Forscher berichten von einem 40-Jährigen, der plötzlich pädophile Neigungen entwickelte. Nachdem dem Mann ein Hirntumor entfernt wurde, verschwand dieser Hang jedoch wieder. Neue Erkenntnisse aus der Hirnforschung haben einen heftigen Streit darüber entfacht, ob es noch strafrechtliche Schuld geben kann.
Ein Mann aus Großbritannien war völlig normal und unbescholten, bis er im Alter von 40 Jahren pädophile Neigungen an sich entdeckte und mit Übergriffen auf Kinder begann. Alsbald bekam er heftige Kopfschmerzen und ging in eine Klinik, wo man einen Hirntumor feststellte. Der konnte entfernt werden – und der Hang zur Pädophilie verschwand. Ein Jahr später ging es wieder los. Der Tumor war nachgewachsen. Nun aber ließ er sich vollständig beseitigen. Seither haben der Mann und die Kinder in seiner Umgebung Ruhe.
Seit Jahren tobt daher zwischen Hirnforschern, Philosophen und Juristen ein heftiger Streit, wie sich dann noch ein freier Wille denken lässt und ob man Straftäter für ihre Taten verantwortlich machen kann. Wie es in der Fehde derzeit steht und was Richter beim Erkennen auf Schuldunfähigkeit mit dem Wissen der Hirnforscher anfangen können, ließ sich kürzlich in der rheinland-pfälzischen Landesvertretung lernen, wohin Landesjustizminister Heinz Georg Bamberger (SPD) herausragende Vertreter der streitenden Fächer eingeladen hatte.
In einem Punkt ist der Streit geschlichtet: Alle sind sich einig, dass die Hirnforschung viel zu dem beitragen kann, was bisher forensischen Psychiatern vorbehalten war: zeigen, warum Verbrecher so handeln, wie sie handeln.
Der Bremer Hirnforscher Gerhard Roth beschrieb drei Typen intensiver Gewalttäter. Erstens die „instrumentellen“ – ohne signifikante Gehirnveränderungen –, die wissen, dass sie Unrecht tun, aber gelernt haben, dass man damit Erfolg haben kann. Zweitens „impulsiv-reaktive“ Gewalttäter, die hinterher erklären, sie wären „ausgerastet“. Hier, so Roth, seien Hirnveränderungen festzustellen, deren Ursache meist in frühkindlichen Phasen liege, in denen das noch plastische Hirn durch Traumatisierungen wie Prügeln abweichend strukturiert wird. Solche Menschen können Affekte schlecht kontrollieren und Signale wie das angsterfüllte Gesicht eines Gegenübers nicht richtig deuten: Weit aufgerissene Augen empfinden sie als Bedrohung – und schlagen zu.
In der dritten Gruppe, bei „proaktiv-psychopathischen“ Tätern, gibt es kaum Schuldgefühle oder Empathie. Wenn sie blutrünstige Bilder betrachten, bleiben bei ihnen Hirnregionen ruhig, die bei anderen von jenen Bildern in Aufregung versetzt werden. Auch bei diesen Tätern lässt sich laut Roth zeigen, dass die Veränderungen aus frühen Erfahrungen herrühren, etwa tiefen Demütigungen.
Was aber folgt daraus? Dass Gewalttäter nun gute Aussichten haben, vor Gericht als schuldunfähig davonzukommen, weil sie wegen ihrer Hirnstrukturen nicht anders konnten? Ist das aber ein Vorteil? Der Münchner Forensiker Norbert Nedopil machte wahrscheinlich, dass solche Täter dann für nicht resozialisierbar gehalten und weggesperrt werden. Tatsächlich: Während die Zahl der Gewaltverbrechen sinkt, wird immer öfter Sicherungsverwahrung angeordnet. In Zeiten der Hirnforschungsbooms neigen wir offenbar dazu, die Menschen für unveränderbar zu halten.
Wenn wir aber unveränderbar sein sollen – sind wir dann nicht auch unverantwortlich?
Fallen nicht alle unter die Paragrafen zur Schuldunfähigkeit, wenn anzunehmen ist, dass wir nur Vorgaben unseres Gehirns ausführen? Der Hamburger Strafrechtler Reinhard Merkel nahm die Frage ernst. Der Schuldfrage im Sinne eines „Sie hätten doch auch anders handeln können“, sei daher weniger Gewicht zu geben. Eher müsse man Urteile damit begründen, dass Normen zu verteidigen sind – und dass es nur fair sei, den Verletzern dieser Normen, den Tätern, die Mühen des Normschutzes per Strafe aufzubürden.
