Montag, 31. Mai 2010

Israels tödlicher Angriff auf "Solidaritätsflotte" empört Europa

Berlin ist "bestürzt", die Türkei ruft ihren Botschafter zurück, Athen stoppt ein gemeinsames Manöver: Der Einsatz eines israelischen Elitekommando gegen einen Schiffskonvoi für Gaza sorgt für Empörung. Zwei deutsche Abgeordnete und ein schwedischer Bestsellerautor begleiteten die Flotille.
 
 
Ein Elitekommando der israelischen Armee hat am frühen Montagmorgen gewaltsam drei Schiffe der "Solidaritätsflotte" für den Gazastreifen im Mittelmeer übernommen. Beim Sturm auf ein türkisches Passagierboot wurden nach Angaben der israelischen Armee mehr als zehn Menschen getötet. Laut der Organisation "Free Gaza" gab es zudem bis zu 50 Verletzte. Die Schiffe hatten sich nach Angaben einer "Free Gaza"-Sprecherin eindeutig in internationalen Gewässern befunden.
 
Ein Schiff der "Freedom Flotilla"
Ein Schiff der "Freedom Flotilla"Hunderte Elitesoldaten waren offenbar im Morgengrauen von Helikoptern und Schnellbooten an Bord des türkischen Schiffes IHH gekommen. Die israelische Armee teilte mit, ihre Soldaten seien während des Einsatzes unter Beschuss geraten. Die sechs Schiffe seien geentert worden, weil sie die über den Gaza-Streifen verhängte Seeblockade durchbrechen wollten. Die Organisatoren von "Free Gaza" werfen dem Kommando vor, das Feuer auf unbewaffnete Passagiere eröffnet zu haben. Nach Angaben des israelischen Armeerundfunks sollen die Aktivisten versucht haben, den Soldaten die Waffen zu entreißen.
 
Trotz israelischer Warnungen war der aus sechs Schiffen bestehende Konvoi am Sonntag aus internationalen Gewässern bei Zypern aufgebrochen. Die von pro-palästinensischen Gruppen und einem türkischen Menschenrechtsverband gecharterten Schiffe transportieren 10.000 Tonnen Güter. Israels Regierung hatte angekündigt, sie werde die Schiffe abfangen und die Ladung untersuchen.
 
Ein Angebot Israels, die Fracht im nahe der Grenze um Gazastreifen gelegenen Hafen von Aschdod zu entladen und nach einer Kontrolle auf Waffen an die UN zu übergeben, hatten die Organisatoren des Konvois, darunter auch palästinensische Gruppen, abgelehnt.
 
Mit an Bord waren auch Inge Höger und Annette Groth, zwei Bundestagsabgeordnete der Linken. Ihr Schicksal ist noch ungewiss. "Wir wissen noch nicht, was mit ihnen passiert ist", sagte eine Mitarbeiterin von Groth am Montagmorgen. Die Politikerin sei über ihr Mobiltelefon momentan nicht erreichbar.
Mit an Bord: Die Linken-Abgeordnete Annette Groth
 
Mit an Bord: Die Linken-Abgeordnete Annette GrothGroth hatte bereits vor ihrer Reise Schwierigkeiten erwartet, wenngleich nicht in diesem Ausmaß. Sie hoffe, dass sie Gaza erreichen werde und nicht in einem israelischen Gefängnis lande, sagte die Parlamentarierin vor dem Aufbruch aus Berlin. Sollte die kleine Flotte jedoch von der israelischen Marine aufgehalten werden, erwarte sie von der Bundesregierung, dass diese dagegen protestiere. In einem Telefoninterview am vergangenen Dienstag berichtete Grothe aus Kreta, die Aktvisten absolvierten gerade ein Training, das sie auf eine mögliche Konfrontationen mit israelischen Sicherheitskräften vorbereiten solle.
 
