Montag, 8. März 2010

"Wir hatten kaum eine Chance"

Protokoll eines Untergangs

Maximilian Bonmann
Die Schüler lernten gerade Bio, als Fallwinde ihr Segelschiff vor Brasilien erwischten. Binnen 20 Minuten sank die "Concordia". Es folgten 41 Stunden Durst, Enge, Ungewissheit. Maximilian Bonmann erzählt vom Überleben auf der Rettungsinsel - und warum er trotzdem Kapitän werden will.


In der SchulSPIEGEL-Reihe "Mein erstes Mal" berichten Jugendliche von Premieren in ihrem Leben, die mal zu Hektik, mal zu Hochstimmung oder Herzrasen führen. Hier erzählt der Essener Schüler Maximilian Bonmann vom Untergang des "schwimmenden Klassenzimmers" aus Kanada, der "Concordia":

"Zuerst hatte das Unwetter am Horizont niemanden beunruhigt. Wir zogen unseren Biologie-Unterricht bei schwankendem Boden ganz normal durch. Bei großem Wellengang büffeln - so etwas gab es schon unzählige Male.
 
Unsere Biolehrerin machte ganz normalen Unterricht, aber ich konnte mich nicht konzentrieren und beobachtete die Wolken. Irgendwann war mir klar: So stark sollte ein Schiff niemals kippen! Ich öffnete die Luke, sah, dass schon Unmengen von Wasser an Deck waren, und schlug das Fenster sofort wieder zu. Einige Sekunden später drückten schon die Wassermassen dagegen.

Normalerweise sinken Schiffe, weil Wasser langsam durch ein Loch in den Rumpf strömt. Das dauert. Bei uns ging es dagegen ganz schnell. Ein extrem seltenes Wetterphänomen wurde uns zum Verhängnis: Der Wind kam von oben. Bei solchen Fallwinden haben Segelschiffe kaum eine Chance. Uns blieben nur 20 Minuten.

Wir befanden uns rund 550 Kilometer vor der brasilianischen Küste. Ich war schon eineinhalb Jahre auf der 'Concordia', einem Schiff, das zwischen Europa, Afrika und Amerika segelt und auf dem kanadische Schüler den Highschool-Abschluss machen können. In Deutschland war ich bis zur elften Klasse zur Schule gegangen. Doch ich wollte noch vor dem Abi mehr von der Welt sehen. Als ich von dem Dreimaster erfuhr, war mir gleich klar: Da will ich auch hin.

Auf der 'Titanic' ging alles viel langsamer

Auf der 'Concordia' unterrichteten Lehrer alle normalen Schulfächer. Schüler lernten aber natürlich auch das Segeln, Notfalltraining inklusive. Doch auf das, was uns Mitte Februar an jenem Mittwoch vor Brasilien geschah, konnte uns niemand vorbereiten.

Als das Schiff zu sinken begann, fielen einige Mädchen in eine Schockstarre, andere Mitschüler versuchten sie mitzuzerren. Die Lehrer schienen genauso hilflos wie wir. Weil die Rettungsinseln an den Flanken angebracht waren und das Schiff sich zur Seite ins Wasser legte, mussten wir uns in vier statt acht Rettungsinseln drängen. Insgesamt waren 64 Personen an Bord. Auf meiner Insel kauerten wir zu zwanzigst dicht an dicht: Schüler, Lehrer, Besatzungsmitglieder. Wir hatten keinen Millimeter, um uns zu bewegen.

Die Wellen waren hoch, doch wir sahen den Kiel der 'Concordia' nach oben ragen. Ein schrecklicher Anblick. Alle Schüler haben dieses Schiff geliebt. Ich habe an Bord sogar beschlossen, Kapitän zu werden. Doch nachdenken konnten wir nicht. Wir mussten die Inseln miteinander vertäuen. Eine war bereits abgetrieben und verschwand aus unserer Sichtweite. Wir wussten nicht, ob sich alle gerettet hatten.

