Mittwoch, 7. April 2010

Positives Umfeld: Kanadas schwarze Schule

Was Tayyip Erdogan für Deutschland fordert, gibt es in Kanada bereits: eine Spezialschule für eine bestimmte Zuwanderergruppe. Nämlich für Schwarze.

VON CLAUDIA BLUME

"Wir sehen uns als eine Gemeinschaft von Lernenden."
Foto: Michele Sandberg
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Die siebenjährige Shereka und ihr gleichaltriger Freund Nathan essen ihr Pausenbrot im Büro ihrer Schulleiterin. Thando Hyman-Aman, die Rektorin, hat kein Problem damit. Schüler, Eltern und Lehrer gehen hier ständig ein und aus, die Tür ist für alle offen. Shereka fühlt sich wohl in ihrer Schule. "In meiner alten Schule waren die Kinder gemein zu mir. Sie haben gesagt: Du bist schwarz, wir wollen nicht mit dir spielen", sagt sie. "Jetzt bin ich stolz darauf, schwarz zu sein!"

Keine Minderheit zu sein ist eine völlig neue Erfahrung für Shereka. Alle 130 Kinder der "Africentric Alternative School" im kanadischen Toronto sind so dunkelhäutig wie sie. Die meisten stammen aus der Karibik. Sie sind Schüler der ersten afrizentrischen Schule Kanadas, die vergangenen September eröffnet wurde. Die Gründung war eine Reaktion auf die hohe Schulabbruchs-Quote unter Jugendlichen mit afrikanischen Wurzeln: rund 40 Prozent von ihnen verlassen die Schule ohne Abschluss.

"Wir wollten ein Umfeld schaffen, in dem die Traditionen von Menschen afrikanischer Herkunft in einem positiven Licht gezeigt werden", sagt Lloyd McKell von der Schulbehörde. McKell stammt selbst aus Trinidad. "Die Gesellschaft vermittelt ihnen, dass sie nicht den gleichen Wert haben. Lehrer haben oft eine negative Erwartungshaltung. In der afrizentrischen Schule sollen sie lernen, stolz auf sich zu sein und mehr Selbstbewusstsein zu entwickeln."

Die Kinder sollen von Vorbildern lernen. An den Wänden hängen Bilder von berühmten Zeitgenossen afrikanischer Abstammung - Nelson Mandela etwa oder Michaëlle Jean, der in Haiti geborenen Generalgouverneurin Kanadas. Das Curriculum folgt den Richtlinien der Provinz Ontario, deren Hauptstadt Toronto ist. Doch Rektorin Hyman-Aman und das Lehrerkollegium versuchen, so viel afrikanische Elemente wie möglich in den Schulalltag zu integrieren. Die Kinder lernen afrikanische Tänze, ein paar Brocken Suaheli und können nach der Schule trommeln lernen. Sooft es geht, lesen sie Bücher schwarzer Autoren im Unterricht und studieren afrikanische Geschichte. Traditionelle afrikanische Spiele werden in den Mathematikunterricht integriert.

Nach der kanadischen Nationalhymne singen die Schüler jeden Morgen die von einem Afroamerikaner Anfang des 20. Jahrhunderts geschriebene schwarze Nationalhymne "Erhebt alle Stimmen und singt". Jeden Tag schwören die Kinder bei der Schulversammlung, stets ihr Bestes zu geben. "Wir wollen, dass die Kinder die Führer von morgen werden. Sie sollen nicht nur über ihre Herkunft lernen, sondern Wissen über die ganze Welt erlangen und lernen, wo ihr Platz darin ist, was sie tun können, um Dinge zu ändern", sagt Hyman-Aman.

Besonders stolz ist die Schulleiterin darauf, dass die Kinder aus eigenem Antrieb einen Spendenaufruf für die Erdbebenopfer von Haiti organisiert und in einem Projekt die Geschichte des Landes erforscht haben.

Obwohl die afrizentrische Schule erst vor wenigen Monaten eröffnet wurde, haben viele Eltern bereits eine Veränderung bei ihren Kindern bemerkt. "Mein Sohn war bis zum vierten Schuljahr in einer regulären Schule und war immer sehr schüchtern", sagt Angela Villous. "Seitdem er hier ist, haben sich nicht nur seine Noten erheblich verbessert, er ist auch viel selbstbewusster geworden. Ich war völlig erstaunt, dass er vor kurzem freiwillig bei einer Theateraufführung mitgemacht hat!"

Besorgt um die Zukunft ihrer Kinder, hatten viele afrokanadische Familien jahrelang für die Gründung der Schule gekämpft. Doch als sie im letzten Jahr mit knapper Mehrheit von der Schulbehörde genehmigt wurde, löste die Entscheidung in Kanada eine öffentliche Debatte aus. Viele Politiker und Medien kritisierten das Projekt - genau wie in Deutschland, für das sich der türkische Premier Erdogan die Einrichtung türkischer Gymnasien gewünscht hatte. Gegner der afrizentrischen Schule glauben, dass sie zur Rassentrennung beiträgt, dass sie mit den Werten der kanadischen Gesellschaft, die auf Integration setzt, nicht vereinbar ist.

