Für Evangelikale ist Homosexualität Ausdruck von Unzufriedenheit. Und sie wollen ja nur helfen. Ziel ist ein bibeltreues, heterosexuelles Leben. Für die Teilnehmer ist es eher eine Tortur. VON MALTE GÖBEL
"Für mich war das ein Problem, das weg musste."
Das Seminar wollte den Teilnehmern "Auswege aus der Homosexualität" zeigen - doch Georg* fand heraus, dass ihn so ein Ausweg gar nicht interessierte. Stattdessen galt sein Interesse Matthias*, der auf dem Stuhl neben ihm saß. Georg, damals 29 Jahre alt und aktiv in der Studentenmission, war zum Seminar gekommen, weil er wissen wollte, wie sein Glaube mit seinen homosexuellen Empfindungen zusammenpassen könnte. "Mir war bewusst, dass das von der Bibel her nicht okay ist", sagt er heute, "aber ich wollte es deswegen nicht unbedingt loswerden."
Die meisten anderen Besucher des Seminars schon. Homosexualität war für sie ein Problem, viele hatten schon Therapien hinter sich. "Das war ein Trümmerfeld psychisch angeknackster Menschen", erinnert sich Georg. Am liebsten wäre er sofort wieder abgereist - wenn da nicht Matthias gewesen wäre. Gemeinsam schwänzten sie die Sitzung: Statt sich zu überlegen, wie nahe sich Männer kommen dürfen ("Ist ein Kuss noch erlaubt?"), gingen sie lieber gemeinsam spazieren.
Die Seminare und Beratungen mit dem Ziel eines heterosexuellen Lebens gibt es noch heute. Organisationen wie die Offensive Junger Christen (OJC), bei denen Werner Beiratsmitglied ist, Living Waters oder Wüstenstrom arbeiten vor einem evangelikalen Hintergrund. Evangelikale Christen sehen die Bibel als irrtumsfreie Grundlage ihres Glaubens, sie nennen sich "bibeltreu". Und zu Homosexualität macht die Bibel klare Ansagen: "Wenn ein Mann sich mit einem anderen Mann wie mit einer Frau vergeht, haben beide Schändliches begangen. Sie sollen mit dem Tode bestraft werden; es lastet Blutschuld auf ihnen", heißt es im dritten Buch Mose (20, 13).
Diese Blutschuld wollte Martin* nicht auf sich nehmen. Seine Eltern hatten ihn evangelikal erzogen, aber er fühlte sich zu Männern hingezogen. "Für mich war das ein Problem, das weg musste", sagt er heute. Im Jahr 2000 nahm Martin, damals 20 Jahre alt, deswegen Kontakt zur "Seelsorgeinitiative Wüstenstrom" auf. Der erste Besuch bei der Organisation war befreiend für ihn. "Wüstenstrom hat mir klargemacht, dass ich Hilfe brauche. Und sie machten mir Hoffnungen, dass ich das homosexuelle Begehren loswerden kann."
Seit Mitte der Neunzigerjahre berät der Verein bei Fragen zur Sexualität. Leiter ist der Diakon und Sozialarbeiter Markus Hoffmann, sein wichtigster Mitarbeiter ist der Sozialarbeiter Stefan Schmidt. "Wir beraten derzeit etwa 70 Ratsuchende, die Fragen hinsichtlich Sexualität und Identität haben. Etwa die Hälfte von ihnen beschreibt homosexuelle Gefühle", sagt Schmidt. Er betont, dass die Beratungen ergebnisoffen seien: "Es geht uns nicht darum, Menschen von homosexuell nach heterosexuell zu transportieren. Wir bewerten im Beratungsprozess Homosexualität und Heterosexualität nicht", sagt Schmidt.
Die beiden Wüstenstrom-Berater hatten früher selbst homosexuelle Gefühle, leben aber beide heute heterosexuell und bibeltreu. Wüstenstrom ist ihr Lebenswerk. In einem Beitrag auf der schweizerischen christlichen Internetseite jesus.ch wird deutlich, wes Geistes Kind sie sind: "Gott hat den Menschen als Mann und Frau geschaffen. Somit ist jeder Mensch grundsätzlich heterosexuell - und manche haben ein homosexuelles Problem", schreibt Hoffmann dort.
