Mittwoch, 12. Mai 2010

Endgültiges Urteil zur Sicherungsverwahrung: Deutschland muss Schwerverbrecher freilassen

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg hat einen Einspruch der Bundesregierung gegen ein Grundrechtsurteil über die nachträgliche Sicherungsverwahrung zurückgewiesen. Damit ist die Verurteilung Deutschlands wegen einer nachträglich verlängerten Sicherungsverwahrung eines Gewaltverbrechers vom Dezember 2009 rechtskräftig.

50.000 Euro Schmerzensgeld für Schwerverbrecher

Deutschland muss nun einen mehrfach vorbestraften Gewaltverbrecher, der die Beschwerde in Straßburg einreichen ließ, trotz Sicherungsverwahrung auf freien Fuß setzen und ihm 50.000 Euro Schmerzensgeld zahlen. Der Kläger wird seit über 18 Jahren im hessischen Schwalmstadt in Sicherungsverwahrung gehalten, weil er immer noch als gefährlich eingestuft wird.

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg Er war zuletzt im November 1986 wegen Mordversuchs und Raubs zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Wegen Wiederholungsgefahr und eines laut Gutachten vorhandenen Hang zur Gewalttätigkeit hatte die Strafkammer Sicherungsverwahrung für maximal zehn Jahre angeordnet. Demnach wäre der Mann im September 2001 freigekommen. Doch 1998 trat eine neue gesetzliche Regelung in Kraft, wonach auch für bereits verurteilte Straftäter nachträglich Sicherungsverwahrung angeordnet werden kann. Die Höchstgrenze von zehn Jahren wurde gestrichen. 2001 wurde die Sicherungsverwahrung für den Mann mit Verweis auf seine Gefährlichkeit verlängert.

Verfassungsgericht billigte 2004 die rückwirkende Verlängerung

Zwar darf nach der Europäischen Menschenrechtskonvention eine Strafe nach der Verurteilung eines Täters nicht verlängert werden. Dennoch billigte das Bundesverfassungsgericht die rückwirkende Verlängerung der Sicherungsverwahrung im Jahr 2004. Begründung: Es handele sich nicht um eine Strafe, sondern um eine sogenannte Maßregel zur Besserung des Verurteilten sowie zum Schutz der Allgemeinheit.
Nach seiner Niederlage in Karlsruhe legte der Häftling in Straßburg Beschwerde ein, mit der er Erfolg hatte. Der Mann hätte demnach nur für eine klar festgeschriebene Höchstdauer in Haft bleiben müssen. Die von den Gerichten behauptete Gefährlichkeit des Häftlings sei nicht konkret genug gewesen. Auch deshalb stelle die Verlängerung der Sicherungsverwahrung über die Zehnjahresfrist hinaus eine Verletzung der Menschenrechtskonvention dar.

EGMR: Verlängerung ist eine zusätzliche Strafe

Zudem befand der EGMR, dass eine Sicherungsverwahrung wie eine gewöhnliche Haftstrafe einen Freiheitsentzug bedeute. Dies zeige sich unter anderem im Mangel an speziell für Häftlinge in Sicherungsverwahrung gerichtete psychologische Betreuung in Deutschland, kritisierten die Straßburger Richter. Die Verlängerung sei eine zusätzliche Strafe gewesen, die dem Mann nachträglich auferlegt worden sei.

Unklar ist, inwieweit auch andere Straftäter in einer vergleichbaren Situation von dem Urteil betroffen sind. Laut bayerischem Justizministerium wären es potentiell bundesweit bis zu 70 hochgefährliche Sexual- und Gewalttäter. Der Bundesgerichtshof habe allerdings erst kürzlich eine Bindungswirkung der EGMR-Entscheidung über den Einzelfall hinaus abgelehnt.

"Differenzierte Debatte statt Alarmismus"

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Foto: dpa)Warnt vor Alarmismus: Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger

Landesjustizministerin Beate Merk mahnte dennoch eine unverzügliche Reform der Sicherungsverwahrung an. Nötig sei nun eine komplette Neuregelung. Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) forderte eine umsichtige Diskussion. "Wir brauchen eine differenzierte Debatte über die Folgen und Perspektiven des heutigen Urteils und keinen Alarmismus", erklärte sie in Berlin. Die Konsequenzen müssten nun von den Staatsanwaltschaften und Gerichten im Einzelfall sorgfältig bewertet werden. Mit dem Urteil sei "ohne jeden Zweifel und abschließend geklärt, dass jede Gesetzgebung zu der Sicherungsverwahrung einem strikten Rückwirkungsverbot unterliegt".

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