Wie die meisten Sierra-Leoner, die keiner geregelten Arbeit nachgehen, hat Victor Kuruma Mühe mit seiner Haushaltrechnung. Der ehemalige Kindersoldat erzählt stolz, dass er als Fahrer eines «Okada», eines Motorradtaxis, an einem guten Tag umgerechnet 6 Franken verdiene. Aber auf die Frage, weshalb er sich mit dem Geld keine Wohnung leisten könne, weiss der 27-Jährige keine Antwort. Er lebt in Makeni, einer Provinzstadt 150 Kilometer nordöstlich der Hauptstadt Freetown, wo Hütten aus Holz und Wellblech für eine Monatsmiete von 12 Franken zu haben wären. Victor zieht es vor, in einem feuchten Betonbau zu hausen. Sein ganzer Besitz besteht aus einem Bündel Kleidern, einem Teller, Besteck, einem Kocher, einer Dose Hautcrème und einer Öllampe.
Keine Zeit für Kriegstraumata
Victor, der sich schlaksig bewegt und alles «cool» findet, ist dennoch guten Mutes. Vor sieben Jahren, am Ende des Bürgerkrieges, war das anders. Als Mitglied einer Rebellenarmee, deren Kämpfer sich mit Drogen zudröhnten und ganze Landstriche terrorisierten, sei er von der Bevölkerung bedroht und geschnitten worden. Heute frage niemand nach seiner Vergangenheit, sagt er. Von den «Okada»-Fahrern von Makeni sind die meisten ehemalige Kindersoldaten. Auf dem Marktplatz halten sie Ausschau nach Kunden. Kriegsversehrte gehen vorbei, denen Unterarme oder Hände abgehackt wurden. Mit dieser teuflischen Bosheit hatten ihnen die Rebellen bedeutet, dass sie ihre Stimme nie mehr gegen die Aufständischen in die Urne legen würden. Einige wechseln die Strassenseite, wenn sie den Burschen begegnen. Streit gebe es nie, sagt Victor.
Die Wiedereingliederung der über 10 000 ehemaligen Kindersoldaten des Kriegs von 1991 bis 2002 gilt offiziell als abgeschlossen. In Makeni finanzierten Hilfsorganisationen die Ausbildung von 450 jugendlichen Rebellen zu Motorradtaxi-Fahrern. Victor Kuruma konnte ausserdem die Schule des Hilfswerks SOS-Kinderdorf besuchen, das mit Spenden aus der Schweiz unterstützt wird. Die Schule gilt als die beste der Stadt. Seither sind die Programme und Organisationen, die sich um die Reintegration der Jugendlichen kümmerten, aufgelöst worden oder widmen sich anderen Aufgaben. Die Behandlung von Kriegstraumata ist kein Thema. Der einzige Psychiater des Landes lebt in Freetown und behandelt nur zahlende Patienten. Die früheren Kämpfer sind auf ihre Familie angewiesen oder auf sich selber gestellt.
Das Gebäude, in dem Victor Kuruma mit rund 20 ehemaligen Kameraden haust, ist ein ehemaliges Spital. Es wurde im Krieg zerstört. Dann bezogen die Rebellen darin ihr örtliches Hauptquartier und nannten es «Pentagon». Im Jargon seiner Bewohner heisst es noch heute so. Victor und seine Freunde haben ein eher gespaltenes Verhältnis zu ihrer Vergangenheit. «Issa Sesay war wie ein Vater zu mir», sagt Victor von einem der Rebellenchefs. Das Kriegsverbrechertribunal für Sierra Leone in Freetown hat Sesay und zwei weitere frühere Rebellenführer unlängst zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Das sei schon richtig, sagt Victor; Sesay sei schuldig, auch, weil er ihm und seinesgleichen die Kindheit gestohlen habe. «Aber ich kann ihn nicht hassen. Ich werde ihn im Gefängnis besuchen.»
