Mittwoch, 12. Mai 2010

"Es muss endlich um die Opfer gehen"

Einer der bedeutendsten Sexualforscher meldet sich zu Wort: Volkmar Sigusch spricht über Kinderrechte, die Motive von Pädophilen und das Tabu frühkindlicher Sexualität.

: Gibt es eine plausible Erklärung für Pädophilie und Pädosexualität?
Die kindliche Sexualität nennt der Sexualwissenschaftler Sigusch einen "dunklen Kontinent"

ZEIT ONLINE


Volkmar Sigusch: Ich greife einmal die psychoanalytische Sicht heraus. Danach werden ängstigende, konfliktbeladene oder traumatisierende Erlebnisse in der Kindheit durch die Ausbildung einer Vorliebe oder Perversion gewissermaßen gebunden und gebannt. Nur durch die Pädophilie wird die Person zusammengehalten. Eine Theorie sagt, die Feindseligkeit aus traumatischen Erlebnissen werde durch die Sexualisierung abgewehrt, ja sogar in einen seelischen Triumph umgewandelt, sodass das Leben weitergeht.

Volkmar Sigusch
Volkmar Sigusch
Der Arzt und Soziologe Volkmar Sigusch, Jahrgang 1940, war von 1973 bis 2006 Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft im Klinikum der Universität Frankfurt/Main. Sigusch gilt als Begründer der deutschen Sexualmedizin und ist weltweit einer der renommiertesten Sexualforscher. Zuletzt veröffentlichte er die Bücher "Sexuelle Störungen und ihre Behandlung" (Thieme, 2007), "Geschichte der Sexualwissenschaft" (Campus, 2008) und zusammen mit Günter Grau "Personenlexikon der Sexualforschung" (Campus, 2009).

ZEIT ONLINE: Sind Pädophile therapierbar?

Sigusch: Da fixierte Vorlieben oder entfaltete Perversionen die Person zusammenhalten, geht es für die Betroffenen ums Überleben und nicht um die Auflösung eines begrenzten Konfliktes aus der Kindheit. Alle Therapeuten stehen also vor einer gewaltigen Aufgabe, ihre Erfahrungen sind sehr unterschiedlich. Die einen berichten, dass sie nach Strich und Faden belogen worden seien, wie gleichzeitig stattfindende polizeiliche Durchsuchungen bei den Patienten ergeben hätten. Andere sagen, dass die Patienten keinerlei Einsicht in ihr inakzeptables Verhalten gezeigt hätten. Wieder andere teilen mit, dass ihre Patienten in schwerste Depressionen mit einer Tendenz zum Zusammenbruch der gesamten Person gefallen seien. Dass Pädophile durch eine Therapie darauf verzichten, ihre sexuellen Wünsche zu realisieren, gehört eher zu den seltenen Glücksfällen. Ein solcher kann eintreten, wenn der Patient über eine hohe Moralität verfügt, sozial gehalten ist und sein sexuelles Verlangen keinen suchtartigen Verlauf genommen hat. Den Ausschlag geben also die Persönlichkeit und die sonstigen Lebensumstände des Pädosexuellen.

ZEIT ONLINE: Es gibt Pädophile, die sexuelle Kontakte mit Kindern strikt ablehnen.

Sigusch: Sie zeigen die Stärke und Moralität, von denen gerade die Rede war. Doch sie leben auf eine Weise, die tragisch genannt werden muss. Denn sie verzichten auf das, was ihnen am liebsten im Leben ist. Pädophilie heißt ja, dieser Mensch fühlt sich nur wohl, fühlt sich nur geborgen, wenn seine mehr oder weniger unbewusste Sehnsucht nach der eigenen als verloren erlebten Kindheit durch das kindliche Leben mit Kindern erfüllt wird. Ich möchte an dieser Stelle betonen, wie vielfältig die Erscheinungsformen von Pädosexualität und Pädophilie sind. Sie reichen von der bewundernswerten sexuellen Abstinenz über die ungenitale Liebe und Fürsorge, die einem Kind gut tut, bis hin zur Fetischisierung des kindlichen Körpers ohne weitere Ansprüche an die kindliche Person und, wenngleich sehr selten, bis hin zur Vergewaltigung eines wehrlosen Kindes.

Der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch benennt zehn Tätertypen, die Kinder sexuell missbrauchen – in unterschiedlichen Lebenssituationen und mit sehr verschiedenen Motiven.
Zehn Täterprofile:

  1. Der Inzesttäter, ein Vater, Onkel oder Bruder, der sich an einem Kind vergeht.


  2. Der Mann aus der Nachbarschaft, der, in gestörten sozialen Verhältnissen lebend, oft alkoholisiert, Kinder missbraucht, ohne tatsächlich pädophil zu sein.


  3. Der pubertierende Junge, der seine ersten sexuellen Erfahrungen an kleineren Kindern vollzieht.


  4. Der in der Entwicklung zurückgebliebene oder dauerhaft behinderte Jugendliche oder Erwachsene, für den Kinder »angemessenere« Sexualpartner sind als Gleichaltrige.


