Dienstag, 2. März 2010

Tragische Totenwache eines Fünfjährigen

Von Julia Jüttner

Er sah seine Mutter sterben, blieb bei der Leiche, stundenlang, tagelang, am Ende hörte ein Nachbar sein Schluchzen: Das tragische Schicksal eines Fünfjährigen erschüttert das baden-württembergische Heidenheim. Hätte das Drama durch mehr Wachsamkeit der Behörden verhindert werden können?

Hamburg - Es war kurz nach Mitternacht. Die meisten Bewohner des Mehrfamilienhauses in der Erbisbergstraße im baden-württembergischen Heidenheim-Mergelstetten schliefen, die Fernsehapparate waren verstummt. Da hörte ein Mann das leise Weinen eines Kindes. Um 0.37 Uhr alarmierte er die Polizei. Das Wimmern komme aus einer der beiden Wohnungen im zweiten Stockwerk, sagte er. Normalerweise nichts Ungewöhnliches, doch die Wohnung stehe seit Monaten offiziell leer.

Ein Streifenwagen rückte an, die Polizisten klingelten. Schweigen. Kein Mucks war hinter der Tür zu hören. Doch der Nachbar von nebenan bestätigte, auch er habe aus den vermeintlich unbewohnten Räumen das Heulen eines Kindes gehört.

Die Polizei brach die unverschlossene Tür auf. Schon im Flur stapelte sich der Müll, beißender Gestank hing in der Luft. Im Wohnzimmer entdeckten die Beamten eine tote Frau. Sie lag auf dem Boden, zwischen Essensresten, Dreck und Gerümpel. Daneben saß Luis (Name von der Redaktion geändert) und schluchzte kaum hörbar vor sich hin. Der Fünfjährige trauerte um seine Mutter.
Die 40-Jährige ist laut Totenschein eines natürlichen Todes gestorben. 48 Stunden bevor die Polizei in die Wohnung eingedrungen war. 48 Stunden lang blieb Luis an ihrer Seite. 48 Stunden lang hatte er nicht die Wohnung verlassen, um Hilfe zu holen oder wegzulaufen.

Leicht dehydriert wurde der Junge ins Klinikum Heidenheim gebracht. Er verhielt sich unauffällig, schlief erschöpft ein. Bisher ließ er noch keine posttraumatische Störung erkennen. Anschließend wurde er in die Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikum in Ulm eingewiesen.

Die Ärzte und Schwestern dort kennt Luis bereits. Vom 24. November vergangenen Jahres bis zum 13. Januar diesen Jahres war er dort. Das Jugendamt hatte die Untersuchung veranlasst. Am 1. März sollte Luis gemeinsam mit seiner Mutter noch einmal dort aufgenommen werden, um gefestigter durchs Leben zu gehen.

Wohnung ohne Warmwasser und Heizung

Mit dem Umzug der kleinen Familie vom Ostalbkreis nach Heidenheim wanderte auch ihre Akte zu einem neuen Jugendamt. Die Alleinerziehende war auf Hilfe angewiesen. Seit dem 19. Mai 2008 ist das Jugendamt Heidenheim für sie zuständig. In Heidenheim bezieht sie die Wohnung in der Erbisbergstraße. Sie gehört ihren Eltern, die in Stuttgart leben. Eine Art Ferienwohnung, allerdings ohne funktionierende Heizung und Warmwasseranschluss.

Das Jugendamt beauftragt die Sozialpädagogische Familienhilfe (SPFH), Kontakt mit der zweiköpfigen Familie aufzunehmen. In Heidenheim wird diese Sozialleistung von einem externen Unternehmen ausgeführt.

Wie mit Luis' Mutter vereinbart, klingelt am 4. Juni 2008 eine Mitarbeiterin an der Wohnungstür. Die Frau öffnet nicht. Fünf Tage später meldet sie sich beim Amt, entschuldigt sich dafür. Sie sei krank gewesen, habe daher nicht öffnen können.

Es ist der Anfang eines Lügenlabyrinths, das die Tragödie erst möglich macht.

Doch Luis' Mutter zeigt sich beim ersten Gespräch einsichtig und willigt in eine Betreuung ein. Sieben Stunden die Woche lässt sie sich bei der Bewältigung ihrer Probleme helfen. In erster Linie sind es finanzielle Schwierigkeiten und Schulden, die die Frau plagen. Sie lebt von Hartz IV. Wegen einer chronischen Erkrankung gilt sie beim Job-Center zu 30 Prozent als erwerbsunfähig. Den Vater ihres Sohnes gibt sie nicht bekannt, Kindesunterhalt bezieht sie vom Amt. Sie ist mit vielem überfordert, auch damit, für ihren Sohn einen Kindergartenplatz zu finden.

