Freitag, 24. April 2009

"Ground Zero" ergrünt

Dürren, Hunger, Wüstenbildung: Die Sahelzone gilt als Inbegriff einer Katastrophenregion. Nun gibt es gute Nachrichten: Viele Millionen Bäume wachsen in kargem Sandboden heran.

Kein Dorf zu sehen, nirgends, und das ist gut so, findet Chris Reij. Er steht auf einer Sanddüne am Rande der Sahara im Wüstenstaat Niger. Der 60-Jährige schwitzt, seine Nase ist von der Sonne gerötet, es sind 42 Grad im Schatten. “Da drüben konnte man noch vor 20 Jahren das nächste Dorf sehen”, sagt er, “aber jetzt ist es völlig von den Bäumen verdeckt.”

Die Wüste lebt, und Reij kann es belegen: mit Satellitenbildern, Fotos, mit Zahlen, Daten und Fakten.

“Wir beobachten hier in der Sahelzone die vielleicht größte erfolgreiche Bewaldungsaktion der Gegenwart”, sagt der Geograf von der Freien Universität Amsterdam. “Auch seriöse Organisationen behaupten immer wieder, dass sich die Sahara Jahr für Jahr weiter nach Süden frisst, aber das stimmt so nicht.”

Seit 20 Jahren kommen allein in Niger jedes Jahr etwa eine viertel Million Hektar Baumbestand dazu, mittlerweile ist eine Fläche ergrünt, groß wie die Niederlande. Insgesamt, schätzt Reij, wachsen dort derzeit rund 200 Millionen neue Bäume heran. Und in den Nachbarländern Burkina Faso und Mali sieht es ähnlich aus.

Dieser Befund ist erstaunlich. Die Sahelzone gilt als Inbegriff der Hoffnungslosigkeit, als Armenhaus der Erde, geplagt von Dürre, Elend und Hungersnot. Wütend brennt die Sonne auf diesen Streifen Ödland, der sich am Südrand der Sahara vom Senegal im Westen bis Somalia im Osten einmal quer durch Afrika zieht.

Wer Sahel sagt, denkt meist an die Bilder von ausgemergelten Kindern und verendeten Kühen. Derlei Fotos brannten sich ein ins öffentliche Gedächtnis in den Dürrejahren von 1968 bis 1973, als der Regen praktisch ausblieb und über hunderttausend Menschen verhungerten.

“Ich bin voller Bewunderung für jeden, der es schafft, hier zu leben”, sagt Reij. Der Regen fällt spärlich und nur zwischen Mai und Oktober, wenn überhaupt. Wenn nicht, wird wieder gestorben auf den Dörfern. Dann bekommt Afrika etwas Nothilfe und der Westen ein paar Schlagzeilen, wie etwa 2004, als eine Heuschreckenplage die Region heimsuchte. Danach beginnt das Warten auf die nächste Dürre, und die kommt bestimmt.

Niger ist eines der ärmsten Länder der Welt. Der Anteil der Entwicklungshilfe an den Staatsausgaben beträgt rund 40 Prozent. Weltmeister ist das Land allerdings im Kinderkriegen. Siebenmal im Leben gebiert jede Frau hier im Durchschnitt.

“Viele Leute sehnen sich mittlerweile danach, auch mal etwas Positives aus Afrika zu hören”, sagt Reij, während ihn das Rütteln der Schlaglöcher fast an die Decke des Allrad-Toyotas schleudert. Die Sandpiste ist so staubig, dass der Chauffeur mitten am Tag mit Fernlicht fährt, damit er gesehen wird von den entgegenkommenden Lastwagen, irrwitzig bepackt, wie sie sind, mit Stühlen, Menschen, Ziegen und Schafen.

Runde Lehmhütten ziehen vorbei. Frauen mit Mörsern sitzen auf dem Boden und stoßen mit Holzknüppeln Hirse klein, die sie zu einem schweren Brei mischen. Lesen und Schreiben kann hier nicht einmal jeder Dritte. Jedes vierte Kind stirbt, bevor es fünf ist. Malaria, Polio und HIV grassieren. Die Lebenserwartung liegt bei etwa 56 Jahren. Und wenn einmal ein Allradfahrzeug über die Straßen holpert, dann gehört es wahrscheinlich zu einer Hilfsorganisation.

Doch alles könnte viel schlimmer werden, falls der Klimawandel die knappen Niederschläge langfristig weiter drücken sollte, wie viele befürchten. Die Sahelzone sei der “Ground Zero des Klimawandels”, warnt Jan Egeland als Sonderberater des Uno-Generalsekretärs. Reij hält nichts von derlei Untergangsrhetorik - auch wenn er eigentlich genau deswegen hier ist: um herauszufinden, wie ein knochentrockenes Land auf noch mehr Dürre reagieren kann.