Für Wüstenstrom ist sexuelle Orientierung nicht genetisch bedingt oder durch frühkindliche Prägung festgelegt, sondern Ausdruck einer Unzufriedenheit mit sich selbst. Das ist das Perfide an der ganzen Sache: Natürlich sind die meisten der Ratsuchenden aufgrund ihres christlichen Hintergrunds nicht glücklich über ihre sexuelle Orientierung und wünschen sich, ein gottgefälliges Leben in Heterosexualität zu führen. Wüstenstrom hilft gern. "Wir sagen nicht, dass Homosexualität verändert werden muss", erklärt Stefan Schmidt. "Wenn aber ein Mensch den Wunsch hat, darüber nachzudenken, sollte er es fachlich begleitet tun dürfen."
Martin sagten die Berater, er müsse an den Kern seines Schmerzes kommen. Also: keine sexuellen Kontakte, keine homosexuellen Gedanken - das lenke nur ab. Er ließ sich zwei Jahre lang regelmäßig von Wüstenstrom beraten, aber besser ging es ihm nicht: "Wir haben immer im Kreis geredet und jede Sitzung wieder bei null angefangen." Im Herbst 2006 war er am Ende und suchte einen professionellen Therapeuten auf - trotz Schmidts Versuch, ihn umzustimmen: "Der kann dir nicht helfen!' hat er gesagt", erinnert sich Martin. Doch der Therapeut ermutigte Martin, selbst zu entscheiden, wie er sein wollte. "Wüstenstrom dagegen wollte mich verändern."
Professionelle Therapeuten sehen die Vorgehensweise des Vereins kritisch. "Beim Coming-out darf man die Zweifel und Ängste eines Menschen nicht noch verstärken", sagt der Psychologe Ralf Nicodemus von der Berliner Schwulenberatung. Er betreute vor knapp drei Jahren einen jungen Mann, der vorher bei Wüstenstrom Rat gesucht hatte. "Ich hatte den Eindruck, dass Wüstenstrom keinen liebevollen Blick auf sich selbst vermittelt, sondern einen bestrafenden und verurteilenden", sagt der Psychologe. Er zweifelt an den Erfolgsaussichten der Beratungen. "Man kann Sexualität sublimieren und kontrollieren", sagt er, "aber dann ein glückliches heterosexuelles Leben zu führen, das funktioniert nur bei wenigen." Martin hat in seinen zwei Jahren bei Wüstenstrom niemanden kennengelernt, bei dem die Beratung der Organisation dauerhaft gewirkt hat. Zwei seiner Bekannten landeten sogar in der Psychiatrie. "Selbst wenn die Wüstenstrom-Leute recht haben, ist es da doch besser, schwul zu leben, als sich solche Probleme zu machen", sagt er heute.
Martin hat aufgehört, mit sich selbst zu kämpfen. Er lebt in Stuttgart, arbeitet als Schreiner und besucht "Zwischenraum", eine evangelikale schwul-lesbische Gruppe. Dort kann er über seinen Glauben reden. Denn den hat er immer noch. Auch Georg und Matthias, die sich auf dem Heilungsseminar kennenlernten, sind weiterhin gläubig und engagieren sich in der Hamburger Gemeinde der homofreundlichen Metropolitan Community Church. "Gott hat kein Problem mit meinem Schwulsein", sagt Georg. Die verurteilenden Bibelstellen müsse man im historischen Zusammenhang sehen. Tatsächlich gibt es viele andere Bibelzitate, die aus heutiger Sicht keinen Sinn ergeben: Demnach darf man kein Mischgewebe tragen (3. Mose, 19, 19), und auf Sonntagsarbeit steht die Todesstrafe (2. Mose, 35, 2).
Heute beurteilt Georg das Seminar von 1990 als Glücksfall - "auch wenn ich es eigentlich niemandem zumuten würde, das war psychische Vergewaltigung". Matthias, neben dem er damals saß, und er haben vor vier Jahren in ihrer Gemeinde geheiratet. "Nach dem Seminar habe ich überlegt, ob ich Roland Werner eine Postkarte schreibe und mich bei ihm bedanke", erzählt er lachend. "Aber wahrscheinlich hätte der das nicht so toll gefunden."
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