Das ging dem früheren Verfassungsrichter Winfried Hassemer zu weit. Die Kategorien der Rechtswissenschaft für Schuld und Verantwortung könnten nicht von einer anderen Wissenschaft, der Hirnforschung, über den Haufen geworfen werden. Die Neurophysiologen sollten bei ihrem Leisten bleiben, statt Juristen Vorgaben zu machen. „Wir haben Erfahrungen, welche Verantwortlichkeit wir von verschiedenen Menschen erwarten können“, sagte Hassemer. Zwar könnten Hirnforscher in Ausnahmefällen Hinweise auf Schuldunfähigkeit liefern, doch die Kategorie Schuld als solche bleibe davon unberührt.
Der Berliner Philosoph Michael Pauen, der gar nicht auf dem Podium saß, aber von den Referenten ständig auf seinem Platz im Publikum angesprochen wurde, schlug einen Ausweg vor. Wir könnten, so Pauen, doch jederzeit gut und einvernehmlich definieren, wann wir ein Verhalten als freiverantwortlich ansehen, und es könne uns völlig egal sein, ob die Erfüllung dieser Definition durch Hirnprozesse oder durch eine metaphysische Seele gewährleistet wird.
Der biologische Zustand des Gehirns kann Gemütszustände und Verhalten geradezu zwanghaft bestimmen. Beispiele dafür mehren sich, seit Neurophysiologen die Prozesse im Hirn detailliert beobachten und dann zeigen können, dass bestimmte Verhaltensmuster eine materielle Basis in der Hirnstruktur haben. Man sieht es einem Gehirn an – und kann es zum Teil operativ beeinflussen –, wie jemand fühlt, denkt und sich verhält.
In einem Punkt ist der Streit geschlichtet: Alle sind sich einig, dass die Hirnforschung viel zu dem beitragen kann, was bisher forensischen Psychiatern vorbehalten war: zeigen, warum Verbrecher so handeln, wie sie handeln.
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In der dritten Gruppe, bei „proaktiv-psychopathischen“ Tätern, gibt es kaum Schuldgefühle oder Empathie. Wenn sie blutrünstige Bilder betrachten, bleiben bei ihnen Hirnregionen ruhig, die bei anderen von jenen Bildern in Aufregung versetzt werden. Auch bei diesen Tätern lässt sich laut Roth zeigen, dass die Veränderungen aus frühen Erfahrungen herrühren, etwa tiefen Demütigungen.
Was aber folgt daraus? Dass Gewalttäter nun gute Aussichten haben, vor Gericht als schuldunfähig davonzukommen, weil sie wegen ihrer Hirnstrukturen nicht anders konnten? Ist das aber ein Vorteil? Der Münchner Forensiker Norbert Nedopil machte wahrscheinlich, dass solche Täter dann für nicht resozialisierbar gehalten und weggesperrt werden. Tatsächlich: Während die Zahl der Gewaltverbrechen sinkt, wird immer öfter Sicherungsverwahrung angeordnet. In Zeiten der Hirnforschungsbooms neigen wir offenbar dazu, die Menschen für unveränderbar zu halten.
Wenn wir aber unveränderbar sein sollen – sind wir dann nicht auch unverantwortlich?
Fallen nicht alle unter die Paragrafen zur Schuldunfähigkeit, wenn anzunehmen ist, dass wir nur Vorgaben unseres Gehirns ausführen? Der Hamburger Strafrechtler Reinhard Merkel nahm die Frage ernst. Der Schuldfrage im Sinne eines „Sie hätten doch auch anders handeln können“, sei daher weniger Gewicht zu geben. Eher müsse man Urteile damit begründen, dass Normen zu verteidigen sind – und dass es nur fair sei, den Verletzern dieser Normen, den Tätern, die Mühen des Normschutzes per Strafe aufzubürden.
Das ging dem früheren Verfassungsrichter Winfried Hassemer zu weit. Die Kategorien der Rechtswissenschaft für Schuld und Verantwortung könnten nicht von einer anderen Wissenschaft, der Hirnforschung, über den Haufen geworfen werden. Die Neurophysiologen sollten bei ihrem Leisten bleiben, statt Juristen Vorgaben zu machen. „Wir haben Erfahrungen, welche Verantwortlichkeit wir von verschiedenen Menschen erwarten können“, sagte Hassemer. Zwar könnten Hirnforscher in Ausnahmefällen Hinweise auf Schuldunfähigkeit liefern, doch die Kategorie Schuld als solche bleibe davon unberührt.
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