3000 Kilometer legt er diesmal zurück in nur fünf Tagen, auf einer beschwerlichen Tour von Dorf zu Dorf, oft über sandige Pisten, gemeinsam mit Kollegen aus Niger und den Niederlanden.

Die beiden Fahrzeuge sind von Misereor, dem katholischen Hilfswerk, das derzeit ein Forschungsprojekt auflegt zum Thema Klimawandel in Armutsregionen weltweit. Auch das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und die Stiftung der Münchener Rück beteiligen sich.

Mit Ende zwanzig ging Reij erstmals nach Burkina Faso. Seitdem betreibt er eine Art nordsüdliche Pendeldiplomatie: Seit 30 Jahren schon ist er jährlich mehrfach im Sahel, um dann in England, Schweden, der Schweiz oder in Australien Vorträge zu halten. Das Thema: “Lernen vom ärmsten Land der Welt”.

Was, bitte schön, kann man von Niger lernen? “Das fragen Sie am besten die Experten, die ich Ihnen gleich vorstellen werde”, sagt er in Dan Saga, einem Dorf unweit der Stadt Maradi.

Zwei Dutzend Männer hocken unter einem Sonnenschutz aus Stroh auf dem Boden, die Älteren in Boubous, den langen, traditionellen Gewändern, die Jungen eher in T-Shirts mit dem Emblem von Manchester United darauf.

“Anfang der Achtziger blieb der Regen aus, und viele Kinder verhungerten”, erzählt der Dorfälteste von Dan Saga und malt mit einem Strohhalm Linien in den Sand zu seinen nackten Füßen. “Die Dünen breiteten sich aus, sie waren schon fast im Dorf. Um an Geld zu kommen, hatten wir die Bäume gefällt. Ohne Bäume aber fehlte der Windschutz für die Felder, die Saat wurde vom Wind verweht.”

Dan Saga schien todgeweiht, gefangen im Teufelskreis aus Dürre und Not. Um dem Hunger zu entkommen, gingen viele junge Männer als Hilfsarbeiter ins benachbarte Nigeria, das wegen seiner Petrodollar im Vergleich als reich gilt.

Ungeplantes Experiment mit eindeutigem Ergebnis

Doch dann geschah etwas Erstaunliches.

Als im Juni die Regenzeit wieder begann, gedieh die Hirse auf den Feldern der Fremdarbeiter deutlich besser - denn die hatten keine Gelegenheit gehabt, ihre Gao abzuhacken, wie die dornigen, robusten Akazien hier genannt werden.

Es war wie ein ungeplantes Experiment mit eindeutigem Ergebnis: “Gaos bieten Windschutz für die Hirse. Sie spenden Schatten für das Vieh, man kann Äste abschneiden für Feuerholz, und in der Trockenzeit können die Ziegen und Kamele das Laub fressen”, erklärt Ali Neino, mit 31 Jahren der Wortführer der jüngeren Generation im Dorf.

Bald begannen auch die anderen Bauern, ihre Äcker gezielt mit Akazien zu durchsetzen - und sahen sich im Jahr 2005 bestätigt. Wieder kam eine Dürre, wieder litten zigtausend Kinder an Unterernährung. “Uns aber ging es diesmal besser als den Nachbardörfern”, sagt Ali Neino. “Bei uns starb kein einziges Kind.”

Das Beispiel machte Schule, andere Dörfer zogen nach. Heute betreiben die Bewohner von Dan Saga sogar eine Art Baumschule, um Samen zu ziehen: schnell wachsende Eukalyptushaine, die Dünen stabilisieren; schlanke Neembäume, deren weiche Blätter bei Malaria die Fieberschübe lindern sollen; und natürlich Affenbrotbäume, von denen die Legende sagt, dass sie so unförmige Äste hätten, weil Gott sie falsch herum in den Boden gerammt habe.

Reij liebt Erfolgsgeschichten wie die des Dorfes Dan Saga, immer wieder organisiert er Besuchsreisen für Bauern, damit sie sich untereinander austauschen. Auch diesmal bricht er mit den jungen Bauern auf, um ihre Felder zu besichtigen. “Vor 25 Jahren waren hier kahle Äcker”, sagt er, “heute ähnelt es eher einer Art Parklandschaft.”

An den Dürren im Sahel könne man nichts ändern, sagt Reij. “Aber die Bäume erhöhen die Widerstandsfähigkeit. Sie können den Unterschied ausmachen zwischen einer bloßen Zeit des Mangels und einer Katastrophe für die Menschen.”

Reij ist ungeduldig, ihm läuft die Zeit davon, in ein paar Jahren wird er pensioniert, und Reisen in die Sahelzone sind Knochenarbeit: Meist wimmelt das Fleisch auf dem Markt von Fliegen, die Hotelbetten sind oft so durchgelegen, dass er die Matratze lieber auf den Boden legt, und morgens um fünf wecken ihn die Gebetsrufe der Muezzins.

