Universität in Toronto nimmt an, dass ungefähr jeder zweite, der Kinder sexuell belästigt oder missbraucht, im medizinischen Sinne pädophil ist. Das ist sicher nur ein Näherungswert, denn schon die Definition von Pädophilie ist mal weiter, mal enger gefasst. Der Missbrauch geschieht beispielsweise durch Entkleiden, Berühren, gegenseitiges Befriedigen, Geschlechtsverkehr oder durch die Herstellung von Kinderpornographie. Von echter oder der so genannten Kernpädophilie spricht man, wenn ein Erwachsener sexuell ausschließlich von Kindern unter zwölf Jahren erregt wird. Als pädophil gilt jedoch auch, wer sich überwiegend Kinder als Sexualpartner wünscht. Kernpädophile sind eine Minderheit unter den Sexualstraftätern, darüber herrscht weitgehend Konsens unter den Sexualwissenschaftlern und forensischen Medizinern. Umgangssprachlich wird auch die erotisch-sexuelle Neigung zu pubertären Jungen, die Ephebophilie, als Pädophilie bezeichnet, was den Kreis der „Pädophilen“ stark vergrößert.

Viele Pädophile waren in ihrer Kindheit selbst Opfer

Es ist nicht klar, woher die sexuelle Fixierung auf Kinder rührt. Die sexuellen Abweichungen der Betroffenen werden vielfach klassifiziert oder psychopathologisch erklärt. Viele Pädophile waren in ihrer Kindheit selbst Opfer von sexuellen Übergriffen. In manchen Untersuchungen berichten mehr als 90 Prozent der Pädophilen von eigenem Missbrauch - bei vergleichbaren Kontrollgruppen, die keine einschlägige sexuelle Störung aufweisen, sind es etwa 15 Prozent. Am häufigsten wurden jene missbraucht, die sich nur durch gleichgeschlechtliche Kinder erregen lassen, also - da es meist Männer sind - Jungen begehren. Auffällig ist, dass sich Pädophile am ehesten an Kindern in jener Alterstufe vergreifen, in der sie selbst erstmals missbraucht wurden.

Manche Fachleute rücken das Verhalten der Pädophilen in die Nähe einer Sucht oder einer Zwangsstörung. Die Neurobiologie der Pädophilie ist bislang nur spärlich erforscht. Die Forschergruppe um Harald Dreßing vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim zählt zu den wenigen, die mittels bildgebender Verfahren die neuronale Aktivität im Gehirn pädophiler Straftäter untersucht haben. Dabei zeigten sich bei Vorlage sexuell unterschiedlich stimulierender Photos - von Frauen und Kindern - nicht nur Unterschiede zu sexuell unauffälligen Kontrollpersonen. Die Mannheimer Forscher vermuten zudem, dass ein physiologischer Mechanismus, der eine sexuelle Stimulierung durch Kinder abschwächt, bei Pädophilen nicht funktioniert, sondern sich sogar ins Gegenteil verkehrt (“European Archive of Psychiatry and Clinical Neuro science“ 2008, Bd. 258 , S. 271).
 
„Das sind erste Annäherungen an biologische Phänomene, die noch mit Vorsicht zu interpretieren sind“, sagt Dreßing. „Die Ergebnisse solcher Untersuchungen gelten zudem nur für eine bestimmte Gruppe unter den Pädophilen: die wegen eines Deliktes inhaftiert wurden, sich im Maßregelvollzug befinden oder eine Therapieauflage haben.“ Doch nur eine Minderheit der Pädophilen wird straffällig. Daher sind Beobachtungen aus der psychiatrisch-psychologischen Arbeit mit Pädophilen nicht repräsentativ - viele begeben sich nicht freiwillig in Therapie. „Und deshalb kann man auch kaum die Häufigkeit pädophiler Veranlagungen in der Bevölkerung abschätzen.“

Erhöhtes Missbrauchsrisiko in Heimen

Warum kommen aber sexuelle Übergriffe in bestimmten Institutionen so häufig vor? „Jedenfalls nicht, weil etwa das katholische Internat oder der Zölibat die Pädophilie hervorbrächte, sondern weil es sich hier um verlockende, abgeschirmte Räume für Personen mit solchen Neigungen handelt, die wie ein Magnet wirken können“, sagt Dreßing. Das belegen nicht nur die Fälle aus den betroffenen Internaten oder die literarischen Zeugnisse aus Kadettenanstalten. Man weiß aus neueren britischen Untersuchungen, dass die Unterbringung von Kindern in Heimen ihr Risiko, misshandelt oder missbraucht zu werden, um das Sechsfache erhöht.

Wenn die Strukturen solcher Institutionen sexuelle Übergriffe begünstigen, dann bedarf es struktureller Schutzmaßnahmen. Dazu zählen die Transparenz der Einrichtung für Außenstehende oder Beschwerdesysteme für die Kinder, wie sie etwa Jörg Fegert fordert, der Leiter der Kinderpsychiatrischen Universitätsklinik in Ulm. Dabei sollte aber nicht übersehen werden, dass der weit überwiegende Teil sexuellen Missbrauchs von Kindern immer noch in Familien und im engen Verwandtenkreis stattfindet.

