Geologen rieten ab, die Politik entschied anders: Warum wurde ausgerechnet Gorleben als Nuklear-Müllhalde ausgewählt? Von Greenpeace veröffentlichte Dokumente zeigen, wie Fachleute immer wieder übergangen wurden - von Vertretern fast aller Parteien. SPIEGEL ONLINE hat das Material analysiert.
In wenigen Tagen, am 22. April, trifft sich der Gorleben-Untersuchungsausschuss des Bundestages zu seiner ersten Sitzung. Die Parlamentarier werden noch mehr Akten wälzen müssen als ohnehin schon geplant: Die Umweltschutzorganisation Greenpeace hat gerade ein Online-Archiv mit bisher nicht zugänglichen Dokumenten zur Endlagersuche aus den siebziger Jahren freigeschaltet. Das digitalisierte Aktenkonvolut, das SPIEGEL ONLINE zum Teil vorab sichten konnte, soll belegen, dass Gorleben allein auf politischen Druck hin ausgewählt wurde - und weniger mit wissenschaftlichem Sachverstand.
In der Tat lassen die Dokumente arge Zweifel an den Motiven für die Auswahl von Gorleben aufkommen. Gleichzeitig belegen sie, dass es die klassischen Rollen von Gut und Böse bei der Kür des Atomklos nicht gab. Die Papiere beweisen zunächst den politischen Druck der Bonner Regierung auf Niedersachsen - in einer Zeit, als Verträge mit Frankreich zur Wiederaufbereitung deutschen Atommülls ausliefen. "Die Entsorgung der deutschen Kernkraftwerke kann nach 1980/81 nur noch durch deutsche Einrichtungen erfolgen", warnte etwa der damalige Bundesminister für Forschung der sozialliberalen Bonner Koalition, Hans Matthöfer (SPD), im Sommer 1976 in einem Brief an Niedersachsens Wirtschaftsminister Walther Leisler Kiep (CDU).
Im Januar 1977 erklärte die "Projektgesellschaft Wiederaufbereitung von Kernbrennstoffen" in einem Schreiben an den Niedersächsischen Innenminister, "die Entsorgungssituation der deutschen Kraftwerke in den Jahren 1981/82" werde "kritisch werden". Mit der sogenannten vierten Atomgesetznovelle hatte die Politik die Lösung der nuklearen Endlagerung zu ihrer Aufgabe gemacht: Nicht die Müllproduzenten mussten ein Endlager finden, sondern der Staat. Gleichzeitig benötigte die Atomindustrie für die Genehmigung ihrer Kernkraftwerke einen Nachweis von Endlagerkapazitäten. Sonst wären die Kraftwerksprojekte Biblis B, Unterweser und Brunsbüttel gefährdet gewesen.
Der hohe politische Druck lässt sich bei der Lektüre der Papiere spüren. Die Unterlagen sicherte sich Greenpeace über das Umweltinformationsgesetz. Sie stammen von der Staatskanzlei und dem Umweltministerium in Niedersachsen sowie von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR), die ebenfalls in Hannover sitzt. In weiteren neun Ministerien laufen derzeit Anfragen zur Akteneinsicht. Die Umweltschützer gehen davon aus, dass sie bis zum Jahresende auf diese Weise 500 Dokumente fürs Online-Archiv zusammenbekommen, derzeit sind es bereits 40 Papiere.
Die Lektüre hilft zumindest ein Stück weit zu verstehen, wie es dazu kam, dass gerade Gorleben gewählt wurde. Denn lange Zeit spielte der Salzstock in der Diskussion überhaupt keine Rolle. Warum sollte am Ende trotzdem bei dem kleinen Dörfchen im Wendland, direkt an der "Zonengrenze", ein nukleares Entsorgungszentrum entstehen - mit der größten Wiederaufbereitungsanlage der Welt, einem nuklearen Zwischen- und Transportbehälterlager, und eben auch einem Endlager für Strahlenabfälle aller Art?
Handschriftlich ergänzte Tabelle
Die erste Suche nach einem deutschen Atomlager war bereits Ende der sechziger Jahre gescheitert, als sich unter anderem die Bürger im ostfriesischen Bunde und dem schleswig-holsteinischen Oldenswort gegen eine Nukleardeponie stark machten. Auf der Suche nach einem Standort für ein Entsorgungszentrum hatte das Bonner Forschungsministerium dann zwischen 1972 und 1975 systematisch Salzstöcke untersuchen lassen - andere Formationen wie etwa in Ton oder Granit spielten keine Rolle.
Den Job übernahmen die Geologen Gerd Lüttig und Rudolf Wagner im Auftrag der Kernbrennstoff-Wiederaufbereitungsgesellschaft (Kewa). Geologische Fragen waren dabei nur ein Teil des Kriterienkataloges. Stattdessen ging es nicht zuletzt darum, dass für das Nuklearstädtchen genug Fläche zur Verfügung stand - möglichst weitab von anderen Wirtschaftszweigen wie Landwirtschaft oder Tourismus. So lange die Anlage genug Platz hatte und niemanden störte, war alles gut, so das Credo.
