Von Hendrik Maaßen
Nach zwölf Jahren in Deutschland wurde der Hamburger Wadim S. als Teenager nach Lettland abgeschoben - allein, ohne Sprachkenntnisse, ohne Pass. Immer wieder versuchte er, in die Heimat, die ihn nicht wollte, zurückzukehren. Bis er keinen Ausweg mehr sah.
Wadim S. während einer Kreta-Reise:
"Ich will einfach bei euch sein"
"Ich will einfach bei euch sein"
Auf dem Grab des jungen Mannes liegt, gleich neben seinem Foto, ein Kranz. "Für Wadim. Von Migranten und Staatenlosen", steht auf der Schleife. Wadim war einer von ihnen: ein Mensch ohne Pass, eine Unperson. Er hielt sich illegal in Hamburg auf, als er dort im Januar starb - er legte sich auf die Schienen der S-Bahn.
Fünf Jahre eines unsteten Daseins fanden an jenem Tag ein Ende. Fünf Jahre mit heimlichen Besuchen in einer Heimat, die ihn nicht wollte.
Es ist kurz nach Mitternacht, als es im Februar 2005 an der Wohnungstür von Wadims Familie, den S., in Hamburg-Harburg klingelt.
"Packen Sie Ihre Koffer, wir fahren jetzt nach Lettland", sagt ein Mitarbeiter der Ausländerbehörde. Die Familie soll nach zwölf Jahren Duldung aus Deutschland abgeschoben werden. Der Einsatzbericht der Behörde klingt wie eine Großoffensive, in zwei "Trupps", so heißt es dort, seien die Beamten angerückt.
In der Küche ritzt sich Wadims Mutter Julia den Unterarm auf. Die Beamten fahren sie ins Krankenhaus. Nach kurzer Behandlung soll die "unangekündigte Rückführungsmaßnahme" wie geplant weiterlaufen. Im Treppenhaus schlägt sich Vater Stephan derweil an der Wand den Kopf blutig. Nur Wadim, 18, wird schließlich von den Beamten mitgenommen.
In einem Multivan mit verdunkelten und vergitterten Scheiben beginnt in dieser Nacht Wadims Odyssee. Vom Flughafen Frankfurt aus muss er in Begleitung nach Riga fliegen. In Briefen schreibt er seine Erlebnisse auf.
Sowjetunion-Lettland-Deutschland: Und nun?
1993 waren die S. von Riga aus nach Deutschland gekommen. Bis dahin lebten sie als sowjetische Staatsbürger im sozialistischen Lettland. Mit der Unabhängigkeit Lettlands, so schildern es die S., wurden sie dort zu Außenseitern - man habe sie mit den verhassten Unterdrückern gleichgesetzt. Die Familie bittet um politisches Asyl in Deutschland. Die Behörde weist ihren Antrag ab.
Die S. sollen wieder nach Lettland zurück - doch sie dürfen nicht. Ihre sowjetischen Pässe sind in Lettland nicht mehr gültig. Doch auch die russischen Behörden stellen ihnen keine Papiere aus. Sie seien jetzt Bürger des Landes, in dem sie als letztes gemeldet waren: Lettland. Das geht dort vielen Angehörigen der großen russischen Minderheit so. Die meisten von ihnen bleiben im Land und können "lettische Nichtbürger" werden. Diese Chance bleibt Familie S. verwehrt. Die Eltern versuchen in ihren Geburtsländern Ukraine und Aserbaidschan an Pässe zu kommen. Doch die fühlen sich nicht zuständig.
Die Staatsangehörigkeit bleibt ungeklärt, die Familie bleibt in Hamburg, wo ihnen ständig die Abschiebung droht.
Wadim und sein jüngerer Bruder Victor leben sich in Hamburg ein. In der katholischen Gemeinde im Stadtteil Harburg werden die Kinder Messdiener, fahren mit auf Kinderfreizeiten. Sie finden deutsche Freunde.
Doch die ständige Angst vor den Behörden habe die S. und ihre Kinder krank gemacht, sagt Julia S. heute. "Wie sollten wir uns denn integrieren, wenn wir nicht mal arbeiten durften?"
Julia und Stephan S. suchen Hilfe bei Psychologen. Die psychiatrischen Gutachten stellen eindeutige Verbindungen zwischen ihren Erkrankungen und dem über Jahre ungeklärten Aufenthaltsstatus her. Auf ärztlichen Rat arbeiten beide ehrenamtlich, für ein Bedürftigenprojekt.
Wadim kommt nach der Grundschule aufs Gymnasium. Doch in der Pubertät rutscht er ab. Er geht immer seltener zum Unterricht. Erst muss er auf die Real-, dann auf die Hauptschule wechseln. Mit seiner Clique bricht Wadim in ein Autohaus ein, wird erwischt. Ein Gericht verurteilt ihn zu fünf Sozialstunden. Bis zum Tag seiner Abschiebung besucht Wadim die Berufsschule für Metalltechnik im Stadtteil Wilhelmsburg.
"Was soll ich hier?"
Die erste Nacht nach der Abschiebung verbringt Wadim auf einer Pritsche voller Flöhe in einer Obdachlosenunterkunft in Riga. Er weint und schreit, eine Ärztin gibt ihm starke Beruhigungsmittel. "Ich habe nichts mit Lettland zu tun", schreibt Wadim später in einem Brief. "Was soll ich hier?"