Dankbar nimmt sie die Unterstützung der Familienhilfe an. In einem Akteneintrag vom 3. November 2008 heißt es: Die Hilfe werde von der Mutter positiv bewertet, Erziehungsfragen würden ausführlich besprochen. Keinerlei Anzeichen von Gewalt gegenüber dem Sohn. Im Gegenteil: Das Kind wirke "wohl behütet" und "gut ernährt".

Der Mutter gelingt es, die Sozialpädagogen auszutricksen

Zuverlässig erscheint Luis' Mutter zu Terminen im Amt, Hausbesuche vereinbart sie zwar, sagt sie jedoch immer kurzfristig ab. Treffen wie am 1. September 2008 oder am 14. Oktober wimmelt die Alleinerziehende ab und bittet um Treffen an öffentlichen Orten. Ihre Eltern wollten nicht, dass Leute vom Amt die Wohnung betrete, sagt sie. Es solle kein Gerede bei den Nachbarn geben. Ihrem Wunsch wird nachgegeben, eine entsprechende Notiz in der Akte gemacht.
 
Am 11. Februar 2009 bemerkt eine SPFH-Mitarbeiterin "Probleme in der hygienischen Versorgung" des Kindes und stellt die Mutter zur Rede. Diese begründet den Notstand mit den verheerenden Wasser- und Heizzuständen in der Wohnung. Die SPFH drängt auf Besichtigung ihres Zuhauses. Die Frau gibt an, ihre Eltern hätten sie nach einem Streit überraschend rausgeworfen. Ein Grund sei auch gewesen, dass das Jugendamt ständig vor der Tür stehe.

Die Eltern würden ihr nur erlauben, mit dem Kind in deren Wohnung zu leben, wenn sie den Mitarbeitern den Zutritt verwehre. Vielleicht könne sie in eine neue Unterkunft ziehen? Dann könne sie selbst entscheiden, wem sie die Tür öffne.

Wegen ihrer desolaten finanziellen Situation organisiert ihr das Amt eine neue Wohnung in Giengen, zehn Kilometer von Heidenheim entfernt. Am 1. März ziehen Luis und seine Mutter um. Zwei SPFH-Mitarbeiter helfen. Als sie ankommen, steht die Frau bereits samt Kartons und Koffer vor dem Haus. Die Schlüsselübergabe sei abgeschlossen, wieder sieht keiner, wie die Frau gelebt hat.

Das Jugendamt ist in Alarmbereitschaft

Von März bis August 2009 kommt es der Akte zufolge in regelmäßigen Abständen zu Hausbesuchen. Sie erfolgen ohne Beanstandung: Die Wohnung ist "relativ sauber und aufgeräumt". Luis hat sein eigenes Zimmer, seine hygienische Versorgung ist einwandfrei. Laut SPFH-Bericht ist er ein "lebhaftes, liebes Kind". Seine Mutter kümmere sich "aufopferungsvoll" um ihn. "Er steht bei ihr an erster Stelle. Nur, wenn es ihm gut geht, geht es auch ihr gut."

"Sie hat geschickt operiert"

Luis kommt in den Schulkindergarten der Lebenshilfe in Giengen. Dort erntet der Junge anfangs Lob. Er integriere sich gut und zeige ein positives Sozialverhalten, heißt es. Im Juli allerdings wird Luis häufiger aggressiv, hält sich nicht mehr an Regeln. Die Mutter hat einen Freund gefunden. Die SPFH protokolliert in den Akten: Das veränderte Verhalten könne daran liegen. Es sei jedoch keine Kindeswohlgefährdung erkennbar. Der Junge sei weiterhin gepflegt und werde umsorgt.

Am 22. Oktober kommt es zu einem sogenannten "Hilfeplan-Gespräch". Luis' Mutter ist in den alten Trott verfallen: Sie drückt sich vor Hausbesuchen. Immer wieder gelingt es ihr, die SPFH-Mitarbeiter auszutricksen. "Sie hat geschickt operiert", sagt Sozialdezernent Anton Dauser, seit 30 Jahren in der Sozialarbeit tätig und ehemaliger Leiter eines Jugendamts in Baden-Württemberg. Rückblickend lasse sich das Lügengebilde rekonstruieren, damals habe es keiner seiner Mitarbeiter durchblickt.

Im Gegenteil: In diesem Fall habe das Jugendamt durchgreifen wollen, hartnäckig habe man auf Hausbesuchen bestanden. Doch Luis' Mutter lehnt auf einmal eine weitere Unterstützung der "Familienhilfe" ab. In einem Brief bedankt sie sich - laut Dauser sogar "herzlich" - für die bisherige Zusammenarbeit und zieht ihre Einwilligung zu einer weiteren Unterstützung zurück.