Auch der stellvertretende Deutschland-Chef der Organisation Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW), Matthias Jochheim, war mit an Bord. "Wir wissen nichts über sein Verbleiben", sagte eine Mitarbeiterin der Organisation der FTD. "Mit so einem Zwischenfall hatten wir nicht gerechnet, und er auch nicht". Letztmals habe man am Sonntag mit Jochheim Kontakt gehabt.
 
Zu den Begleitern der Flotte gehörte zudem der schwedische Bestsellerautor Henning Mankell und die Friedensnobelpreisträgerin von 1976, Mairead Corrigan Maguire. Auch die 85-jährige Auschwitzüberlebende Hedy Epstein war nach Angaben von IPPNW an Bord eines der Schiffe.
 
Vor dem Zwischenfall hätten Kampfhubschrauber und Jets über der Flotte gekreist, berichtet Raif Hussein von der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft im Gespräch mit der FTD. Hussein selbst war nicht an Bord, jedoch der in Deutschland lebende Palästinenser Nader el Saqa. Der Kontakt zum Schiff sei gegen 5 Uhr morgens abgebrochen.
 
"Wir haben damit gerechnet, dass die Schiffe vielleicht manövrierunfähig gemacht würden", sagte Hussein. Ihm zufolge befand sich der Konvoi noch in internationalen Gewässern. Das erste von insgesamt Schiffen sei angegriffen worden. Ob die deutschen Abgeordneten und Aktivisten auf dem ersten Schiff waren, ist unklar. "Die haben aus taktischen Gründen die Schiffe mehrmals gewechselt", sagte Hussein.
 
Die palästinensische EU-Vertretung in Brüssel sprach von einem "barbarischen Akt". "An Bord haben sich überhaupt keine Waffen befunden", sagte Botschaftsrat Adel Atieh der FTD. "Es ist eine Lüge, wenn behauptet wird, jemand habe das Feuer auf die Israelis eröffnet. Kein einziger Israelischer Soldat ist getötet worden, das sagt alles." Niemand auf dem Schiff habe so einen Zwischenfall erwartet, sagte der Diplomat. "Als die Israelis mitten in der Nacht gekommen sind, haben die meisten Leute auf dem Schiff noch geschlafen."
 
Der Angriff habe mutmaßlich 150 Kilometer vor der israelischen Küste stattgefunden; sagte Attieh, in jedem Fall habe sich der Konvoi in internationalen Wässern befunden. "Das ist staatliche Piraterie", sagte der Palästinenser-Vertreter. An Bord seien ausschließlich Hilfsgüter gewesen.
 
Griechenland bricht gemeinsames Manöver ab
Die Türkei rief aus Protest ihren Botschafter aus Israel ab. Außerdem annulliere die Türkei drei Militärabkommen mit Israel, sagte der türkische Vizeministerpräsident Bülent Arinc am Montag in Ankara. "Wir werden alle Möglichkeiten des internationale Rechts nutzen, Israel zur Verantwortung ziehen". Israel habe Zivilisten angegriffen und vor den Augen der ganzen Welt unmenschlich gehandelt. Die israelische Marine habe sich in internationalen Gewässern wie Piraten verhalten.
 
Die griechische Regierung brach nach den dramatischen Entwicklungen umfangreiche Luftwaffenmanöver mit Israel in der Ägäis ab. Die Manöver hatten vergangene Woche begonnen und sollten bis zum 3. Juni dauern. Dabei wurden Angriffe auf Bodenziele sowie die Treibstoffversorgung von Kampfbombern in der Luft geübt. Die israelischen Maschinen vom Typ F-16 und F-15 waren auf einem griechischen Luftwaffenstützpunkt auf der Mittelmeerinsel Kreta nahe Chania stationiert.
 