Ablenken durch Geschichten, Lieder, Witze

Es begannen 41 Stunden Durst, Enge und Ungewissheit. Wie durch ein Wunder blieb ich tagsüber seltsam ruhig. Wir versuchten uns permanent mit Geschichten, Liedern und sogar mit albernen Witzen abzulenken. Bloß nicht ins Grübeln kommen. Einmal probierte ich den: 'Mayday - Mayday - we are sinking! - Okay, and what are you thinking about?' Der kam weniger gut.

Am meisten half uns der Kapitän: Er beruhigte uns und teilte die knappen Vorräte ein. Nach zwölf Stunden gab es das erste Mal etwas zu trinken. Pro Stunde ein halbes Schnapsglas Wasser für jeden - gerade genug, um den Gaumen zu befeuchten. Den ersten Energieriegel aß ich nach 31 Stunden.

Schlimm waren für mich vor allem die Nächte. Dann waren alle still. Schlafen konnte ich nicht. Jetzt kam die Angst. Wir hatten ein GPS-Gerät dabei, mit dem wir permanent Notsignale sendeten. Aber empfängt die überhaupt jemand? Ist das Gerät möglicherweise kaputt?

Die Erlösung nahte erst nach 30 Stunden: Ein Flugzeug kreiste über uns. In der darauffolgenden Nacht tauchte ein Licht am Horizont auf. Ein japanischer Frachter war benachrichtigt worden und kam auf uns zu.

Kurz vor der Rettung liegen die Nerven blank

Wie sehr mich alles mitgenommen hatte, merkte ich erst kurz vor unserer Rettung. Die Mannschaft versuchte uns einzusammeln. Doch es war dunkel, die Wellen waren zu hoch. Beim ersten Anlauf schafften wir es nicht. Jetzt lagen meine Nerven erstmals komplett blank. Für mich war es der allerschlimmste Moment. Nach dem missglückten Manöver fiel ich zum ersten Mal in einen tiefen Schlaf.

In der Morgendämmerung dann der zweite Versuch - diesmal erfolgreich. Mit letzter Kraft klammerte ich mich an der Leiter fest und zog mich nach oben. Auf dem Deck konnte ich meine Beine schlagartig gar nicht mehr rühren. Ich hatte sie sie in den letzten 41 Stunden auf der Insel nicht bewegt.

Die japanische Besatzung versorgte uns liebevoll. Noch nie hat mir eine warme Nudelsuppe so gut geschmeckt. Nervös waren wir aber noch immer. Was war mit unseren Mitschülern auf der vierten Rettungsinsel? Etwas später erfuhren wir, dass auch sie es geschafft hatten. Alle haben überlebt. Das war die absolute Erleichterung.

Es dauerte noch etliche Stunden, bis wir endlich in Begleitung eines brasilianischen Marineschiffs im Hafen von Rio de Janeiro einlaufen durften. Leute von der kanadischen und deutschen Botschaft empfingen uns am Marinestützpunkt. Journalisten drängten sich vor dem Zaun.

Nautikstudium - trotz allem

Ich bekam ein Handy und rief zu Hause an. Zum Glück hatten meine Eltern erst sehr spät von dem Unglück erfahren. So waren ihnen zwei Tage banges Warten erspart geblieben.

Seit ich zurück in Deutschland bin, hatte ich kaum eine ruhige Minute. So viel gab es zu organisieren. Zum Glück. Ruhigsein bekommt mir noch nicht so gut. Vor dem Einschlafen fangen die Gedanken wieder an zu rattern, in meinen Träumen holt mich alles wieder ein.

In ein paar Tagen will ich zurück nach Kanada. Dorthin, wo unsere Schiffsreise begonnen hat. Ich werde meine Klassenkameraden wiedersehen, die all das mit mir erlebt haben. Jeder Einzelne wird mir auf immer in Erinnerung bleiben.

Und ich werde das Meer sehen. Ich hoffe, ich finde es noch genauso schön. Im September will ich mein Nautikstudium beginnen. Und irgendwann Kapitän eines Kreuzfahrtschiffs werden. Trotz allem."

Aufgezeichnet von Florian Leonhardmair

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