Kinder sind seelisch leicht zu verletzen. Die individuelle Prävention ist daher schwierig, obwohl die vielen „Kinderstarkmachkurse“ suggerieren, das Neinsagen sei mit Rollenspielen und Verhaltensregeln rasch zu erlernen. David Finkelhor, Direktor des Forschungszentrums „Crimes against Children“ an der University of New Hampshire, gibt deshalb zu bedenken, dass Aufklärung und Schulungen von Kindern zu befürworten seien, dass man damit aber nicht den Schwächsten die Last der Verantwortung aufbürden dürfe (“The Future of Children“, Bd. 19, S. 169). Gerade pädophile Täter verfügen über ein großes Repertoire an Fähigkeiten, alle denkbaren kindlichen Barrieren zu durchbrechen.

Die Scheuklappen des Zeitgeistes bedenken

Sophinette Becker, leitende Psychologin der Sexualmedizinischen Ambulanz der Universität Frankfurt, sagt über ihre Erfahrungen aus der klinischen Arbeit mit Opfern: „Ein Erwachsener kann ein Kind dazu bringen, sich auserwählt zu fühlen, ihm sogar bestimmte Erregungen aufzwingen. Wir kennen Verläufe, in denen für die langjährig missbrauchte Tochter die Welt erst dann zusammenbrach, als der Vater sich der jüngeren Schwester zuwandte.“ In ihrem Beitrag „Pädophilie zwischen Dämonisierung und Verharmlosung“ (“Zeitschrift für Psychoanalyse und Gesellschaftskritik“, Bd. 38, S. 5) macht sie darauf aufmerksam, dass Pädophile selbst glauben, die Wünsche des Kindes würden mit den eigenen übereinstimmen. Das Kind kann sich indes nicht entscheiden.

Beim Reden über Pädophilie, so Becker, müsse man immer auch die Scheuklappen des Zeitgeistes bedenken. Das gilt nicht zuletzt für die in den allermeisten Studien getroffene Feststellung, Pädophilie sei ein Männerdelikt. „Lange Zeit herrschte das Dogma vor, sexuelle Perversionen seien stets etwas Männliches“, sagt Becker. „Seit etwa zehn Jahren nimmt man jedoch zur Kenntnis, dass sexuelle Abweichungen bei Frauen nur anders kanalisiert werden und mit anderen Formen von Aggressivität einhergehen.“

Inzwischen vermutet man, was weibliche Pädophilie angeht, auch deshalb in der Literatur eine Dunkelziffer, weil unter dem Deckmantel der Versorgung etwa das Baden von Kindern stets als unverfänglich gilt. Immerhin thematisierte bereits der Psychiater Richard von Krafft-Ebing Ende des 19. Jahrhunderts in seinen Schriften zum sexuellen Missbrauch von Kindern das Abhängigkeitsverhältnis der Schützlinge von den Kindermädchen. Übergriffe werden dabei längst nicht immer unter dem Begriff Pädophilie eingeordnet, ebenso wie das Verhältnis einer erwachsenen Frau mit einem minderjährigen Jungen eher als Reifeprüfung denn als Missbrauch apostrophiert wird. Es sollte jedoch nicht sakrosankt sein, bei einer weitgehend unkontrollierten Betreuung von Kindern etwa durch Tagesmütter auch solche Aspekte weiblicher Pädophilie kritisch zu reflektieren.

Das Internet erzeugt per se nicht mehr Pädophile

Auch die im Internet verfügbar gemachte Kinderpornographie verlangt nach Untersuchung. „Auch für das Internet gilt, dass es per se nicht mehr Pädophilie erzeugt“, sagt Becker. „Es gibt nach wie vor Pädophile, denen es mit Hilfe der Bilder aus dem Internet gelingt, ihre Devianz in Schach zu halten, so wie das früher durch das Betrachten von Katalogen möglich war.“ Es besteht jedoch auch die Gefahr, dass durch die exzessive Verfügbarkeit der Kranke immer mehr dazu gedrängt wird, seine Wünsche in Handlungen umzusetzen. Prägend wirkt das Internet auch da, wo in immer neuen Bildern präpubertäre Körper idealisiert werden. So melden sich immer mehr Kinder, die sich selbst als transsexuell empfinden und nach Medikamenten verlangen, die die Entwicklung sexueller Reifezeichen unterdrücken sollen. „Zwölfjährige Jungen rufen in der Sprechstunde an und bitten darum, sie von ihrer Testosteronvergiftung zu befreien“, sagt Becker. Dass dies mitunter bereits nach kurzer Begutachtung gewährt wird, hält die Psychologin für bedenklich. Der präpubertäre Körper spielt offenbar nicht nur in der Phantasie des Pädophilen eine Rolle.

Text: F.A.Z.

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