Toronto ist eine der multikulturellsten Städte der Welt. Fast die Hälfte der mehr als fünf Millionen Menschen, die hier leben, sind nicht in Kanada geboren. Nach der neuesten Bevölkerungsprognose werden in Großstädten wie Toronto in 20 Jahren Kanadier europäischer Herkunft in der Minderheit sein. Die meisten Schulen der Stadt spiegeln diese Vielfalt wider.

Schulleiterin Hyman-Aman hält Kritikern entgegen, dass die Schule zwar einen afrizentrischen Schwerpunkt hat, dass jedoch Kinder jeglicher Herkunft willkommen sind. George Dei, Professor am pädagogischen Institut der Universität von Toronto, sagt dass die afrizentrische Schule, die bisher nur bis zum 5. Schuljahr geht, zudem vor allem ein Pilotprojekt ist. Erkenntnisse, die hier gewonnen werden, sollen später auch in reguläre Schulen einfließen, um die Situation von afrokanadischen Schülern zu verbessern. Forschungen über afrizentrische Schulen in den USA haben gezeigt, dass schwarze Schüler dort deutlich besser abschneiden als in regulären Schulen. "Sie haben bessere Noten, schwänzen seltener die Schule, zeigen mehr Respekt gegenüber Älteren und Autoritätspersonen und mehr soziales Verantwortungsgefühl."

Die afrizentrische Schule ist nur eine von mehr als 40 alternativen Schulen in Toronto, die meist aus der Initiative von Eltern entstanden sind und mit öffentlichen Mitteln finanziert werden. So gibt es Schulen für kanadische Ureinwohner oder für künstlerisch interessierte Kinder und sogar eine Schule für Schwule und Lesben.

Lloyd McKell sagt, Ziel der Schulbehörde sei es, "alle Barrieren zu beseitigen, die den Erfolg eines Schülers beeinträchtigen könnten". Die alternativen Schulen sind kein Widerspruch, sondern ein Teil dieser Philosophie des Lernens. Alle Schüler sollen die gleichen Möglichkeiten haben - unabhängig von ihrer sozialen oder kulturellen Herkunft. "Toleranz, die Akzeptanz von Vielfalt, verschiedenen Sprachen und Religionen ist ein Teil der kanadischen Identität."

Vielleicht ist dies das Geheimnis des Erfolgs des kanadischen Bildungssystems: Regelmäßig erreicht Kanada beim Pisa-Test einen Spitzenplatz, im Gegensatz zu Deutschland gelingt es dem Land, Zuwanderer und Risikoschüler erfolgreich zu fördern. Deutsche Bildungsforscher versuchen seit Jahren von Kanada zu lernen, weil das Land ein ähnliches föderales Bildungssystem hat. Die 13 Provinzen und Territorien entwickeln alle ihren eigenen Bildungsplan.

McKell sagt, dass es noch immer eine Kluft in Bezug auf die akademischen Erfolge von Kindern aus einkommensschwachen Familien und bestimmten ethnischen Gruppen gibt. Doch seine Behörde arbeitet daran, die Kluft zu schließen. Einwandererkinder bekommen ab der ersten Klasse Englisch-Förderunterricht. Gleichzeitig bieten Schulen nachmittags oft Kurse in den Muttersprachen der Kinder an, etwa in Chinesisch oder Portugiesisch. Noch orientiert sich das Schulsystem vor allem an europäischen Traditionen - aber das soll sich ändern.

In sozial schwachen Gegenden werden zusätzliche Lehrkräfte eingestellt, die intensiv mit Problemschülern arbeiten. Nachmittags werden in Problemschulen Freizeitaktivitäten und Hausaufgabenbetreuung angeboten, da viele Kinder zu Hause keine Ruhe haben und wenig gefördert werden. Ausflüge - etwa zu den Museen der Stadt - werden von der Stadt subventioniert.

Eine weitere wichtige Strategie ist es, eng mit Eltern zusammenzuarbeiten. Sie sollen lernen, wie sie ihre Kinder auch außerhalb der Schule fördern können "Bildung passiert auch zu Hause", sagt McKell.

Der afrizentrischen Schule ist die enge Einbindung der Eltern bereits gelungen. Genau wie ihre Kinder fühlen sie sich als Teil einer starken Gemeinschaft. Lernen wird hier als kollektive Aufgabe gesehen. Der aus Ghana stammende George Dei sagt, dass die Schule afrikanischen Traditionen folgt. "Im Westen stehen individuelle Leistungen im Vordergrund. Wir sehen uns als eine Gemeinschaft von Lernenden."

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