Odenwaldschule
Im Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule in Heppenheim will die Schulleiterin die Vorfälle rasch aufklären. Altschüler erwägen derweil, das Land Hessen wegen Versäumnissen zu verklagen.
"Ich entschuldige mich im Namen der Odenwaldschule für das erlittene Leid, für die zugefügten Schmerzen", sagte Schulleiterin Margarita Kaufmann am Montag im hr. Heute würden Briefe an alle Altschüler versandt, die zur fraglichen Zeit an der Schule waren. Rund 900 Briefe will Kaufmann verschicken. Am Vormittag trafen sich Lehrer und Schüler zu einer Versammlung, um über die Vorfälle in der Vergangenheit zu sprechen.
Zwischen 1970 und 1985 soll es nach Medienberichten zu massiven sexuellen Übergriffen auf bis zu 100 Schüler gekommen sein. Nach derzeitigem Kenntnisstand sollen neben einem früheren Schulleiter mindestens vier Lehrer daran beteiligt gewesen sein. "Ich bitte die Altschüler, dass sie sich mit uns in Verbindung setzen, wenn sie etwas zu berichten haben über diese Zeit", sagte Kaufmann. "Wir wollen die Mauer des Schweigens brechen."
Kaufmann: "Berichte von Schülern sind erschütternd"
Erst am Sonntagabend habe sich ein ehemaliger Schüler bei ihr gemeldet, der von einem Missbrauchsfalls Ende der 80er Jahre berichtet habe, sagte Kaufmann. Der Fall habe sich auf einer Klassenfahrt zugetragen. Ein Lehrer vergriff sich demnach in der Nacht an einem Schüler. Die Schulleiterin will herausfinden, wie es zu den zahlreichen Übergriffen kommen konnte, warum so lange geschwiegen wurde und wie die Schüler künftig besser geschützt werden können.
Im vergangenen Sommer war Kaufmann erstmals mit Vorwürfen ehemaliger Schüler konfrontiert worden. Seither hat sie sich mit Opfern zu mehreren Gesprächen getroffen. "Es war absolut erschütternd, was ich da gehört habe", sagte Kaufmann. Ein Schüler habe berichtet, dass er 400 Mal missbraucht worden sei. Das seien "Ausmaße, die sprachlos machen", so Kaufmann.
Ehemalige Schüler erwägen Klage
Der Verein der Altschüler der Odenwaldschule forderte umfassende Aufklärung der Missbrauchsfälle. Der Vorsitzende Jochem von Uslar sagte am Montag, man müsse auch aufklären, warum "die Sache so lange geruht hat".
Nach einem Bericht der "Frankfurter Rundschau" (FR) erwägen ehemalige Schüler eine Verwaltungsklage gegen das Land Hessen, um möglichen Versäumnissen der Landesregierung und der Schulaufsicht nachzugehen. Das wahre Ausmaß des Skandals habe noch weitere zehn Jahre vertuscht werden können, da die Politik damals nicht reagierte, so ein Altschüler.
Versäumnisse von Ex-Ministerin?
In die Kritik dürfte dabei die frühere Kultusministerin Karin Wolff (CDU) geraten. Wolff hatte das Amt einige Monate vor einer Strafanzeige gegen den damaligen Internatsleiter angetreten. Wolff hatte den von 1971 bis 1985 amtierenden Rektor der FR zufolge nach Bekanntwerden der Vorwürfe zwar kurzzeitig aus dem Dienst geholt. Ansonsten sei aber nicht viel passiert. Die von Wolff verfügte Überprüfung der Zulassung der Schule als staatlich anerkannte Bildungseinrichtung sei offenbar nie erfolgt.
Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Darmstadt bestätigte am Montag, dass schon vor Jahren ermittelt, das Verfahren aber wegen Verjährung eingestellt worden sei. Details könne er nicht nennen, da die Akten inzwischen vernichtet worden seien.
Die Grünen wollen den Fall im Schulausschuss des Landtags thematisieren. Kultusministerin Dorothea Henzler (FDP) solle ausführlich Auskunft über die Vorgänge von damals geben und auch über den Beitrag, den damals das Kultusministerium geleistet, beziehungsweise nicht geleistet habe, erklärte der Abgeordnete Marcus Bocklet. "Wir können uns im Moment die entsetzlichen Vorgänge überhaupt nicht erklären". Bocklet forderte: "Es braucht jetzt die schonungslose Aufklärung. Wir wollen alle Informationen auf dem Tisch haben".
Vorstand soll zurücktreten
Die Direktorin der Odenwaldschule rechnet derweil mit ersten personellen Konsequenzen. "Ich gehe davon aus, dass der Vorstand geschlossen zurücktreten wird", sagte sie der FR. Dadurch solle der Weg für einen Neuanfang geebnet werden. Kaufmann, die selbst dem Vorstand angehört, will die Schule aber weiter leiten und sich für die komplette Aufarbeitung des Skandals einsetzen.
Renommierte Reformschule
Die vor 100 Jahren vom Pädagogen Paul Geheeb gegründete Odenwaldschule gilt als eine der bekanntesten deutschen Reformschulen. Sie stellt bis heute das Lernen in Gemeinschaft in den Vordergrund - gemischt nach Alter und Geschlecht wohnen die gut 200 Internatsschüler in rund 30 Gruppen. Zu den ehemaligen Schülern des Internats gehören neben Amelie Fried unter anderem der Schriftsteller Klaus Mann sowie 68er-Revolutionär und Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit. Auch Ex-Bundespräsident Richard von Weizsäcker schickte einen seiner Söhne auf die Schule.
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