Gorleben fand sich nicht im abschließenden Kewa-Bericht. Die Experten waren nämlich bei ihren Analysen auf das wasserlösliche Mineral Carnallit gestoßen. Die Gefahr, dass Teile des Gesteins ausgewaschen werden könnten, war eine denkbar schlechte Voraussetzung für die Standsicherheit des geplanten Bergwerkes. Außerdem liege das Gebiet in einer "Ferienzone". Stattdessen blieben drei andere Standorte in Niedersachsen übrig: Börger/Wahn im Emsland, Lichtenhorst im Lichtenmoor und Lutterloh in der Lüneburger Heide. An allen drei Standorten gab es aber Proteste gegen die geologischen Erkundungen.
Im Juni 1976 beauftragte das niedersächsische Sozialministerium den TÜV Hannover, eine Stellungnahme zu schreiben. Die Experten machten sich in Niedersachsen und Schleswig-Holstein auf die delikate Suche. Sieger des Wettbewerbs wurde schließlich das schleswig-holsteinische Örtchen Nieby bei Flensburg, wo der Salzstock allerdings nicht direkt unter dem Standort des Entsorgungszentrums gelegen hätte. Auch in dem TÜV-Bericht taucht Gorleben zunächst nicht auf.
Erst in einer handschriftlichen Ergänzung findet sich der Name des Ortes wieder: Auf Seite 50 des Gutachtens ist die entscheidende Wertungstabelle um zwei zusätzliche Spalten erweitert: Gorleben und Mariaglück. Per Post ging die veränderte Tabelle vom niedersächsischen Sozial- an den Wirtschaftsminister.
Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU) erhielt die TÜV-Unterlagen ("vertraulich") zum Jahreswechsel 1976/77. Bereits zuvor hatte er sich vom Bund das Recht erbeten, einen eigenen Vorschlag in der Endlagerfrage zu machen. Doch drei Minister aus Bonn machten sich auf den Weg an die Leine, um Druck in der Endlagerfrage zu machen: Neben SPD-Mann Matthöfer kamen auch dessen Kabinettskollegen Werner Maihofer (Innenminister, FDP) und Hans Friderichs (Wirtschaftsminister, FDP). Schließlich ließ man Albrecht gewähren. Der Landesvater durfte Bonn einen Vorschlag machen.
Am 16. November erkundigte sich Albrecht noch brieflich beim Bonner Wirtschaftsminister Hans Friedrichs, "ob die Entsorgung der Kernkraftwerke in der Bundesrepublik nicht in Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten vorgenommen werden kann" - ohne Erfolg.
Bereits im August 1976 hatte die Niedersächsische Landesregierung die sogenannte Interministerielle Arbeitsgruppe "Entsorgungszentrum" (Imak) eingesetzt. Deren Mitglieder sollten mit Unterstützung des Landesamtes für Bodenforschung und des Oberbergamtes im Land nach dem passenden Standort fahnden. Wichtigstes Kriterium war wieder die Raumordnung: Die Fläche über dem zur Lagerung vorgesehenen Salzstock musste mit zwölf Quadratkilometern groß genug sein. Geologische Kriterien machten wiederum nur einen Bruchteil der Gesamtnote aus.
Im Dezember 1976 beauftragte das Wirtschaftsministerium in Hannover die Interministerielle Arbeitsgruppe, dazu innerhalb von fünf Tagen eine Kabinettsvorlage zu erarbeiten - "streng vertraulich".
Spärliche Dokumentation des Kabinettsbeschlusses
Doch wie kam nun Gorleben in die Auswahl? Die Aktenlage zu dieser Frage ist reichlich dünn. Vor einem Untersuchungsausschuss des niedersächsischen Landtages erklärte Niedersachsens damaliger Wirtschafts- und Finanzminister Kiep im März 2010, er habe Gorleben als Standort ins Gespräch gebracht. Bis dahin sei in Hannover ein Endlager im emsländischen Wahn favorisiert worden. Kiep bezog sich bei seinen Aussagen auf sein altes Tagebuch, in dem er die Geschehnisse vermerkt haben will.
Klar scheint, dass schließlich die Standorte Wahn - wegen eines nahen Bundeswehrschießplatzes - und Höfer/Mariaglück bei Celle aus der Auswahl gestrichen wurden. In den bisher vorliegenden Akten taucht Gorleben am 18. November 1976 zum ersten Mal auf: In einer handschriftlichen Anmerkung auf einem Dokument aus der Staatskanzlei wird auf einen Standort im Landkreis Lüchow-Dannenberg verwiesen. Mehr nicht.
Die Entscheidung für die ergebnisoffene Erkundung von Gorleben fiel schließlich am 22. Februar 1977 in der Niedersächsischen Landesregierung. Erst kurz zuvor hatte sich der bis dahin in einer Minderheitsregierung arbeitende Albrecht die entscheidenden Stimmen im Landtag gesichert. Der Kabinettsbeschluss zu Gorleben ist - zumindest in den bisher vorliegenden Akten - extrem spärlich dokumentiert. "Nach eingehender Erörterung beschließt das Kabinett, Gorleben als vorläufigen Standort eines möglichen Entsorgungszentrums für ausgebrannte Kernbrennstoffe zu benennen", heißt es in einem Auszug der Abschrift der Kabinettssitzung.