Das Jugendamt kann die alleinerziehende Mutter nicht zu einer Betreuung zwingen. Einen entsprechenden Antrag, so glaubt Sozialdezernent Dauser, hätte das Familiengericht "sicher abgelehnt". Mitarbeiter der Familienhilfe versuchen, Luis' Mutter in Gesprächen davon zu überzeugen, die Betreuung weiterzuführen. Die 40-Jährige willigt schließlich ein.

Wie krank ist Luis' Mutter tatsächlich?

Auch zeigt sie sich einverstanden, ihren Sohn wegen einer medizinischen und psychiatrischen Untersuchung im Universitätsklinikum im 40 Kilometer entfernten Ulm anzumelden. Acht Wochen wird Luis dort stationär aufgenommen. Seine Mutter besucht ihn regelmäßig.

Mitarbeitern des Jugendamtes und der Familienhilfe gewährt sie jedoch weiterhin keinen Zutritt in ihre Wohnung in Giengen. Am 13. Januar 2010 verlässt Luis die Klinik, die SPFH drängt auf Hausbesuche. Die alleinerziehende Mutter stellt auf stur.

Die SPFH wendet sich ans Jugendamt und rät dazu, das Familiengericht einzuschalten und sich notfalls mit Gewalt Zutritt in Luis' Zuhause zu verschaffen. Per Brief vom 28. Januar 2010 erfährt die 40-Jährige, man werde am 2. Februar anrücken. Sie antwortet am Tag darauf per SMS: Sie halte sich mit ihrem Sohn bei ihrem Lebensgefährten auf und sei daher in Giengen nicht anzutreffen. Einem Treffen am 2. Februar stehe ansonsten nichts im Wege.

Mutter und Sohn erscheinen daher am 2. Februar im Jugendamt Heidenheim. Luis ist fröhlich, er wirkt gepflegt. Seine Mutter dagegen macht "körperlich einen schlechten Eindruck", doch aufgrund ihrer chronischen Erkrankung ist das kein seltener Vermerk in der Akte.

Warum hat keiner der Sozialpädagogen registriert, wie schwer krank die Alleinerziehende tatsächlich war?

"Wir haben alles unternommen, was möglich war"

Am 31. Januar meldet die 40-Jährige ihren Sohn im Kindergarten ab. Durch Behördenumwege erfährt das Jugendamt erst Tage später davon. Zuvor, am 9. Februar, wird bekannt, dass Luis' Mutter erneut einen Hausbesuch platzen ließ. Per SMS habe sie einer Mitarbeiterin mitgeteilt, sie sei in der Klinik, werde gleich operiert. Ihr Sohn sei "gut aufgehoben", nach der Narkose werde sie sich melden.

Sie tut es nicht. Am 16. Februar entschließen sich die SPFH und das Jugendamt, das Familiengericht einzuschalten, um eine Wohnungsöffnung zu erlangen. Einen Tag später stirbt Luis' Mutter in seinem Beisein. Am 20. Februar informiert die Polizei den Notdienst des Jugendamtes.

Erst jetzt erfährt die Behörde, dass die Alleinerziehende mit ihrem Sohn seit längerem wieder in der Erbisbergstraße in Heidenheim, der Ferienwohnung ihrer Eltern, untergekommen sein muss. Ein Nachbar sagte der "Heidenheimer Zeitung", er habe die Frau seit Januar häufiger in der Nähe der Wohnung gesehen und auch mit ihr gesprochen.

Seit ihrem Tod ist das Jugendamt Vormund für Luis. Wenn er nicht bei seinen Großeltern unterzubringen ist, wird er als Pflegekind in eine Familie kommen.

Warum der Fünfjährige nicht die völlig verwahrloste Wohnung verließ oder auf sich aufmerksam machte, werden Kinderpsychiater klären. Laut Sozialdezernent Dauser könne es sein, dass er von seiner Mutter eingeschärft bekommen habe, niemandem die Tür zu öffnen, um nicht aufzufallen.

Dauser spricht von "tragischen Umständen". Alles sei dafür vorbereitet gewesen, dass sich die Frau gemeinsam mit ihrem Sohn in psychiatrische Untersuchung begebe. "Wir haben alles unternommen, was möglich war."

Ein Nachbar der kleinen Familie sieht das anders. Er wirft nach Angaben der Polizei dem Jugendamt vor, der Frau zu wenig Unterstützung geboten zu haben - und hat die Behörde angezeigt.

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