Montag, 20. April 2009

Urzeitliches Knochenpuzzle aus Deutsch-Ostafrika

Vor 100 Jahren traf die Tendaguru-Expedition in Deutsch-Ostafrika ein. Dort machten Forscher eine sensationelle Entdeckung: einen riesigen Dinosaurier-Friedhof. “Tendaguru” gilt als eine der erfolgreichsten Grabungen aller Zeiten. Doch bis heute warten die Fossilien auf ihre Auferstehung.

Trommeln tönten durch die Steppe. Früh morgens zum Dienstbeginn und abends, zum Ende der Buddelei. Im Osten Afrikas herrschte deutsche Ordnung: Vor 100 Jahren gruben Paläontologen am Tendaguru in Deutsch-Ostafrika, dem heutigen Tansania, nach fossilen Resten von Dinosauriern.

„Tendaguru“, steiler Berg, heißt der afrikanische Knochenhügel, der 150 Millionen Jahre alte, zentnerschwere Wirbel, Beinknochen und sogar Schädel freigab. „Tendaguru“ heißt auch die Expedition, deren Teilnehmer von 1909 bis 1913 unter Werner Janensch in der Hitze Afrikas Typhus und Malaria trotzten. Und „Tendaguru“ steht noch immer für eine der erfolgreichsten paläontologischen Grabungen aller Zeiten. Bis heute liegen die in alle Welt verschifften Fossilien in den Regalen der Wissenschaftler. In den Naturkundemuseen in Berlin, in London, Los Angeles und New York spiegeln sich die Skelette der Urzeitriesen Tag für Tag in den Augen der Besucher. Brachiosaurus brancai etwa, der größte weltweit ausgestellte Dinosaurier, steht in der Lichthalle des Berliner Naturkundemuseums – und auch er kommt vom Tendaguru.

Doch was die afrikanische Steppe vor 100 Jahren war, ist für moderne Paläontologen der ein oder andere Museumskeller. Denn wer heute einen neuen Dinosaurier entdecken will, sagen Wissenschaftler völlig ironiefrei, der muss nicht raus ins Feld. Keiner muss mehr am Tendaguru oder am nordamerikanischen Hell-Creek graben. Kein Paläontologe muss mühevoll in der Mongolei, auf Madagaskar, in China oder Argentinien die staubigen Erdschichten mit Spitzhacke, Schaufel, Schüppe und Pinsel wegkratzen. Man muss einfach nur in den Keller hinabsteigen.

Denn die Magazine der Museen und Forschungsinstitute sind mit der Beute längst vergangener Großexpeditionen bis an die Decken vollgestopft. Im Berliner Naturkundemuseum etwa quetschen sich zahllose Ober- und Unterschenkelknochen beliebiger Dinosaurierarten in einer Nische des Kellers. Fußwurzelknochen thronen auf schwarzen Zylindern, basketballgroße Rückenwirbel warten darauf, dass irgendein Forscher sie nach 150 Millionen Jahren Totsein korrekt zusammenpuzzelt. Die weniger unscheinbareren Knöchelchen sind achtlos aufeinander gestapelt, alte Transportkisten ruhen unangetastet. Dass in den Knochenkammern ein Schatz wartet, ist allen klar.

Denn in den vergangenen Jahren haben Paläontologen einige spektakuläre Erkenntnisse über die Dinozeit allein durch das genaue Studieren von Museumsmaterial gewonnen. Eine Analyse fossilen Erbmaterials hier, ein Computermodell zur möglichen Fortbewegung und Ernährungsweise da, eine Röntgentomografie, eine Isotopenanalyse oder ein Neutronenscan – die neuen Methoden der Paläontologie bringen immer mehr Farbe in die Ökologie von Jura- und Kreidezeit. Saurier, die früher als nahe Verwandte galten, werden heute als allenfalls entfernte Bekannte geführt. Brachiosaurier haben heute keine O-Beine. Ihre langen Hälse nutzten sie wohl auch nicht, um in Baumkronen frische Blätter zu naschen. Sie waren stoffwechselbedingt wohl so faul, dass sie einen langen Hals brauchten, um sich möglichst wenig bewegen zu müssen.