Hilfsorganisationen bezeichnen die gesellschaftliche Wiedereingliederung der jungen Ex-Rebellen als Symbol für die nunmehr friedliche Entwicklung Sierra Leones. Für endgültige Erfolgsmeldungen ist es jedoch zu früh. Zwar herrscht Frieden im Land: Die Kriegsflüchtlinge sind aus den Lagern der Nachbarländer zurückgekehrt. Es gibt auch «Just Comes» – Sierra-Leoner, die nach England oder Amerika gingen, ihr Glück nun aber wieder in der Heimat suchen. In Freetown fahren sie hupend und mit offenem Verdeck durch die Strassen. Vor zwei Jahren brachten Wahlen einen geordneten Machtwechsel mit sich. Die schlimmsten Kriegsverbrecher wurden abgeurteilt.
Flair für möglichst hohe Messlatten
Aber die Entwicklung stockt. Obwohl das Uno-Entwicklungsprogramm seine Erhebungen aufdatiert hat, gehört Sierra Leone nach wie vor zu den einkommensschwächsten Ländern der Welt. Bei der Sterblichkeit von gebärenden Müttern und Kleinkindern steht das Land gar weltweit am schlechtesten da. Die Wirtschaft ist seit 2002 mit jährlichen Raten von 6 bis 8 Prozent gewachsen. Ausländische Wirtschaftsexperten in Freetown sehen darin eine erwartungsgemässe Erholung nach dem Stillstand der Kriegsjahre, nicht Anzeichen für einen strukturellen Fortschritt. Vor dem Krieg gab es im Land mehr als 30 Fabriken. Heute gibt es noch 4 – 2 Brauereien sowie eine Flaschen- und eine Zementfabrik. Ein kommerzieller Landwirtschaftssektor ist so gut wie inexistent. Der Ausbau der Infrastruktur hinkt der Bevölkerungsentwicklung um Jahrzehnte hinterher; Wasser- und Stromversorgung fallen häufig aus.
Die Sierra-Leoner trotzen der Unbill mit einer liebenswerten Neigung, höchste internationale Massstäbe an sich anzulegen. Das Fourah Bay College auf Mount Aureol, dem Hausberg Freetowns, soll wieder die beste Universität Westafrikas werden, die sie einmal war. Die Polizei folgt den Empfehlungen westlicher Entwicklungshelfer aufs Wort und hat in den ärmeren Wohnquartieren Einheiten zur «Familienunterstützung» stationiert. Diese verfügen zwar über keine Computer und kaum über Fahrzeuge, sollen jedoch bei Fällen familiärer Gewalt eingreifen. Die unabhängige Anti-Korruptions-Kommission gilt als vorbildlich. Letztes Jahr erliess das Parlament ein neues Gesetz, mit dem die Zahl der Vergehen, bei denen die Kommission ermitteln kann, von 9 auf 29 erhöht wurde. Fast als einzige derartige Institution in Afrika untersucht die Kommission Korruptionsfälle nicht nur, sondern verfolgt sie auch strafrechtlich.
Die Strategie, wenn es denn eine ist, gleicht dem Gespann eines Formel-1-Boliden, der einen Heuwagen zieht. Der Menschenrechtsanwalt Joseph Kamara, zurzeit stellvertretender Chefankläger des von der Uno unterstützten Kriegsverbrechertribunals, sieht darin nur Vorteile. Da das juristische Personal des internationalen Strafgerichts paritätisch aus Sierra-Leonern und Ausländern zusammengesetzt ist, erhielten die Einheimischen eine vortreffliche Ausbildung, sagt er. Das Tribunal soll die Arbeit dieses Jahr beenden. Das Verfahren gegen den ehemaligen liberianischen Präsidenten Charles Taylor, das aus Sicherheitsgründen in Den Haag stattfindet, dürfte sich bis 2010 hinziehen. Kamara weist auch auf die Breitenwirkung hin. Das Tribunal wird von Dorfvorstehern und Vertretern von Jugendklubs und Interessengruppen aus dem ganzen Land besucht. Umgekehrt treten Vertreter des Gerichts regelmässig bei öffentlichen Veranstaltungen in Quartieren und Provinzstädten auf.
