Dienstag, 21. April 2009

Gewaltvideos entlarven Scotland Yard

Von Carsten Volkery

Aufnahmen, die prügelnde Polizisten bei den G-20-Protesten zeigen, setzen Scotland Yard unter Druck. Nun diskutiert auch das britische Parlament über die Vorfälle. Polizeichef Stephenson will hart gegen die Grobiane in Uniform durchgreifen - ein heikler Balanceakt.

London - Ian Tomlinsons Schatten wird immer größer, je länger er tot ist. Als er am 1. April inmitten der Proteste gegen den G-20-Gipfel im Londoner Bankenviertel umkippte und starb, war er ein gewöhnlicher Zeitungsverkäufer. Für Boulevardzeitungen wie die "Sun" war er ein Penner, alkoholabhängig und obdachlos. Die Polizei hielt sich nicht lange mit dem Toten auf, als Todesursache gab sie nach einer Obduktion "Herzinfarkt" an.

Am nächsten Tag war der G-20-Gipfel vorbei, die Regierungschefs reisten ab, und Scotland Yard feierte den Erfolg der "Operation Glencoe". So hieß die Eindämmung der Proteste. Erste Kritik an exzessiver Polizeigewalt taten die Beamten als das übliche Gemurmel nach Demos ab. Seine Leute hätten viel einstecken müssen, sagte der zuständige Polizeichef, und Polizisten ließen sich nicht einfach herumschubsen.

Es dauerte bis zum 7. April, bis sich die Gewichte in der Debatte entscheidend verschoben. An dem Tag veröffentlichte der "Guardian" das Video, in dem zu sehen war, wie ein langsam schlendernder Ian Tomlinson von hinten von einem Polizisten mit einem Schlagstock attackiert wird und zu Boden geht. Das Video machte die Runde - in London und der Welt. Wer es sah, schüttelte den Kopf über die rohe Attacke.

Seither findet Scotland Yard sich in einem Kessel wieder, den die britischen Medien täglich enger ziehen. Inzwischen herrscht der Eindruck vor, die Polizei sei während des Gipfels außer Kontrolle geraten: Es ist zu lesen von Polizisten, die über die Köpfe von liegenden Demonstranten hinweg trampeln oder Frauen an den Haaren über den Asphalt schleifen. Es gibt ein Video, in dem ein Polizist mit seinem Schild auf einen Demonstranten eindrischt und ein anderes, in dem eine Frau in der Menge eine knallharte Ohrfeige kassiert. Ein am Dienstag veröffentlichtes Video zeigt, wie ein Demonstrant von einem Polizeihund in den Arm gebissen wird.

Die Bilder verfehlen nicht ihre Wirkung. 59 Prozent der Briten halten laut einer neuen Umfrage die G-20-Polizeioperation für übertrieben, nur 31 Prozent haben den Eindruck, dass sie nötig war.

Der öffentliche Druck führt dazu, dass sich diese Woche gleich zwei Parlamentsausschüsse mit dem Fall Tomlinson und der Polizeitaktik während des G-20-Gipfels beschäftigen. In einer Sitzung des Innenausschusses am Dienstag wurde die Polizeitaktik des Einkesselns hinterfragt. Der Ausschussvorsitzende Keith Vaz nannte die Videos verstörend. Der unabhängige Königliche Polizei-Inspektor Denis O'Connor, der im Auftrag von Scotland Yard die Polizeitaktik überprüft, pflichtete ihm bei und versprach den Abgeordneten volle Aufklärung. Im September werde er einen Bericht vorlegen. Er sei angesichts der Videos "sehr besorgt", sagte Polizeiveteran O'Connor.

Auch der Menschenrechtsausschuss wird sich mit dem Thema beschäftigen. Der Ausschussvorsitzende Andrew Dismore sagte, der Job der Polizei sei es, "Protest zu ermöglichen, nicht zu verhindern".

Demonstranten dokumentieren Polizeieinsätze akribisch

Seit einiger Zeit sind auf Demonstrationen weltweit immer mehr Fotohandys und Digicams zu beobachten. Die Aktivisten sind dazu übergegangen, Polizeieinsätze akribisch zu dokumentieren. Selten hatte dies solche Konsequenzen wie in London. Angeführt vom "Guardian" werden immer neue Videos und Fotos von prügelnden Polizisten veröffentlicht. Über 185 Beschwerden hat die unabhängige Polizeibeschwerdekommission (IPCC) schon erhalten - ein historischer Rekord. 90 davon werden geprüft, in drei Fällen leitete die IPCC bisher eine Untersuchung gegen die beteiligten Polizisten ein.