Trotzdem hat er sich auch dieses Mal ein straffes Reiseprogramm verordnet. Ein paar Stunden später, ein anderes Dorf, wieder hockt er bei einer Dorfversammlung auf dem Boden und dämpft zunächst die Erwartungen: “Ich habe keine Geschenke zu verteilen.” Stattdessen bietet er Storys, fast wie ein Griot, ein traditioneller Bänkelsänger.

Er will nicht als Experte auftrumpfen. Lieber erzählt er Geschichten wie diejenige der Akazien von Dan Saga, in einfachem Französisch mit westafrikanisch rollendem R, theatralisch und mit ausladenden Gesten.

Dann hört er zu. Was die Bauern ihm antworten, verwendet er wiederum für seine Analysen, die er beispielsweise Bankern in London vorstellt. Immer wieder sorgen seine Berichte für Aufsehen, wie auch seine Auswertung von Satellitenaufnahmen, gemeinsam mit einem amerikanischen Kollegen. Sie belegt eindrucksvoll das Ergrünen der Sahelzone. Auch andere Kollegen waren bereits über das Phänomen gestolpert, doch waren sie skeptisch geblieben, weil sie keine Erklärung parat hatten. “Man muss vor Ort sein, um zu verstehen, was hier passiert”, sagt Reij.

Er steht unter einer Akazie und preist deren Vorzüge: “Weil sie gute Schattenspender sind, ziehen sie das Vieh an, was ihnen wiederum eine natürliche Form von Düngung verschafft.” Außerdem böten Akazien eine Art biologischen Kontrapunkt: “Sie tragen Blätter in der Trockenzeit, wenn kaum Gras wächst.” Das Biotop, fährt Reij fort, ziehe zudem Termiten an, die mit ihren Gängen den Boden auflockern und Nährstoffe aus der Tiefe nach oben buddeln.

Die Aufforstung selbst ist dabei fast kostenlos, denn sie geschieht meist von selbst wie durch eine unsichtbare Hand: Die Bauern hacken einfach flache Mulden in den teils sandigen, teils steinharten Boden, sogenannte Zaï, und schon bald sprießen dort Bäume, denn der Kot der Viehherden ist meist voller Samenkörner.

“Hier bekämpfen die Betroffenen von sich aus ihre eigene Armut mit ihren eigenen Mitteln”, sagt Reij. Die Bauern brauchen dafür keinen Mineraldünger, kein Hochleistungssaatgut, keine teuren Landmaschinen. Ein sandiger Acker, eine Hacke und etwas Mundpropaganda genügen.

Not mache erfinderisch, schreibt Reij in seinem Sammelband “Farmer Innovation in Africa”, “auch wenn vielen Bauern gar nicht bewusst ist, dass sie experimentieren”. Sein großes Vorbild ist Yacouba Sawadogo, ein Bauer aus Burkina Faso, der weder lesen noch schreiben kann. Er gilt als Vater der modernen Zaï-Technik, pflanzte zwölf Hektar Wald, unterwies andere Bauern und startete so eine Massenbewegung. “Diese Innovatoren hätten eigentlich einen Nobelpreis verdient”, sagt der Geograf.

“Stop! Arrêtez!”, ruft er dem Fahrer zu. Er springt aus dem Wagen und läuft neugierig zu einem Baum, in dessen Krone ein Bauer balanciert und mit einer Axt vorsichtig Brennholz schlägt.

Offiziell ist das Abhacken von Ästen verboten - ein gutgemeintes Gesetz, das nicht selten jedoch das Gegenteil bewirkt. Es lade geradezu ein zum Kahlschlag, weil die Bäume als Staatseigentum wahrgenommen werden, sagt Adam Toudu, Professor für Agronomie in der Hauptstadt Niamey. “Die Weltbank fordert immer einen starken Staat, aber manchmal ist ein schwacher Staat gar nicht so schlecht”, meint Reij. “Die meisten Bauern kümmern sich nicht um das Forstgesetz, sondern betrachten die Bäume auf ihrem Acker als ihr Eigentum.” Deshalb dünnen sie die Kronen nur aus, anstatt den ganzen Baum zu verfeuern.

Zuletzt führt die Tour noch in ein Dorf bei Tahoua, wo es schon in normalen Jahren kaum regnet. Bislang wurde der dortige Baumbestand als Erfolgsmodell gefeiert. Doch derzeit sind Baumpiraten unterwegs. Sie holzen Akazien ab, um das Holz zu verschachern. Fatalistisch verweisen die Dorfältesten auf Allahs Willen.

Doch auch hier weiß Reij Rat: “Man kann Allah auch ein bisschen helfen bei seiner Arbeit”, meint er - und empfiehlt, nachts Wachposten aufzustellen.

Von Hilmar Schmundt

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