Donnerstag, 16. April 2009

Die Maus, die brüllte

Die Casting-Show "Britain's got talent" hat dem Internet nach Paul Potts nun das zweite Gesangsphänomen beschert. Die unscheinbare 47-jährige Schottin Susan Boyle eroberte mit ihrem Vortrag erst Jury und Publikum, dann das Netz.

London - Susan Boyle ist jetzt berühmt. Für diesen Moment. Vielleicht auch ein bisschen länger, etwa für die Dauer ihres ersten Plattenvertrags, den sie nach ihrem Auftritt in der Casting-Sshow "Britain's got talent" unzweifelhaft abschließen wird.

Susan Boyle ist jetzt ein Star. Am vergangenen Samstag verblüffte die 47-Jährige ähnlich wie vor ihr Paul Potts das Publikum und die Jury der Fernsehshow, vor allem Simon Cowell, Plattenproduzent und vorsitzenden Scharfrichter.

Die Erfolgsformel im Fall Boyle ist dieselbe wie bei Paul Potts: Ein Mensch, dem das Leben bislang nicht viele Chancen gegeben zu haben scheint - Susan ist unscheinbar, arbeitslos, wurde laut eigener Aussage noch nie geküsst und hat auf der ganzen Welt - schluchz - nur ihre Katze "Pebbles" zum Liebhaben - erblüht zum Performer.

Susan Boyle sang mit Verve die Ballade "I Dreamed a Dream" aus dem Musical "Les Misérables" - der Gegensatz zwischen ihrer unglamourösen Erscheinung und ihrem zu Herzen gehenden Vortrag war so gewaltig, dass das Publikum im Saal johlte und trampelte, die Moderatoren juchzten, die Jury sich benetzten Auges zeigte und Zuschauerin Demi Moore ihrer Rührung sogleich per Twitter Ausdruck gab. Die amerikanische Schauspielerin nimmt das Internet-Phänomen Boyle übrigens auf ihre Kappe, will sie es doch gewesen sein, die als erste aus ihrem Twitter-Beitrag auf das Video des Auftritts verlinkte.

Mittlerweile wurde das Video des Auftritts bei YouTube millionenfach abgerufen, weltweit berichten TV-Sender, Websites und Zeitungen.

Viel Berichtenswertes gibt es dabei gar nicht, vielmehr übernehmen die Medien die Mittlerrolle desjenigen, der am Stammtisch eine unglaubliche Geschichte gehört hat und sie weiterträgt, immer weiter.

Susan Boyle, die jetzt von ihren 15 Minuten des Ruhmes überwältigt wird, lebt im schottischen Blackburn und spricht mit dem weichen Akzent, dem rollenden "r" ihrer Heimat. Sie stamme aus einer musikalischen Familie, sei das jüngste von neun Kindern, sagte Boyle der BBC. Sie singe öffentlich seit ihrem zwölften Lebensjahr, im Kirchenchor und in Schulaufführungen. Auch in der örtlichen Karaoke-Szene sei Susan bestens bekannt, heißt es in dem Fernsehbeitrag aus dem Off, während Bilder eingespielt werden, die Susan in ihrer Küche zeigen, beim Teekochen. Sie sei eine eifrige Kirchgängerin, sei früher in der Gemeindearbeit tätig gewesen.

Sie hat lockiges Haar, markante Augenbrauen und Übergewicht. Für den Auftritt bei "Britain's got talent" wählte sei ein goldfarbenes Kleid, das ihr nicht besonders gut stand. Dass in diesem unglamourösen Menschen eine Stimme steckt, die weltweit Menschen anzurühren vermag, erstaunt die Berichterstatter.

Der Verblüffung versucht man mit dem üblichen Einfallsreichtum bei der Schlagzeilengebung Herr zu werden: Als "hairy angel", haariger Engel, wird die 47-Jährige von der britischen "Daily Mail" bezeichnet, als "schottische Jungfrau" vom "Australian", als "Virgin Atlantic" von der "Sun", als "Ungeküsste Frau" von CNN. Die "New York Times" veröffentlichte eine "Rechtfertigung für Heulsusen" und versicherte ihre Leserschaft, es sei nicht nur völlig in Ordnung, sondern geradezu gesund, aus Rührung über Susan Boyle ein paar Tränchen zu verdrücken.

Der britische "Guardian" rechnet erbittert mit all den Maskara-zugekleisterten Tussis im Publikum der Show ab und mit den arroganten Juroren, die Boyle vor ihrer Gesangseinlage verächtlich beäugten und sie verhöhnten, sie als hässlich abstempelten und deshalb überzeugt gewesen seien, Boyle sei talentfrei.

"Sing, Susan", schreibt die "Guardian"-Kommentatorin Tanya Gold, "sing für die hässliche Masse, die dich gar nicht verdient hat."

Ob Boyle tatsächlich mehr hat als nur Talent, ob sie tatsächlich eine großartige Sängerin ist - danach fragt momentan keiner. Das Gejohle der Menschen im Saal war während des Vortrages ohnehin so laut, das man nach den ersten Tönen kaum noch etwas anderes hörte. Boyle hat unzweifelhaft ein imposantes Stimmvolumen, ob ihr auch Nuancen und anspruchsvolle Phrasierungen gelängen, ist nicht gesichert.

Darum geht es allerdings auch gar nicht. Man liebt Susan Boyle nicht wegen ihrer Stimme, sondern weil sie, der Underdog, die graue Maus, es allen gezeigt hat.

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