  5. Der sexuell unreife Erwachsene, zum Beispiel ein Priester, der die ihm fehlenden, seelenbildenden »Doktorspiele« gewissermaßen durch seelenzerstörende »Priesterspiele« ersetzt.


  6. Der psychisch kranke Erwachsene, der, zum Beispiel durch eine Geisteskrankheit enthemmt, Kinder sexuell attackiert.


  7. Der Sextourist, der sich Mädchen oder Jungen in bitterarmen Ländern zu sexuellen Diensten kauft, weil nun einmal alles in dieser Welt käuflich ist.


  8. Der altersabgebaute Mann, der in seinem bisherigen Leben sexuell vollkommen unauffällig war, sich jetzt aber enthemmt an Kindern vergreift.


  9. Der perverse Mann, der wegen seiner besonderen Lebensumstände zum Beispiel die Neigung, andere Menschen zu schlagen und zu quälen, nur an abhängigen Kindern ausleben kann.


  10. Der Pädophile, treffender gesagt: der Pädosexuelle, der ausschließlich Kinder begehrt, die noch nicht in die Phase der Pubertät eingetreten sind.

  11. ZEIT ONLINE: Die Täter verteidigen ihr Tun oft damit, sie hätten sexuelle Kontakte zu Kindern hergestellt, ohne dass sie Gewalt angewendet hätten. Sie unterstellen also ein Einvernehmen.

    Sigusch: Da ein vorpubertäres Kind nicht weiß, was Liebe und Sexualität sind, was sie bedeuten, was sie symbolisieren, kann es keine reflektierte Einvernehmlichkeit geben. Eine "Einvernehmlichkeit" zwischen dem Kind und dem Pädosexuellen gründet entweder auf der sozial prekären Lage des Kindes oder auf den Einfühlungs- und Verführungskünsten des Erwachsenen. Ohne derartige ebenso besondere wie verfängliche Umstände ist kein Kind bereit, mit einem Erwachsenen solche ekligen Dinge zu tun. Zwischen der kindlichen Sexualität und der eines Erwachsenen klafft ein unüberwindbarer Abgrund, der nur durch mehr oder weniger erkennbare Gewaltanwendung und Machtausübung überwunden werden kann – mit den bekannten Folgen. Wohlgemerkt, ich spreche hier über Sexualität, nicht über Erotik und Verliebtheit.

    ZEIT ONLINE: Sie nennen die kindliche Sexualität einen "dunklen Kontinent" in unserer Gesellschaft.

    Sigusch: Ich habe noch als junger Sexualforscher und Arzt erlebt, dass mir Kinder vorgestellt worden sind, bei denen Ärzte wegen der von den Eltern beobachteten Orgasmen des Kindes die Diagnose Epilepsie gestellt hatten. Es kann doch über eine Sache erst vernünftig gesprochen werden, wenn deren Existenz anerkannt ist. Selbst Fachleute streiten aber noch, ob es so etwas wie kindliche Sexualität überhaupt gibt. Tatsächlich zeigen schon kleine Kinder sexuelle Reaktionen bis hin zum Orgasmus, bei Jungen vor allem Erektionen, bei Mädchen Vaginallubrikationen. Diese Reaktionen werden nicht zwangsläufig durch Fantasien wie bei Erwachsenen hervorgerufen, sondern ereignen sich reflektorisch wie ein Schluckauf. Der Umgang mit diesen Zeichen kindlicher Sexualität reicht von der Pathologisierung und Vernichtung bis hin zur unaufdringlichen, aber liebevollen Akzeptanz.

    ZEIT ONLINE: Über Frauen als Täterinnen wird derzeit kaum gesprochen. Warum ist das noch ein Tabu?

    Sigusch: Die Sexualität der Frau war lange ein ebenso dunkler Kontinent, wie es heute noch die kindliche Sexualität ist. Erst seit etwa zwei Generationen wird die weibliche Sexualität bei uns nicht mehr am Modell Mann gemessen, werden "anständige" Frauen nicht mehr grundsätzlich als frigide angesehen. Ich denke, dieser Wandel muss erst zur kulturellen Gewissheit geworden sein, bevor der weiblichen Sexualität ihre Stärken zugerechnet und ihre Entgleisungen vorgerechnet werden können. Der Sexualforschung sind schon etliche Stärken seit Jahrzehnten bekannt, beispielsweise die größere orgastische Potenz von Frauen im Verhältnis zu Männern. Bei den Schwächen und Pathologisierungen ist das weniger der Fall. Immerhin gibt es seit den achtziger Jahren eine Forschung, die zum Beispiel "perverse Mütterlichkeit" untersucht, eine Störung, durch die das eigene Kind manipuliert oder gewalttätig bis hin zum Inzest traktiert wird.
    Das Sexuelle ist in unserer Kultur nicht mehr die große Metapher der Revolution, des Rausches und des Glücks
    Volkmar Sigusch
    ZEIT ONLINE: Warum hat es Jahrzehnte gedauert, bis eine breite gesellschaftliche Debatte über den sexuellen Kindesmissbrauch von der Nachkriegszeit bis heute möglich wurde?