In Hamburg bekommt Familie S. viele Monate später eine Aufenthaltsgenehmigung. Auch Wadim hofft, zurückkehren zu dürfen - doch er ist vorbestraft, die Bemühungen des Anwalts der Familie bleiben erfolglos. "Es ist eine Frage der Verhältnismäßigkeit", sagt Markus Prottung heute. "Mitten in der Nacht fällt ein Stoßtrupp der Behörde mit Unterstützung einer Sicherheitsfirma über eine Familie her und nimmt den Sohn kurzerhand mit - nach zwölf Jahren Duldung. Von der Toleranz und Weltoffenheit, mit der sich die Stadt gern schmückt, sehe ich da nichts."
Doch die Hamburger Ausländerbehörde bleibt bis heute auf dem Standpunkt: "In dem Fall gibt es keinen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der damaligen Maßnahme."
Auf die Frage, warum der junge Mann, der keine deutsche Staatsangehörigkeit hatte, nach Lettland abgeschoben wurde, dessen Staatsangehörigkeit er ebenfalls nicht besaß, teilt die Behörde mit: "Entscheidend ist, ob der Zielstaat zu der Aufnahme bereit ist, auf die Staatsangehörigkeit oder ethnische Zugehörigkeit kommt es dabei nicht an."
Wadim bewegt sich bald illegal in Europa: Mit 19 verdingt er in Frankreich als Tagelöhner bei der Weinernte, dann arbeitet er in der Schweiz. Als er 20 ist, nehmen ihn Polizisten an der belgischen Grenze fest. Wieder wird er nach Lettland abgeschoben.
"Warum kümmert ihr euch nicht um mich?"
Zunächst scheint sich sein Leben zu stabilisieren: Er findet in Riga - auch ohne Lettischkenntnisse - Arbeit in einer Lackiererei, die Maschinen aus Deutschland gekauft hat. Die technischen Anleitungen sind auf Deutsch verfasst. Wenn es Probleme gibt, rufen die Kollegen "den Deutschen". "Wadim tat es gut, wieder gebraucht zu werden", sagt seine Mutter Julia.
Es gab also endlich gute Tage. An schlechten Tagen rief Wadim weinend in Hamburg an: "Mama, ich brauche Geld", sagte er dann, oder er schrie in den Hörer "Warum kümmert ihr euch nicht um mich?"
"Er wollte nur wieder mit uns zusammenleben dürfen, hier in Hamburg", sagt Julia S. "Nichts weiter."
Wadims Arbeitgeber geht schließlich pleite. Der mittlerweile 21-Jährige versucht per Reisebus über Polen nach Deutschland einzureisen - eine Straftat, weil mit der Abschiebung ein Einreiseverbot ausgesprochen wurde. Grenzbeamte erwischen ihn, er wird zu einer Geldstrafe verurteilt, die er nicht zahlen kann oder will.
Ein Jahr später wird Wadim ersatzweise zum Haftantritt nach Brandenburg geladen. Rechtsanwalt Markus Prottung verliert den Glauben an das Rechtssystem: "Fordern Sie meinen Mandanten wirklich auf, eine weiter Straftat zu begehen, um eine andere zu sühnen?", schreibt er an die Behörde.
4300 Euro für eine neues Leben
Wadim verliebt sich in eine Lettin. Von Anwalt Prottung erfährt er in einer E-Mail, dass er wieder nach Hamburg dürfte, wenn er eine EU-Bürgerin heiratete. Doch das neue Leben hat einen Preis: Die deutschen Behörden verlangen zuerst die Abschiebekosten zurück. 4300 Euro müsste Wadim für seine Rückkehr bezahlen. Das Geld haben weder er noch seine Eltern.
Einen Sommer lang hält Wadims neue Liebe, dann trennt sich das Paar.
Wadim S. kündigt sein Zimmer in Riga. "Er war am Ende", sagt seine Mutter Julia. Mit einer Frachtfähre schmuggelt er sich wie fast jedes Jahr über Dänemark nach Hamburg.
Heiligabend 2009 besucht Wadim die Weihnachtsmesse seiner ehemaligen Gemeinde in Harburg. Er bleibt ein paar Wochen in der Stadt, trifft alte Freunde aus seiner Zeit als Messdiener wieder. Gemeinsam plant man eine Reise nach Frankreich. Wadim erzählt den Freunden von seinen Plänen: Als nächstes will er in Dänemark Arbeit suchen.
Doch dazu kommt es nicht.
Die Situation im Elternhaus ist angespannt. Julia und Stephan S. haben Angst vor jedem Polizeibeamten auf der Straße, sie drängen den Sohn, Hamburg zu verlassen. "Ich musste ihm doch sagen, dass er nicht bleiben kann", sagt Julia S. "Ich hätte es nicht ertragen, wenn er noch einmal abgeschoben worden wäre."
In einem der letzten Gespräche mit der Mutter sagt Wadim: "Ich will einfach hier in Hamburg sein, bei euch, so wie früher." Wie er sich das vorstelle, fragt sie. "Du wirst schon sehen, wie das geht", antwortet er.
Auf seiner Facebook-Seite postet Wadim im Januar einen Eintrag: "If some people live in the past, let them live in the past :-) !!!".
Wenige Stunden später legt er sich vor einen Zug.
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