Das Nachhaken zeigt Erfolg. Eine zweite Obduktion von Tomlinsons Leiche, die von der IPCC und der Familie in Auftrag gegeben worden war, sorgte am Freitag für eine kleine Sensation: Demnach starb er nicht an einem Herzinfarkt, sondern an inneren Blutungen. Beide Obduktionen sind vorläufig, die Ursache der inneren Blutungen ist noch nicht geklärt.

Doch steht die Londoner Polizei nun unter Erklärungsdruck: Sie muss sich vorwerfen lassen, eine mögliche Mitschuld am Tod Tomlinsons vertuscht zu haben. Der Beamte, der zugeschlagen hat, ist vom Dienst suspendiert und steht unter dem Verdacht der fahrlässigen Tötung. Seine Anwälte haben nun eine dritte Obduktion gefordert, um ein klares Bild zu bekommen. Ein weiterer Beamter wurde suspendiert, weil er eine Demonstrantin, die 35-jährige Nicola Fisher, mit der Hand ins Gesicht geschlagen hat. Auch diese Szene wurde auf Video festgehalten.

Für den neuen Scotland-Yard-Chef, Sir Paul Stephenson, ist es die erste große Bewährungsprobe. Angetreten war er im Dezember als Saubermann, der im skandalumwitterten Yard aufräumen will. Nun muss er einen schwierigen Spagat meistern. "Stephenson muss zwei Bälle in der Luft halten", sagte der frühere Polizeikommandeur John O'Connor dem "Guardian". "Er muss die Öffentlichkeit zufriedenstellen und seine Männer unterstützen."

Bisher konzentriert sich Stephenson auf die Öffentlichkeit. Er hat den unabhängigen Inspektor O'Connor damit beauftragt, die Polizeitaktik zu überprüfen. Er hat seine Leute angewiesen, sämtliche Polizeivideos von den Gipfeltagen am 1. und 2. April - insgesamt mehrere hundert Stunden - auf Anzeichen übermäßiger Gewalt zu durchforsten. Und er hat klargestellt, dass Beamte ihre Erkennungsmarken im Einsatz offen zu tragen haben und sie nicht, wie beim G-20-Gipfel mehrfach geschehen, verdecken dürfen.

Londons Polizei: Weniger martialisch ausgerüstet als andere Kollegen

Interessenvertreter der Polizei warnen vor einer "Hexenjagd" und fürchten, dass die Truppe demoralisiert werden könne. "Diese Angriffe auf die Polizei müssen ein Ende haben", forderte Paul McKeever, Chef des Polizeibundes. "Wir dürfen nicht die Masse für Probleme der wenigen verurteilen", sagte Sir Ken Jones, Präsident der Vereinigung der Polizeibeamten (Acpo), dem BBC-Radio. Die Methoden der englischen Polizei seien angemessen, betonte Jones. "Ich kenne kein anderes Land, das auf Wasserwerfer, CS-Gas und Gummigeschosse verzichtet".

Tatsächlich wirken die Londoner Polizisten im Vergleich zu behelmten Berliner Kampfeinheiten, wie sie etwa an jedem 1. Mai aufmarschieren, deutlich weniger martialisch. Selbst die Aktivisten des Climate Camp räumen in ihrer Abschlusskritik des G-20-Polizeieinsatzes ein, dass die Polizei sich nicht anders verhalten habe als bei anderen Protesten auch.

Aber, und das macht den entscheidenden Unterschied: Es gab diesmal einen Toten: Ian Tomlinson. Und es gab jemanden, der den Übergriff des Polizisten gefilmt hat: Ein New Yorker Fondsmanager, der sich entschieden hat, das Video an die Medien zu geben, als er sah, dass Tomlinsons Familie von der Polizei keine Antworten bekam.

Scotland-Yard-Chef Stephenson dürfte daher in diesen Tagen ein Gefühl von Déjà vu haben. Unter seinem Vorgänger Ian Blair hatten Polizisten im Juli 2005 den Brasilianer Jean Charles de Menezes irrtümlich in der U-Bahn erschossen. Sie hatten ihn für einen Selbstmordattentäter gehalten. Auch damals hatte Scotland Yard nicht gleich den Fehler eingestanden, sondern sich zunächst verteidigt. Von dem Debakel hat sich Blair nie erholt.

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