Über die Hügel
Sarha. Dieses Wort meint im Arabischen eigentlich den morgendlichen Viehauftrieb. Sarha bezeichnet, auf den Menschen übertragen, eine Wanderung: "Ein Mann, der auf die Sarha geht, wandert ziellos, weder durch Zeit noch Ort eingeschränkt. Er geht, wohin ihn seine Stimmung treibt."
Raja Shehadeh, Schriftsteller, Anwalt und Kämpfer gegen die israelische Siedlungspolitik im Westjordanland, unternimmt sechs Sarhas, von denen er in seinem Buch berichtet. Dabei dehnt er die Wanderungen durch das Hügelland rund um Ramallah nicht nur geographisch, sondern auch zeitlich aus. Durch historische Exkurse will er zeigen, wie es so weit kommen konnte, dass die unberührte Landschaft seiner Kindheit und Jugend, in die er sich vor den beengten familiären Verhältnissen immer wieder flüchtete, wie dieses Land seiner Ahnen plötzlich von israelischen Siedlungen, Straßen und nun auch noch von einer "Apartheid-Mauer" durchtrennt wird.
Seine Wanderungen umfassen den Zeitraum der vergangenen 25 Jahre, die Exkurse reichen aber viel weiter zurück. Zum Cousin seines Großvaters etwa, der sich entschied, ein einfacher Steinmetz zu bleiben, statt zu studieren. Shehadeh erzählt in bewundernder, fast zärtlicher Weise, wie dieser Mann zusammen mit seiner jungen Frau in den Hügeln vor Ramallah in den Flitterwochen ein Steinhaus baute, ein Qasr, zu dem er wann immer möglich aus der Stadt zurückkam.
Und wenn der Autor mit seinem Neffen zu dem verfallenen Qasr zurückkehrt und den Sessel, den der Steinmetz einst aus einem Steinbrocken schlug, umgestürzt und unbrauchbar vorfindet, dann breitet sich darüber Tschechowsche Kirschgartenstimmung aus: die Trauer über eine für immer verlorene Zeit.
Shehadeh ist parteiisch, und das weiß er auch. Zu stark ist der Patriot und der Menschenrechtsanwalt in ihm. Er bezichtigt sich selbst des "Tunnelblicks", den er bei den Reisenden des 19. Jahrhundert kritisiert, weil sie sein Land meist als einen öden Stein- und Dornenhaufen abtaten. Wie anders da der Autor, der ein liebevolles Verhältnis zur spärlichen Natur entwickelt: "An der Terrassenmauer entlang wuchs Rosmarin-Seidelbast mit seinen dicken Blättern und gedeckten rosafarbenen Blüten (. . .) Das Grün der Blätter sah gegen das Grau der Steine so aus, als hätte jemand es sorgfältig ausgewählt, um diese alte Mauer zu dekorieren." Geraten ihm diese Beschreibungen auch manchmal etwas lang, so werden sie bald von politischen Fakten abgelöst. Anhand von Einzelfällen erzählt Shehadeh, wie sich Israel illegal palästinensisches Land aneignet, und wie aussichtslos sein juristischer Kampf dagegen meistens ist. Auf der letzten beschriebenen Wanderung 2006 trifft er einen jungen israelischen Siedler. Das Streitgespräch mit ihm ist eine Essenz der unvereinbaren Positionen in diesem Konflikt. Ob es ein Hoffnungsschimmer ist, dass die beiden am Ende gemeinsam ein Haschisch-Pfeifchen rauchen? HANS GASSER
Raja Shehadeh
Streifzüge durch Palästina
Notizen zu einer verschwindenden Landschaft.
Aus dem Englischen von Jürgen Heiser. Promedia Verlag, Wien 2008. 184 Seiten, 17,90 Euro.
Sarha. Dieses Wort meint im Arabischen eigentlich den morgendlichen Viehauftrieb. Sarha bezeichnet, auf den Menschen übertragen, eine Wanderung: "Ein Mann, der auf die Sarha geht, wandert ziellos, weder durch Zeit noch Ort eingeschränkt. Er geht, wohin ihn seine Stimmung treibt."
Raja Shehadeh, Schriftsteller, Anwalt und Kämpfer gegen die israelische Siedlungspolitik im Westjordanland, unternimmt sechs Sarhas, von denen er in seinem Buch berichtet. Dabei dehnt er die Wanderungen durch das Hügelland rund um Ramallah nicht nur geographisch, sondern auch zeitlich aus. Durch historische Exkurse will er zeigen, wie es so weit kommen konnte, dass die unberührte Landschaft seiner Kindheit und Jugend, in die er sich vor den beengten familiären Verhältnissen immer wieder flüchtete, wie dieses Land seiner Ahnen plötzlich von israelischen Siedlungen, Straßen und nun auch noch von einer "Apartheid-Mauer" durchtrennt wird.
Seine Wanderungen umfassen den Zeitraum der vergangenen 25 Jahre, die Exkurse reichen aber viel weiter zurück. Zum Cousin seines Großvaters etwa, der sich entschied, ein einfacher Steinmetz zu bleiben, statt zu studieren. Shehadeh erzählt in bewundernder, fast zärtlicher Weise, wie dieser Mann zusammen mit seiner jungen Frau in den Hügeln vor Ramallah in den Flitterwochen ein Steinhaus baute, ein Qasr, zu dem er wann immer möglich aus der Stadt zurückkam.
Und wenn der Autor mit seinem Neffen zu dem verfallenen Qasr zurückkehrt und den Sessel, den der Steinmetz einst aus einem Steinbrocken schlug, umgestürzt und unbrauchbar vorfindet, dann breitet sich darüber Tschechowsche Kirschgartenstimmung aus: die Trauer über eine für immer verlorene Zeit.
Shehadeh ist parteiisch, und das weiß er auch. Zu stark ist der Patriot und der Menschenrechtsanwalt in ihm. Er bezichtigt sich selbst des "Tunnelblicks", den er bei den Reisenden des 19. Jahrhundert kritisiert, weil sie sein Land meist als einen öden Stein- und Dornenhaufen abtaten. Wie anders da der Autor, der ein liebevolles Verhältnis zur spärlichen Natur entwickelt: "An der Terrassenmauer entlang wuchs Rosmarin-Seidelbast mit seinen dicken Blättern und gedeckten rosafarbenen Blüten (. . .) Das Grün der Blätter sah gegen das Grau der Steine so aus, als hätte jemand es sorgfältig ausgewählt, um diese alte Mauer zu dekorieren." Geraten ihm diese Beschreibungen auch manchmal etwas lang, so werden sie bald von politischen Fakten abgelöst. Anhand von Einzelfällen erzählt Shehadeh, wie sich Israel illegal palästinensisches Land aneignet, und wie aussichtslos sein juristischer Kampf dagegen meistens ist. Auf der letzten beschriebenen Wanderung 2006 trifft er einen jungen israelischen Siedler. Das Streitgespräch mit ihm ist eine Essenz der unvereinbaren Positionen in diesem Konflikt. Ob es ein Hoffnungsschimmer ist, dass die beiden am Ende gemeinsam ein Haschisch-Pfeifchen rauchen? HANS GASSER
Raja Shehadeh
Streifzüge durch Palästina
Notizen zu einer verschwindenden Landschaft.
Aus dem Englischen von Jürgen Heiser. Promedia Verlag, Wien 2008. 184 Seiten, 17,90 Euro.
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