Mehr Informationen sind bisher nicht zugänglich. Inwieweit politische Lobbyarbeit, etwa von Lokalpolitikern aus dem strukturschwachen Landkreis Lüchow-Dannenberg, eine Rolle spielte, lässt sich derzeit nicht nachvollziehen.
Manche vermuten, dass Albrecht bei der Wahl für Gorleben hoch pokerte - und darauf hoffte, dass die Bundesregierung den Standort ablehnen würde. Denn in Bonn hatte man wegen der Nähe des Areals zur innerdeutschen Grenze Bauchschmerzen. Geldforderungen aus Ost-Berlin schienen eine ebenso große Gefahr wie ein NVA-Kommandoeinsatz zur Einnahme der Nuklearanlage. So schrieb etwa Bundeskanzler Helmut Schmidt noch drei Tage vor der niedersächsischen Kabinettsentscheidung an den Landesvater: "Ich habe ferner nachdrücklich auf die Bedenken der Bundesregierung gegen den Standort Gorleben hingewiesen."
Doch Albrechts Linie war simpel: Entweder in Gorleben - oder überhaupt nicht in Niedersachsen. Im Juli 1977 akzeptierte die Bundesregierung schließlich den Standort. Möglicherweise hatte sich Albrecht also verzockt. Belegen lässt sich das nicht.
Die oberirdische Erkundung der abgelegenen Grenzregion begann im April 1979. Der Plan für die vorgesehene Wiederaufbereitungsanlage kippte nur wenig später (Albrecht: "Der Bau einer Wiederaufarbeitungsanlage ist sicherheitstechnisch realisierbar, aber politisch nicht durchsetzbar.") Erst ab jetzt ging es nur noch um ein Endlager - die für die Anlage benötigte Fläche fiel also deutlich kleiner aus als bei der Suche ursprünglich angesetzt. Das Projekt der Wiederaufbereitungsanlage wurde ab 1985 im bayerischen Wackersdorf verfolgt.
Die Physikalisch Technische Bundesanstalt (PTB) prüfte schließlich den Salzstock in Gorleben. Eines der Gutachten, es stammt vom Kieler Geologen Klaus Duphorn, fiel verheerend aus: Der Salzstock würde den Strahlenmüll womöglich nicht dauerhaft abschirmen, argumentierte er. Auf Druck der damaligen schwarz-gelben Bundesregierung - mittlerweile führte Helmut Kohl in Bonn das Ruder - tilgte die zuständige PTB-Abteilung aber im Frühjahr 1983 den Vorschlag aus dem Gutachten, neben Gorleben auch noch andere Standorte erkunden zu lassen. Ein Telex mit einer unmissverständlichen Anweisung sorgte für den Sinneswandel.
Im Juli 1983 stimmte das Bundeskabinett dann für die Erkundung von Gorleben unter Tage. Und wenige Monate später, im Dezember, gab das Bergamt in Celle seine Zustimmung. Die Arbeiten unter der Erde liefen an. Auf Grundlage dieses Beschlusses sollen auch jetzt, 27 Jahre später, die Arbeiten weiterlaufen - allen nun dokumentierten Ungereimtheiten zum Trotz.
Die Greenpeace-Unterlagen beweisen, dass kein politisches Lager in der Gorleben-Frage fehlerlos agiert hat. Und doch ist für Greenpeace-Mann Martin Edler, der die Akten gesichtet hat, eine Aussage wichtig: "Es gab kein wissenschaftliches Auswahlverfahren mit dem Ergebnis Gorleben." Im Untersuchungsausschuss könnten die neuen Papiere im Idealfall dabei helfen, dass sich die großen Parteien keine Deals im Hintergrund ("Schonst du meinen Mann, schone ich deinen") leisten können.
Zusätzliche Brisanz für die grundsätzliche Frage, ob Gorleben als Standort überhaupt geeignet ist, birgt ein Dokument, das sich ebenfalls im Besitz der Umweltschützer befindet. Darin geht es um ein möglicherweise gefährliches Reservoir von Salzlauge. Das befindet sich nach Erkenntnissen der BGR auf der 840-Meter-Sole im sogenannten Erkundungsbereich eins des Gorlebener Bergwerkes. Salzlauge im Bergwerk? Das klingt nach den Erfahrungen im desolaten Atomlager Asse, wo große Mengen Lauge in das Bergwerk laufen, einigermaßen problematisch. Bisher war der Öffentlichkeit davon aber nichts bekannt, weil die Erkenntnisse unter Verschluss gehalten wurden.
Warum, das lässt sich erahnen: Der Vermerk aus dem Jahr 1996 prognostiziert nämlich auch die Größe der Flüssigkeitsblase, mitten im geplanten Atommülllager. Es geht um bis zu einer Million Kubikmeter Salzlauge.
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