Die Bundesregierung äußerte sich "bestürzt" über die israelische Aktion. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) habe in einem Telefonat mit seinem israelischen Kollegen Avigdor Lieberman eine "umfassende Untersuchung" verlangt, teilte Regierungssprecher Ulrich Wilhelm in Berlin mit. Das Schicksal von fünf Bundesbürgern, die mit der "Solidaritätsflotte" unterwegs waren, müsse schnellstmöglich geklärt werden. Bislang habe das Auswärtige Amt dazu keine genaueren Angaben.
 
Catherine Ashton fordert eine umfassende Untersuchung
Catherine Ashton fordert eine umfassende UntersuchungAuch die Europäische Union forderte eine Untersuchung des israelischen Militäreinsatzes. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton äußerte am Montag ihr tiefes Bedauern über die Todesfälle und übermittelte den hinterbliebenen Familien ihr Mitgefühl. Eine Sprecherin von Ashton erklärte: "Im Namen der Europäischen Union fordert sie eine vollständige Untersuchung der Umstände, die dazu führten."
 
Zugleich rief Ashton Israel auf, die Blockade des Gazastreifens für Hilfslieferungen und normale Handelsgüter "sofort und ohne Bedingungen" zu lockern. Auch die Ein- und Ausreise von Personen dürfe nicht länger durch Israel unterbunden werden. Die israelische Blockade-Politik sei "inakzeptabel und politisch kontraproduktiv", kritisierte Ashton.
 
Auch die Fraktion der Sozialisten im Europäischen Parlament verurteilte Israels Vorgehen scharf. "Der Gebrauch tödlicher Gewalt gegen Zivilisten auf diesen Schiffen ist inakzeptabel", sagte Fraktionschef Martin Schulz. "Mit dem Vorgehen, das wir heute auf unseren Fernsehschirmen sehen, hat Israel eine Linie überschritten." Vize-Fraktionschefin Véronique de Keyer sagte, nach dem Vorfall müsse die Blockade gegen Gaza komplett aufgehoben werden.
 
Die internationale Organisation "Free Gaza" will mit Hilfsgütern die palästinensische Bevölkerung des Gazastreifens unterstützen. Solidaritätsfahrten von Schiffen sollen auch öffentlichkeitswirksam auf die Blockade des Gebiets durch Israel hinweisen. Free-Gaza-Spendensammlungen werden in Deutschland unter anderem unterstützt von der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft, Pax Christi und IPPNW.
 
Mehrfach wurden Fahrten von "Solidaritätskonvois" mit Dutzenden bis Hunderten Aktivisten an Bord und prominenten Unterstützern organisiert. In August 2008 erreichten laut Free Gaza zwei Schiffe mit Hilfsgütern im Wert von 200.000 Euro von Griechenland über Zypern Gaza. Im Oktober 2008 brachten 26 Aktivisten auf einem weiteren Schiff medizinische Hilfsgüter nach Gaza.
 
Während des Gaza-Krieges endete eine Solidaritätsfahrt Ende Dezember 2008 kurz vor der Küste. Nach Angaben der Aktivisten wurde ihr Boot nach Schüssen vor den Bug von einem israelischen Kriegsschiff gerammt und zum Abdrehen gezwungen. Bei einem weiteren Versuch im Juni 2009 wurde ein Hilfsschiff vor Gaza abgefangen und in den israelischen Hafen Ashdod gezwungen.
 
An dem aktuellen Konvoi war nach Angaben der Organisatoren ein Passagierschiff und zwei Cargoschiffe aus der Türkei beteiligt, die medizinische Hilfsgüter und Baumaterial geladen hatten. Zwei weitere Schiffe sollen aus Griechenland gekommen sein, eines aus Portugal. Insgesamt hatte Free Gaza geplant, rund 10.000 Tonnen an Hilfsgütern nach Gaza zu bringen.
 
Israel hat das kleine Palästinensergebiet am Mittelmeer nach Machtübernahme der radikalen Hamas-Organisation im Juni vor drei Jahren nahezu vollständig von der Außenwelt abgeriegelt. Mit der Blockade will Israel das Einschmuggeln von Waffen verhindern.

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