Mittwoch, 30. Juni 2010

Präsidentenwahl: Merkel muss Kanzlerdämmerung fürchten

Von Sebastian Fischer, Florian Gathmann, Veit Medick und Severin Weiland

Wie konnte es zu dieser Rebellion kommen - zu dieser bitteren Abstimmungspleite für Christian Wulff? SPIEGEL ONLINE rekonstruiert die dramatischen Stunden zwischen erstem und zweitem Wahlgang: Die FDP sieht die Schuld bei der Union, die Kanzlerin ringt auch um ihre eigene Zukunft.

Berlin - Christian Wulff hat sich auf den Schock vorbereitet. Eben haben sie ihm das Ergebnis mitgeteilt. Vor der offiziellen Verkündung. Die absolute Mehrheit ist nicht nur knapp verfehlt. Sondern deutlich. Wulff fehlen im ersten Durchgang der Präsidentenwahl 44 Stimmen aus dem eigenen Lager.

Als Bundestagspräsident Norbert Lammert mit dem Ergebniszettel den Saal betritt, setzt sich Christian Wulff sehr aufrecht auf seinen Stuhl in der ersten Reihe der Bundesversammlung. Die Hände legt er auf den kleinen Tisch davor, parallel nebeneinander - und seinem Gesicht gibt er ein professionelles Lächeln.

So will er die Niederlage im ersten Wahlgang tragen.

Dann kommt der Schockmoment. Über mehrere Sekunden hängt die bittere Botschaft des Bundestagspräsidenten in der Luft. Stille. Wulff schaut geradeaus, ins Nichts. Dann hebt Merkel rechts von ihm die Hände. Sie klatscht. Schließlich klatscht der schwarz-gelbe Block.

600 Stimmen für Wulff. 499 für den rot-grünen Gegenkandidaten Joachim Gauck. Hätte die Linkspartei für den ehemaligen DDR-Bürgerrechtler statt der eigenen Zählkandidatin gestimmt - Gauck wäre im ersten Wahlgang gewählt. Und Merkels Koalition wohl kurz vor dem Ende.


Es besteht Beratungsbedarf. Dringend. Die Wahlleute streben in ihre Fraktionssäle. Wulff und Merkel vorneweg. Die FDP-Abgeordnete Miriam Gruß möchte auf dem Weg noch ein Foto von sich und Wulff machen. Wulff winkt ab. Jetzt nicht, später.

"Mann, eine solche Scheiße", sagt der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok vor dem Saal. "Das ist eine Klatsche", sagt Schleswig-Holsteins FDP-Fraktionschef Wolfgang Kubicki. Brandenburgs früherer Innenminister und Ex-General Jörg Schönbohm (CDU) meint, früher habe man gewusst, "wo der Feind stand, heute ist man sich nicht mehr sicher".

Merkel wird deutlich
Drinnen wird Merkel deutlich: "Wir sollten nicht mit Misstrauen beginnen", sagt sie mit Blick auf die angestrebte Wulff-Präsidentschaft. Im zweiten Wahlgang habe man noch die Chance, die Sache in der Hand zu haben. Im dritten aber komme die Linkspartei ins Spiel."Wir haben eine gemeinsame Verantwortung für die gemeinsamen politischen Ziele", sagt sie. Und noch einmal, damit es auch jeder versteht: "Wir sind eine Gemeinschaft von Gleichgesinnten."


Die Kanzlerin dankt Wulff, dass er für einen zweiten Wahlgang zur Verfügung steht. Manche scheinen das lustig zu finden. Lautes Gelächter im Fraktionssaal. Merkel wird patzig: Das sei gar nicht selbstverständlich: "Das ist zu würdigen. Dafür hat er Respekt verdient."

Längst ist der Unionsführung klar: Die 44 fehlenden Stimmen sind nicht nur bei den Liberalen zu verorten. Da fehlen eigene Stimmen. Damit hatten sie nicht gerechnet.

Die Liberalen scheinen indes dankbar und glücklich zu sein, dass sie die Schuld wohl nicht alleine tragen.

FDP-Chef Guido Westerwelle ist schon drauf und dran, den Schwarzen Peter ganz in Richtung der Koalitionspartner zu schieben. Dass es neben den bekannten Abweichlern in seiner Fraktion noch weitere geben könnte, schließt er aus. Er belässt es deshalb vor seinen Wahlleuten im Fraktionssaal bei einer kurzen Ansprache. Die aber ist deutlich. Sie geht gegen CDU und CSU. Aus seiner Sicht gebe es keinen Bedarf für eine Aussprache, weil sich die FDP ja schon vorher ausgesprochen habe.

