Wenn Politiker und   Militärs, die Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder   Völkermordverbrechen bewusst und zielgerichtet möglich gemacht haben,   gewöhnlich nicht vor einer internationalen Instanz zur Verantwortung gezogen   werden, ist das zunächst eine Frage der Durchsetzbarkeit von   Rechtsvorschriften und nicht ihrer normativen Geltung. An Letzterer bestehen   schon seit den Nürnberger Prozessen gegen führende NS-Täter keine Zweifel   mehr, wohingegen die Umsetzung des Völkerstrafrechts, wie es seit jener Zeit   genannt wird, ein Ideal blieb, das regelmäßig den Loyalitäten und Zwängen des   machtpolitischen Betriebs zum Opfer fiel. Ein Ideal aber blieb es, und als   solches wirkte es, allen Widrigkeiten einer manichäistischen Weltsicht zum   Trotz, weiter. Und eben darum war, als die Widrigkeiten sich auflösten, die   internationale politische und zivilgesellschaftliche Zustimmung groß, mit der   1993 und 1994 die Beschlüsse des UN-Sicherheitsrats, ein Strafgericht für das   ehemalige Jugoslawien und für Ruanda einzurichten, begleitet wurden. Und ohne   diese beiden Gerichte hätte es 1998 auch kein Römisches Statut und keinen   seit Mitte 2002 arbeitsfähigen ständigen Internationalen Strafgerichtshof   gegeben.
Natürlich kann man die   Entwicklung auch anders sehen. Nämlich als eine Entwicklung, die geprägt ist   von zynischer Doppelmoral und einer daraus folgenden Rechtswahrnehmung, die   vom Grundsatz der rechtlichen Gleichbehandlung gleicher oder vergleichbarer   Fälle nichts wissen will. Schon im Sommer 1945, bei den Verhandlungen zum   Londoner Abkommen, auf denen das Statut für das Nürnberger Militärtribunal   ausgearbeitet wurde, waren die alliierten Großmächte bemüht, den Tatbestand   der Verbrechen gegen die Menschlichkeit so zu fassen, dass eigenes   Fehlverhalten der Vergangenheit – Kolonialverbrechen, Unterdrückung von   Minderheiten, Beseitigung vermeintlicher politischer Gegner – nicht darunter   fallen.
Diese Gefahr bestand beim   nächsten Anwendungsfall der internationalen Strafgerichtsbarkeit (wenn wir   den Tokioter Prozess außen vor lassen) von Anfang an nicht. Weder der Krieg   im ehemaligen Jugoslawien noch der Völkermord in Ruanda betrafen unmittelbar   Interessen von Mitgliedstaaten des UN-Sicherheitsrats, so dass ihnen die   Entscheidung für die Einsetzung der beiden Strafgerichtshöfe leicht fiel. Als   dann doch Vorwürfe an die Adresse von NATO-Staaten laut wurden, im Kosovo-Krieg   selbst Kriegs- oder Menschlichkeitsverbrechen begangen zu haben, unternahmen   diese in ihrer teilweise parallelen Eigenschaft als Vetomächte im   Sicherheitsrat alles, um die Ermittlungen des internationalen Gerichts zu   blockieren und deren Einstellung zu erzwingen. Kein Wunder also, dass sich   einer dieser Staaten, noch dazu der mächtigste, bis heute der Idee einer   ständigen internationalen Strafgerichtsbarkeit gegenüber ablehnend zeigt und   damit ein Beispiel gibt, dem andere Staaten bereitwillig folgen.
Wie gesagt, man kann die   Entwicklung auch so sehen. Man kann sich überdies noch der Meinung derer   anschließen, die in den sich gegenwärtig nur auf Afrika erstreckenden   Aktivitäten des Gerichts einen neokolonialistischen Akt der Arroganz erkennen   und die internationale Strafjustiz in ihrer bisher praktizierten Form für   eine reichlich heuchlerische bzw. interessengeleitete Veranstaltung halten.   Doch dann sollte man auch wissen, wem diese Kritik nutzt. Und vor allem   sollte man wissen, welches denn alternativ die geeignete Antwort auf   staatlich organisierte Massenverbrechen sein soll.
Dass der Internationale   Strafgerichtshof derzeit ausschließlich in Afrika aktiv ist, liegt, neben der   Faktizität des kriegerischen Geschehens, daran, dass drei der vier afrikanischen   Fälle von den betreffenden Staatsführungen selbst vor das Gericht gebracht   wurden. Die nationale Justiz dieser Länder (Kongo, Uganda,   Zentralafrikanische Republik) war, wie es als Zulässigkeitsvoraussetzung im   Römischen Statut heißt, »nicht in der Lage, die Ermittlungen oder die   Strafverfolgung ernsthaft durchzuführen«. Diesen Umstand als Ausweis einer   wie auch immer motivierten Arroganz gegenüber Afrika verstehen zu wollen,   zeugt von einer argen Verengung des Blicks. Das gilt auch für den Fall Darfur,   der vom Sicherheitsrat an das Gericht verwiesen wurde, weil der Sudan, wie es   das Römische Statut als weitere Zulässigkeitsvoraussetzung vorsieht, über   Jahre hinweg »nicht willens war«, effektive Schritte zur Beendigung der   Gewalt in der Darfur-Provinz zu unternehmen.
Nicht von ungefähr war   die Kritik am Haftbefehl gegen Omar al-Bashir gerade in den Ländern der   Arabischen Liga und der Afrikanischen Union besonders laut. Das mag an der   geografischen Nähe oder an weltanschaulicher Verbundenheit liegen, möglicherweise   wird auch eine Art Solidarität zwischen autoritären oder diktatorischen   Regimes eine Rolle gespielt haben. Wie dem auch sei, die Forderung   jedenfalls, die dort und vereinzelt auch in anderen Ländern nach einer   strafrechtlichen Gleichbehandlung aller Staaten, schwacher wie mächtiger,   erhoben wird, ist zwar richtig, aber nur schrittweise umzusetzen und sollte   deshalb nicht in einem Willkürvorwurf gegen den jetzigen Status quo der   internationalen Strafjustiz münden. Im Weltmaßstab alles Unrecht hinnehmen zu   wollen, nur weil die strafrechtliche Ahndung eines einzigen angeblich ein Akt   der Willkür ist, ist von verquerer Logik und läuft ziemlich unverblümt darauf   hinaus, dass alles beim Alten bleiben soll. Die Chance, über Präzedenzfälle   einzelne Akteure der internationalen Politik unter Druck zu setzen und ein   konkretes, dauerhaft mahnendes Zeichen gegen die Umarmungs- und   Küsschen-Diplomatie mit mutmaßlichen Kriegsverbrechern und -verbrecherinnen   zu setzen, wäre damit vertan.
Von Dr.   Gerd Hankel
Dr. Gerd Hankel,   Jahrgang 1957, ist Mitarbeiter des Hamburger Instituts für Sozialforschung.   Der Jurist und Sprachwissenschaftler untersucht seit Jahren den Völkermord in   Ruanda, der 1994 etwa einer Million Menschen das Leben kostete. Gerd Hankel   hat dabei besonders die ruandischen Volksgerichte (»Gacaca«) untersucht. Als   Herausgeber veröffentlichte er zuletzt »Die Macht und das Recht. Völkerrecht   und Völkerstrafrecht am Beginn des 21. Jahrhunderts«.
Quelle: Neues Deutschland
 
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