Lahmende Wirtschaft
Beobachter in Freetown sind sich darin einig, dass ausländische Hilfe und die besten Reformvorhaben nichts nützen, solange die Wirtschaft nicht vorankommt. «Wir brauchen Jobs, Jobs und nochmals Jobs», sagt der westliche Berater eines Schlüsselministeriums. Die Diamanten, für die Sierra Leone berühmt ist, zeigen die Schwäche der Volkswirtschaft. Obwohl sie mit 130 Millionen Dollar letztes Jahr 60 Prozent der Exporteinnahmen beigesteuert haben, beträgt ihr Anteil an der Wirtschaftsleistung des Landes bloss knapp 6 Prozent. Nun sind die Einnahmen des Sektors als Folge der weltweiten Rezession im Vergleich zum Vorjahr um 30 Prozent eingebrochen. Die Regierung von Präsident Ernest Koroma wurde von der Entwicklung kalt erwischt. Weil sie bessere Bedingungen aushandeln wollte, kündigte sie letztes Jahr die Förderverträge mit den Minengesellschaften. Doch diese sind angesichts der Depression auf den Diamantenmärkten nicht gewillt, der Regierung entgegenzukommen. Da die Staatseinnahmen zu mehr als 50 Prozent von Zöllen und der Besteuerung des Aussenhandels abhängig sind, dürfte Sierra Leone kaum um empfindliche Sparmassnahmen herumkommen. Die Geberländer, allen voran Grossbritannien, behandeln Sierra Leone zwar grosszügig. Aber eine Erhöhung der Hilfe ist angesichts der Wirtschaftslage wenig wahrscheinlich.
Freetown macht einen gesitteten Eindruck; auch nach Einbruch der Dunkelheit kann man sich in den meisten Quartieren frei bewegen. Aber wie lange noch? In der Altstadt mit ihren zwei- und dreistöckigen Wohnhäusern aus farbig gestrichenem Holz oder Wellblech wächst die Spannung. Wohnungen und Strassen sind hoffnungslos überfüllt. Die Jugend ist politisiert und hat hohe Erwartungen. Nach einer lokalen Nachwahl kam es Mitte März im Zentrum von Freetown zu einem Streit zwischen Anhängern der Regierungspartei und Anhängern der Opposition, der sich zu gewaltsamen Ausschreitungen ausweitete. Die Polizei setzte Tränengas ein.
Transitland für Drogenhändler
Von den ehemaligen Kindersoldaten können sich Victor Kuruma und seine Kameraden zu den glücklicheren zählen. In der Hauptstadt sind Tausende von ihnen ohne Aussicht auf Arbeit. Laut dem stellvertretenden Generalinspektor der sierra-leonischen Polizei, Francis Muna, sind einige in die Kleinkriminalität abgedriftet. Mehr Sorgen als die Jugendbanden bereiten Muna die südamerikanischen Drogenkartelle, die sich in Westafrika festzusetzen versuchen. Laut Uno-Büro wird bereits mehr als ein Viertel des in Europa verbrauchten Kokains von Südamerika via Westafrika geschleust. Guinea und Guinea-Bissau gelten unter Fachleuten schon jetzt als «Narkostaaten».
Ein Kokain-Prozess am Obersten Gericht in Freetown zieht derzeit mehr Aufmerksamkeit auf sich als das Kriegsverbrechertribunal; eine venezolanische Drogenbande ist dabei angeklagt, über 700 Kilo Kokain in einem Kleinflugzeug nach Sierra Leone gebracht zu haben. Von hier sollte die Ware in Nachbarländer geschleust und mit Kurieren auf internationalen Flügen nach Europa geschmuggelt werden. Seitdem die Einzelheiten des Falls bekanntwurden, geht unter Diplomaten die Angst um, die Drogenkartelle könnten die Rolle der Kriegsfürsten im Bürgerkrieg übernehmen. «Sierra Leone ist noch nicht über dem Berg», sagt ein ausländischer Diplomat. Wenn jemand ein Interesse an einer Destabilisierung habe, sei es ein Leichtes, Unruhe zu stiften.
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