Westerwelle richtet sich gegen die Union
Was Westerwelle meint: Dass drei sächsische Liberale plus ein anonymer vierter FDP-Vertreter für Gauck stimmen würden, sei zuvor klar gewesen. Was aber ist bei der Union los?

Der FDP-Chef geht darauf nicht weiter ein. Man habe keinen Analysebedarf gegenüber dem Verhalten anderer Fraktionen. Er schlage vor, im zweiten Wahlgang wieder Christian Wulff zu wählen.

Ob er die Stimmungslage der Liberalen korrekt wiedergegeben habe, fragt er am Ende noch einmal ins Rund. Da brandet Beifall auf.

Für SPD und Grüne ist das Ergebnis hocherfreulich. 37 Stimmen mehr als ihre Parteien eigentlich haben sind ein schöner Erfolg. Genüsslich schaut die erste rot-grüne Reihe unmittelbar nach der Verkündung des Wahlergebnisses in Richtung der Kollegen von Union und FDP. Selbst wenn es im zweiten Wahlgang für Wulff klappen sollte - das Kalkül, das "bürgerliche" Lager zu spalten, ist schon jetzt aufgegangen. Und das sollen ruhig alle merken.


Doch Euphorie wird zumindest bei den Sozialdemokraten tunlichst vermieden. "Wer jetzt die Abteilung Häme bedient, hat nichts verstanden", sagt Gabriel in der Lobby des Reichstages - um sogleich leicht hämisch fortzufahren: "Das Ergebnis ist keine Niederlage für Schwarz-Gelb, sondern ein Gewinn für die Bundesversammlung."

Jürgen Trittin kommt vorbei, der Grünen-Fraktionschef fasst dem Genossen an die Schulter und lacht: "Hahahaha." Gabriel bleibt stumm.

Joachim Gauck gibt sich bescheiden
Am meisten Grund euphorisch zu sein hätte jetzt Joachim Gauck. Wulffs Gegenkandidat ist stolz, den ersten Durchgang so gut überstanden zu haben. Und dennoch drückt er am kräftigsten auf die Glückseligkeits-Bremse. In der SPD-Fraktionssitzung vor dem zweiten Wahlgang warnt er vor Übermut und Sticheleien gegenüber dem Regierungslager. Er sei immer noch genügend "Realist" um zu wissen, dass es bei dem Denkzettel für Wulff bleiben werde.

Der SPD-Vorsitzende beeilt sich derweil, den Blick auf die Linkspartei zu richten: Diese hätte jetzt eine "einmalige Chance, die DDR-Vergangenheit hinter sich zu lassen", sagt Gabriel. Klar ist: Hätten die Linken schon im ersten Wahlgang Gauck gewählt, wäre der mit absoluter Mehrheit sensationell neuer Bundespräsident geworden. Kommt eine solche Chance noch einmal? Ungewiss.

Bei den Grünen heißt es, die Linke habe für einen möglichen dritten Wahlgang bereits ihre Zustimmung für Gauck signalisiert. Doch Vertreter der Linken nennen das "blanken Unsinn". So weit wolle die Linkspartei erst mal gar nicht denken. Stattdessen gratuliert Parteichefin Gesine Lötzsch der eigenen Kandidatin Luc Jochimsen zu ihrem "hervorragenden Ergebnis". Sie bekam zwei Stimmen mehr, als die Partei Delegierte hat.

Natürlich beginnt in der Partei jetzt die Debatte über Gauck neu. Was die Pragmatiker in der Linken fürchten, ist aber, dass SPD-Chef Gabriel bei seinem Werben gewohnt aggressiv vorgeht. "Auf uns Druck zu machen, ist jetzt überhaupt nicht angesagt", sagt ein Linker, der mit Gauck gut leben könnte.

Bei den Grünen wissen sie um dieses Problem. Der DDR-Bürgerrechtler Werner Schulz macht seiner Fraktion den Vorschlag, höchstpersönlich bei der Linken vorstellig zu werden und behutsam für deren Gauck-Votum zu werben.
Klar ist: Rot-rot-grüne Gespräche wird es geben. Sofern Wulff auch im zweiten Wahlgang scheitert.

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