Von Horand Knaup, Nairobi
"Band Aid" war ein Projekt der absoluten Superlative. Erst der gemeinsame Song von 50 Popstars, den Bob Geldof und Midge Ure geschrieben hatten: "Do they know it's Christmas?" Er spielte umgerechnet 20 Millionen Dollar zu Gunsten der Hungerhilfe Afrika ein und eroberte 1984 in 13 Ländern den ersten Platz der Charts. Dann die Benefizkonzerte in London und Philadelphia - "Live Aid". Ein weltweiter Spendenaufruf brachte Millionen für die Hungernden in Äthiopien.
Ein phänomenaler Erfolg.
Doch nun stellt sich heraus, dass ein Großteil des Geldes womöglich nicht unbedingt dort angekommen ist, wo es dringend benötigt worden wäre. Die BBC berichtete diese Woche unter Berufung auf Rebellenführer der damaligen Befreiungsfront von Tigray (TPLF), dass fast 100 Millionen Dollar an Hilfsgeldern bei der Befreiungsfront gelandet und in Waffen umgesetzt worden seien. Die TPLF kämpfte damals, ebenso wie eritreische Rebellen, für die Ablösung von Äthiopien. Die Tigray-Rebellen verjagten 1991 das Mengistu-Regime und übernahmen die Macht in der Hauptstadt Addis Abeba. Eritrea spaltete sich 1993 von Äthiopien ab.
Ein Fernsehbericht im Dezember 1984, nur einige Minuten lang, hatte die Welt alarmiert: verdorrte Felder, zu Skeletten abgemagerte Kinder, in Lumpen gehüllte Hungergestalten rüttelten am globalen Gewissen. Eile schien geboten, von zigtausend Toten war die Rede. Die Helfer schickten Lastwagenkolonnen mit Mais, Bohnen und Öl in die Hungerregion, teilweise reisten sie auch nur mit großen Mengen Bargeld an, um in den Nachbarländern oder in Äthiopien selbst Überschüsse anzukaufen.
Die BBC zitiert nun einen TPLF-Führer, der damals für die Rebellen als Zwischenhändler agierte und Getreide an die Hilfsorganisationen verkaufte. Er berichtete, dass die angeblichen Kornsäcke teilweise mit Sand gefüllt gewesen seien, zudem habe er das eingenommene Geld direkt an die TPLF-Führung weiter gereicht.
Gelder für militärische Zwecke abgezweigt
Bestätigt wird seine Version von Aregawi Berhe, einem früheren TPLF-Offizier, der inzwischen in den Niederlanden im Exil lebt. "Die Helfer wurden beschissen", sagt er in aller Deutlichkeit. Insgesamt seien mehrere hundert Millionen an Hilfsgeldern durch die Hände der TPLF und befreundeter Gruppen geflossen. 95 Prozent des Geldes seien in den Kauf von Waffen und den Aufbau eines marxistischen Flügels in der Rebellenbewegung investiert worden.
Das mag reichlich übertrieben sein, doch dass damals Hilfsgelder in beträchtlichem Umfang zweckentfremdet wurden, wird von auch soeben veröffentlichten CIA-Dokumenten gestützt, in denen es ebenfalls heißt: "Manche Gelder, die von den Aufständischen als Folge der weltweiten Öffentlichkeit für Hilfsoperationen akquiriert worden waren, sind mit großer Sicherheit für militärische Zwecke abgezweigt worden."
In London reagierte Bob Geldof, der sich auch heute noch in Afrika engagiert und regelmäßig auf den Kontinent reist, erzürnt über die Berichte vom Millionenbetrug. "Wenn tatsächlich so viel Geld abgezweigt worden wäre, wären damals mehr als eine Million Menschen gestorben. Schon möglich, dass in einem der längsten Konflikte Afrikas damals auch Gelder anders verwendet wurden. Aber in dieser Größenordnung - kompletter Unsinn."
Missmanagement und wenig Gegenkontrolle
Leise Kritik war von Experten allerdings schon damals aufgekommen. Denn tatsächlich betroffen von der Dürre war nur ein kleiner Teil Äthiopiens. In anderen Landesteilen hingegen hatten die Bauern beträchtliche Überschüsse erzielt. Doch die Macht der Bilder aus der Hungerregion, die spendenträchtige Weihnachtszeit und der öffentliche Einsatz der Pop-Stars ließen in jenen Wochen keine Debatte über Sinn und Unsinn von ausländischer Hilfe, über Effizienz und überstürzten Abfluss von Geldern aufkommen.
Die Organisation "Ärzte ohne Grenzen" kritisierte später, dass bei Zwangsumsiedlungen in jener Zeit mehr Menschen ums Leben gekommen seien als durch Hunger und Unterernährung.
Es wäre nicht ungewöhnlich, wenn auch im Fall Äthiopien Millionen von Dollar in die falschen Kanäle abgeleitet worden wären. Der Mechanismus wiederholt sich immer wieder aufs Neue: Nach jeder größeren Katastrophe strömen Hunderte von kleineren oder größeren Hilfsorganisationen in die Elendsregionen. Vielen von ihnen fehlt es jedoch an Infrastruktur, an Managementqualitäten, an Erfahrung. Sie müssen sich auf lokale NGOs, auf Zwischenhändler, auf angebliche Experten verlassen, deren Qualität und Erfahrung sie nicht einschätzen können. Gleichzeitig stehen sie unter dem Druck der Öffentlichkeit und der Spender, ihre Mittel zeitig in Projekte umzusetzen und die Gelder möglichst schnell abfließen zu lassen.
Die Macht der Bilder
Gerade Äthiopien war ein Musterbeispiel dafür, wie die globale Hilfsindustrie funktioniert. Es gab damals Bilder, es gab Aufmerksamkeit, es gab Tausende von Helfern, die unvorbereitet ins Land eilten. Und es gab deshalb viel Missmanagement, beträchtliche Verluste und wenig Gegenkontrollen.
Die Hungerkatastrophe in Äthiopien 1985 war aber auch ein Beleg für die Macht der Bilder: Ein paar Jahre zuvor hatte es in Bangladesh eine katastrophale Überschwemmung mit rund 300.000 Toten gegeben. Von dort hatte es so gut wie keine Aufnahmen gegeben. Die Welt hatte es achselzuckend und nahezu tatenlos zur Kenntnis genommen.
Eine gewisse Tragik liegt insofern über der neu entfachten Debatte, als es 1984 ein Bericht des britischen Senders BBC war, der die Welt - und auch Bob Geldof - aufrüttelte. Jetzt ist es der gleiche Kanal, der die Zweifel am Sinn der Hilfsaktion weckt.
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