All diese Erkenntnisse lassen sich aus dem beinernen Museumsschatz herauslesen. Doch ganz einfach zu heben ist er nicht. Das zeigt nicht zuletzt das Beispiel Tendaguru: Mehr als 250 Tonnen Saurierknochen, unzählige Holzkisten und Behälter schickte Grabungsleiter Werner Janensch nach Berlin. Mit seinen zwischenzeitlich über 500 einheimischen Helfern hatte er die Knochen aus drei verschiedenen Fossilienschichten aus dem Berghang befreit. Zum Teil mussten die Beinjäger die Knochen nur aufsammeln – im Laufe der Zeit waren sie freigewittert, ragten offen aus der Krume. Ein Areal von 100 mal 20 Kilometer wühlten die Forscher um. Jeder Fund wurde in genauen geologischen Karten eingetragen, zum Teil sogar an Ort und Stelle abgezeichnet und koloriert.

Knochen für Knochen verpackten die Feldforscher liebevoll: Die großen verstauten sie in Kisten. Kleinere Funde legten die Paläontologen in Fruchtschalen von Affenbrotbäumen oder in leergegessene Konservendosen, vergaben jedem Fund eine Nummer und notierten in Inventarlisten Fundort und -lage. Wissenschaftliche Korrektheit unter afrikanischem Himmel. Weich gebettet auf trockenem Savannengras gingen die fossilen Knochen, Korallen, Muschelschalen und Gesteinsproben auf ihre weite Reise vom afrikanischen Seehafen Lindi nach Europa.

Und hier erwartet sie ein Verhängnis: Zwei Weltkriege und das DDR-Regime überstanden auch die pingelig geführten Inventarlisten nicht. Der ein oder andere Knochen, die ein oder andere ungeöffnete Kiste fiel den Bomben zum Opfer. Das Kleinod der Tendaguru-Sammlung, ein gut erhaltener Schädel von Brachiosaurus, retteten Mitarbeiter des Geologisch Paläontologischen Institutes nur dadurch, dass sie ihn im Keller des Museums an einer geheim gehaltenen Stelle vergruben.

Verlorene Dokumente und vergessene Kisten

Wenn sich ein Forscher auf die Suche begibt, kann Überraschendes passieren: Erst in der vergangenen Woche hat Chefpräparator Lutz Berner vom Berliner Museum in einer publikumswirksamen Aktion eine original vernagelte Bambustrommel vom Tendaguru geöffnet. Keiner hatte zuvor hineingesehen, keiner ein Röntgenbild oder einen Neutronenscan angefertigt. Die Liste zur Inventarnummer fehlte. Es war ein denkwürdiger Moment – immerhin hatten die alten Nägel und Drähte die Bambusstäbe 100 Jahre lang zusammengehalten. Pflichtgemäß sträubten sie sich etwas gegen Berners Baumarktzange.

Doch heraus kam kein Dinosaurier-Ei, kein Urzeitschädel und auch kein fossiles Korallenskelett. Heraus kamen eine 100-jährige Konservendose, Fruchtschalen, ein paar über 150 Millionen Jahre alte Knöchelchen, Savannengras und bröselnde Gesteinsproben. Und dennoch sind die Forscher verzückt – schließlich können sie mit jedem neuen Knochen und jedem neuen Stein die Ökologie der Urzeit besser verstehen. Vielleicht entpuppt sich eines dieser fossilen Fundstücke als Überrest eines winzigen, noch nicht bekannten Tendaguru-Mitbewohners der Dinosaurier. Vielleicht bestätigt ein bestimmtes Mineral die Berliner These, warum im späten Jura am Tendaguru ein Friedhof entstand.

Die Berliner Knochenhüter immerhin haben bereits eine These dazu: Aus dem Vermächtnis der Janensch-Funde und durch eine Expedition, die sie vor neun Jahren gemeinsam mit tansanischen und kanadischen Forschern durchführten, schließen sie, dass am Knochenhügel mindestens drei Überschwemmungen stattfanden. Drei Schichten von Saurierknochen werden von Sedimenten aus Meeresschichten voneinander getrennt. Hier könnten Tsunamis ihre Spuren hinterlassen. Vielleicht ertranken die Saurier, die gerade in der Gegend waren. Das Hinterland war von Nadelwäldern bewachsen, in der Nähe des Meeres tummelten sich die Tiere an Lagunen und Ebenen.

Natürlich lohnt es sich auch heute noch, auf den großen Saurierfriedhöfen nach Knochen zu suchen. Aber es lohnt sich für Forscher genauso, einfach einmal in den Keller hinabzusteigen.

Von Pia Heinemann

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