    Sigusch: Ein Grund ist sicher, dass das Sexuelle in unserer Kultur in den vergangenen Jahrzehnten deutlich an symbolischer Bedeutung verloren hat. Es ist gewissermaßen normalisiert worden und nicht mehr die große Metapher der Revolution, des Rausches und des Glücks. Wir wissen heute ja sogar, dass es Liebesbeziehungen ohne Sexualität geben kann, die sehr viel befriedigender sind als vor Sex strotzende Beziehungen. Ein anderer Grund ist, dass die vordem Diskriminierten und Traumatisierten offenbar erst die Kraft finden und ein Lebensalter erreicht haben müssen, in dem sie es wagen, sich der Öffentlichkeit und ihrer eigenen Beschädigung zu stellen. Das ist ja sehr schwierig und heikel, zum Beispiel gegenüber der eigenen Familie. Wir werden also nach den Missbrauchsopfern in hoffentlich naher Zukunft von anderen Gruppen hören, die bisher in Unfreiheit leben müssen. Ich denke zum Beispiel an die vielen homosexuellen katholischen Kleriker, die es jetzt offenbar nicht mehr ertragen können und wollen, in ihrer Kirche als ein erpressbarer und erpresster "unnatürlicher Dreck" behandelt zu werden.

    ZEIT ONLINE: In den siebziger und achtziger Jahren gab es in Deutschland verschiedene Gruppen, die offen eintraten für die Legalisierung sexueller Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern. Gab es ein gesellschaftliches Klima, das solche Positionen begünstigte?

    Sigusch: Ein solches Klima hat es insofern gegeben, als gewissermaßen alle sexuellen Probleme auf den Tisch des kulturellen Hauses gelegt werden konnten. Das hatte überwiegend positive Auswirkungen. Das Ergebnis im Fall der Pädosexualität ist ja, dass heute nach einigen Reflexionen die Unlebbarkeit dieser Vorliebe erkannt ist, nicht zuletzt wegen der Folgen für die Kinder.

    ZEIT ONLINE: Was wissen wir über die möglichen Schäden für die Kinder?

    Sigusch: Die Auswirkungen reichen von einer seelischen Traumatisierung, die das ganze Leben des Opfers vergällt, bis hin zu Erfahrungen, von denen diejenigen, die sie gemacht haben, als Erwachsene sagen, sie hätten ihnen in ihrer familiären Situation geholfen – weil sie keinen anderen Schutz gehabt hätten, weil sie anderen Kindern vorgezogen und umsorgt und geliebt worden seien. Das Stück Sex, das sie eher eklig fanden, hätten sie ihrem großen Freund "geschenkt". Ob ein Kind geschädigt wird, hängt also sehr davon ab, in welcher sozialen und seelischen Verfassung es mit welcher Vorgeschichte in welchem sozialen Umfeld in eine Beziehung zu einem Pädosexuellen gerät.

    ZEIT ONLINE: Wir wissen heute von sexuellem Missbrauch in Schulen, Kindergärten, Kinderheimen, Internaten, Sportvereinen, Jugendvereinen und in den Familien. Allerorten spielt Vertuschung eine große Rolle. Was sagt das über das Verhältnis einer Gesellschaft zu ihren Kindern aus?
    Das Tabu gegenüber der kindlichen Sexualität ist heute größer als vor 200 Jahren
    Volkmar Sigusch
    Sigusch: Die allgemeine Verbreitung pädosexueller Handlungen zeigt, dass Erwachsene in unserer Kultur nach wie vor Kinder erotisch besetzen und auch sexuell benutzen, wenn Hemmungen oder Hindernisse entfallen. Kanadische Sexualforscher haben experimentell nachgewiesen, dass ganz normale Männer durchgängig durch Fotos vorpubertärer Mädchen sexuell erregt werden. Noch zur Zeit der deutschen Klassik hat sich übrigens niemand darüber aufgeregt, wenn ein Gelehrter mit einem aus heutiger Sicht minderjährigen Mädchen sexuell verkehrte oder es heiratete. Heute ist das Tabu gegenüber der kindlichen Sexualität trotz aller Liberalisierungen oder vielleicht gerade wegen dieser Liberalisierungen stärker als vor zweihundert Jahren. Daher resultiert das bisherige, beinahe allgemeine Wegschauen und Verschweigen. Andererseits ist diese Ignoranz auch möglich, weil die Gesellschaft ihre Kinder nicht wirklich schützt und fördert. Um das zu erkennen, brauchen wir nur an den oft erbärmlichen Zustand unserer Schulen zu denken oder daran, welche Rechte Kinder und Jugendliche bei uns nicht haben.

    ZEIT ONLINE: Was schlagen Sie also vor? Was müsste man tun?
    Das Gespräch führte Meike Fries
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