Immer neue Missbrauchsfälle an Schulen verstören Schüler, Eltern und Lehrer. Es gibt zwar Vertrauenslehrer, doch kaum ein Schüler würde sich ihnen anvertrauen. Warum? Vier Jugendliche berichten von dem schwierigen Verhältnis zu Pädagogen.
Schweigen über Missbrauchsfälle, ignorierte Verdachtsmomente - das Tabuthema Missbrauch ist in Deutschland keines mehr. Dutzende Opfer meldeten sich in den vergangenen Wochen zu Wort, fast täglich werden neue Fälle aufgedeckt. Oft trauen sich ehemalige Schüler erst Jahrzehnte nach dem erlittenen Missbrauch, ihr Leiden zu schildern.
Doch auch wenn es nicht bei jedem Problem, das Schüler haben, um einen sexuellen Angriff wie an der hessischen Odenwaldschule oder an katholischen Klosterinternaten gehen muss: Schülern fällt es schwer, über Konflikte und Sorgen zu reden. An wen sich wenden? Wer kann mir wirklich helfen? Wer glaubt mir überhaupt?
Zwar gibt es an fast jeder Schule Vertrauenslehrer, doch sie werden ungern kontaktiert. "Ich glaube, dass sich viele Lehrer mehr Kontakt zu Schülern wünschen", sagt der 17-jährige Schüler Rick, "doch die wenigsten schaffen es, gemocht zu werden. Als Schüler meidet man doch den Kontakt zu Lehrern".
Warum das Verhältnis zwischen Schülern und Pädagogen so schwierig ist und die wenigsten Jugendlichen sich ihren Vertrauenslehrern öffnen möchten, erklären fünf Schüler auf SPIEGEL ONLINE.
Rick, 17: Lieber frage ich Google
"Ich vertraue vor allem dem Internet. Es verschafft mir Überblick und eine gute Ausgangsbasis, um Probleme anzugehen. Ich sitze viel am Computer, und wenn mal etwas nicht stimmt, dann google ich erst einmal. Mit Lehrern habe ich noch nie über Probleme geredet. Unserem Vertrauenslehrer bin ich nur einmal begegnet, als ich ihn für einen lokalen Fernsehsender interviewt habe. Als Schüler meidet man doch meist den Kontakt zu Lehrern - schließlich sind sie Autoritätspersonen. Wenn ich etwa sehen würde, wie der Sportlehrer einem Mädchen merkwürdige Hilfestellungen beim Turnen gibt, würde ich eher mit meinen Freunden darüber reden.
Generell vertraue ich Lehrern wenig. Das ist zwar schade, aber zu oft fühlt man sich als Schüler unfair bewertet. Man kennt sich nur aus dem Unterricht, und dort herrscht eine einseitige Machtbeziehung. Klar wäre es schön, wenn sich das änderte, doch dafür müssten sich beide Seiten ändern. Ich glaube, viele Lehrer wünschen sich, mehr Kontakt zu Schülern zu haben und zu erfahren, was Jugendliche so bewegt. Es schaffen aber nur wenige Lehrer, von Schülern gemocht zu werden. Vielleicht sind sie lustiger, fairer, jünger als ihre Kollegen, ich weiß nicht warum. Aber sie bleiben Ausnahmen."
Rick, 17, Dresden
Rick, 17, Dresden
Ildiko, 19: Es wird weggesehen
"Das Problem liegt darin, dass viele Schüler untereinander gar keine Gemeinschaft mehr haben, in der sie offen Probleme besprechen können. Ich habe den Eindruck, dass in der Schule ein zu großer Wert auf Leistung gelegt wird und soziale Werte dabei schnell vergessen werden. Deshalb fände ich es wichtig, dass es nicht nur einen Vertrauenslehrer an der Schule gibt, an den man sich aktiv wenden muss, sondern dass die Schüler die Möglichkeit bekommen, regelmäßig über Probleme zu reden.
An manchen Schulen gibt es mittlerweile den sogenannten Klassenrat, der zur Problembesprechung dienen soll. Ich bekomme jedoch von meiner jüngeren Schwester mit, dass dieser meist gar nicht dazu genutzt wird, sondern dass in dieser Zeit meist unterrichtet wird, um eine zusätzliche Unterrichtsstunde zu haben. Ich selbst habe auch die Erfahrung gemacht, dass bei Missbräuchen bewusst vertuscht oder weggesehen wird. An meiner Schule gab es den Fall, dass ein Lehrer ständig fotografiert hat, ohne Erlaubnis. Ich fand das merkwürdig, deshalb habe ich einige Lehrer darauf angesprochen.
Die Reaktionen waren unterschiedlich. Einerseits gab es Lehrer, die mir zugehört haben und meine Bedenken weitergeleitet haben, andererseits gab es aber auch Lehrer, die daraufhin sehr überrascht reagiert haben und den Vorwurf als Verleumdung beschimpft haben. Letztendlich wusste jeder, dass dieser Lehrer verhaltensauffällig war, aber keiner hat etwas dagegen unternommen."
Ildiko, 19, Nürtingen
Ildiko, 19, Nürtingen
Jennifer, 18: Lehrer sollten mehr auf Schüler zugehen
"Bei alltäglichen Problemen reicht es aus, mit Freunden in der Schule zu quatschen, damit es mir wieder besser geht. Bei schwerwiegenderen Problemen würde ich mich guten Freunden oder meinen Eltern anvertrauen - also Leuten, die mir persönlich sehr nahe stehen. Immerhin braucht es sehr viel Vertrauen, um jemandem etwa von Missbrauch zu berichten. Ich selbst war noch nie beim Vertrauenslehrer. Aber eine Freundin von mir hatte mit Depressionen eines Familienmitglieds zu tun und ging deshalb zum Psychologielehrer unserer Schule, was ihr wohl auch sehr weiterhalf.
Ich vertraue meinen Lehrern, weil sie mich bisher alle mit Respekt behandelt haben und mir freundlich und hilfsbereit gegenüberstanden. Allerdings baut sich Vertrauen natürlich auch auf: Einem Lehrer, den ich schon seit der fünften Klasse kenne, vertraue ich mehr, als einem, der gerade neu an die Schule gekommen ist. Es ist mir wichtig, dass ein Lehrer auch außerhalb des Unterrichts mal ein paar Minuten Zeit für ein persönliches Gespräch hat, sich mal nach dem erkundigt, was der Schüler so außerhalb der Schule macht. Wenn ein Lehrer will, dass ihm Schüler ihre Probleme anvertrauen, muss er die Basis dafür schaffen, bevor die Probleme überhaupt erst auftauchen."
Jennifer, 18, Fürth
Jennifer, 18, Fürth
Jonny, 18: Schüler denken, sie bräuchten Beweise
"Ich bin seit zwei Jahren Schulsprecher an meiner Gesamtschule und habe viel mit Problemen meiner Mitschüler zu tun - gerade an einer Schule, in der alle Schulzweige inbegriffen sind, fällt da viel an. Mit dem Thema Missbrauch habe ich in dieser Zeit nur einmal zu tun gehabt. Die betroffene Schülerin hatte es aber verschwiegen, die Information kam aus einer anderen Quelle. Die zwei Täter - es waren Schüler - sind von der Schule verwiesen worden.
Viele von Mobbing oder anderen Problemen betroffene Schüler denken, dass ihnen ohne Zeugen oder stichfesten Beweisen kein Glauben geschenkt wird. Viele Schüler kommen in Gruppen zu mir, oder sie beginnen mit dem Satz: "Du kannst meinen Kumpel fragen, der kann das bezeugen!" Viel zu oft schweigen sie aber aus Schamgefühl und Unsicherheit. Leider vermittelt kein Schulbuch, dass ein Mensch nicht immer gleich als Lügner abgestempelt wird, wenn er aus einer hilflosen Situation heraus zunächst keine Beweise anführen kann. Es wäre wichtig, Schülern neben binomischen Formeln und lateinischen Verben auch eine Vorstellung von gegenseitigem Vertrauen beizubringen."
Jonny, 18, Kronberg
Jonny, 18, Kronberg
Timo, 21: Eine Frage der Wellenlänge
"Im ersten Moment fällt es mir immer schwer zu verstehen, wenn Schüler nicht melden, dass ein Lehrer sie sexuell bedrängt. Allerdings ist es natürlich nicht leicht, sich in diese Lage zu versetzen. Ich war Klassensprecher und schätze mich recht selbstbewusst ein. Ich denke, ich würde mit meinen Eltern reden und zur Schulleitung gehen.
Dass ich allen Lehrern generell vertraue, würde ich nicht sagen. Dazu müssen sie mir das Gefühl vermitteln, dass sie sich nicht nur für meine Noten interessieren. Wenn sie merken, dass jemand ein Problem hat, sollten sie auch von sich aus auf den Schüler zugehen. Natürlich muss da auch die Wellenlänge stimmen. Für mich zählt dabei die richtige Mischung aus Kumpeltyp und Autoritätsperson.
Mit unserem Vertrauenslehrer hatte ich als Klassensprecher öfter zu tun. Ich hatte das Gefühl, dass er seiner Funktion gerecht wird. Allerdings hätte das auch anders sein können. Denn der Vertrauenslehrer wurde uns ja mehr oder weniger vorgesetzt. Ich finde, Schüler sollten diese Person selbst wählen dürfen."
Timo, 21, Rüsselsheim
Timo, 21, Rüsselsheim
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