Mittwoch, 21. April 2010

Sie wollen kein Kanonenfutter sein

Wehrdienst in Kolumbien

Aus Bogotá berichtet Peter Marz

Seit Jahrzehnten bekämpfen sich Armee, Guerilla, Paramilitärs: Kolumbien ist kein friedliches Land. Wer den Wehrdienst aus Gewissensgründen verweigert, hat es schwer. Ohne Militärpass sind junge Männer wie Alejandro, 28, im Beruf oft chancenlos - und bekommen nicht einmal ihren Uni-Abschluss.

Ein Uhr nachts in Soacha bei Bogotá, Dunkelheit, Straßenlaternen. Vor der Sporthalle, dem Coliseo, ein Auflauf wie beim Fußball. Der Fernsehsender Citytv zeigt Menschen mit Anoraks, Schals und Ruanas, einer Art Poncho; es ist kalt auf 2256 Metern Höhe. Manche sitzen auf dem Gehsteig und pressen nervös ihre Hände zusammen, andere gehen ziellos auf und ab. Ihre Gesichter wirken bedrückt wie nach einem Erdbeben.


Sie haben Angst, dass die Armee ihre Söhne, Brüder, Freunde einzieht. Für sechs Uhr morgens hatten die Streitkräfte die Wehrpflichtigen ins Coliseo zitiert, zum "Rekrutierungstag". Niemand weiß, wer heute eingezogen wird. Oder nächstes Jahr. Oder vielleicht nie.


Jetzt ist es tief in der Nacht, die Jugendlichen haben den ganzen Tag nichts gegessen. Ein Citytv-Reporter interviewt eine weinende Mutter: "Vor zehn Jahren hat die Guerilla meinen Mann umgebracht, jetzt will die Armee meinen Sohn holen", schluchzt die Frau. "Das ist ungerecht." Ein Vater zürnt: "Da haben unsere Kinder jahrelang die Schulbank gedrückt, um Abitur zu machen, damit dann die Soldaten kommen, sie wie Gefangene zusammentreiben und in diese Lastwagen pferchen." Rund 400 werden an diesem Tag direkt in die Kasernen gekarrt.


Wehrdienst in Kolumbien: Die meisten jungen Männer sehen darin eine lästige, gefährliche Pflicht, zu der es keine Alternative gibt, sagt Alejandro Parra, 28. Er ist Wehrdienstverweigerer aus Gewissensgründen und damit eine Ausnahme. Die Rechtslage ist nebulös; einen zivilen Ersatzdienst kennt der Andenstaat nicht.


Ziemlich verworrene Rechtslage
Die Verfassung erklärt in Artikel 18, niemand dürfe gezwungen werden, "gegen sein Gewissen zu handeln". Trotzdem verpflichtet Artikel 216 jeden Bürger zum Dienst an der Waffe, "wenn die öffentlichen Notwendigkeiten es erfordern, um die nationale Unabhängigkeit und die öffentlichen Institutionen zu verteidigen". Ein Gesetz bestimmt, wer von der Wehrpflicht befreit wird: indianische Ureinwohner etwa sowie körperlich oder geistig Untaugliche. Eine Verweigerung aus Gewissensgründen ist nicht vorgesehen.


Alejandro hat Geografie, Geschichte und Sozialkunde studiert, um Lehrer zu werden. Er ist Aktivist bei der ACOOC, einer Gruppe von Wehrdienstverweigerern. Seinen Entschluss, nicht zur Armee zu gehen, traf Alejandro - dunkler Typ, Dreitagebart, sanfte Stimme - vor mehr als zehn Jahren. Freunde hatten traumatische Erfahrungen geschildert: Wehrdienst sei schrecklich, man werde in der Armee zu unbeschreiblichen Dingen gezwungen, "geh da bloß nicht hin!"


Alejandros Vater, unglücklich über die Entscheidung des Sohns gegen die "vaterländischen Pflicht", unterhielt sich mit einem Freund: einem Polizisten, der gerade an einem Menschenrechtskurs teilgenommen hatte. So kam Alejandro mit Dozenten in Kontakt, die ihm die Verweigerung aus Gewissensgründen erklärten. Das kann durchaus gelingen - obwohl Verfassungsklagen, die eine gesetzliche Anerkennung fordern, stets scheiterten.


So entschied das Verfassungsgericht 1992: "Die Garantie der Gewissensfreiheit schließt nicht notwendigerweise die positive Anerkennung der Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen ein." Zwei Jahre später, in einem ähnlichen Urteil, wichen drei Verfassungsrichter von der Mehrheitsmeinung ihrer sechs Kollegen ab und erklärten es für notwendig, die Verweigerung per Gesetz zu regeln.


"Reise ruhig, deine Armee wacht"
Kolumbianische Wehrpflichtige leisten ihren Dienst nicht in einem Umfeld des Friedens, sondern im bewaffneten Konflikt zwischen Staat, Paramilitärs und Guerillagruppen. "Ich habe in erster Linie ethische Gründe", sagt Alejandro. "Meine Eltern haben mir beigebracht: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu. Ich will nicht, dass man auf mich schießt - genauso wenig werde ich auf meine Mitmenschen schießen." Und: "Ich will nicht, dass der Staat mich benutzt, um private Interessen zu schützen."
So argumentieren viele Wehrdienstgegner: Der Staat vertrete die Interessen der reichen Elite und internationaler Konzerne in einem Krieg, in dem sie kein Kanonenfutter sein wollen. Nach staatlichem Verständnis hingegen sind Soldaten Helden, die für den Schutz der Bürger ihr Leben riskieren. "Reise ruhig, deine Armee wacht", steht auf Plakaten an den Landstraßen.


Oft fühlen sich Wehrdienstverweigerer wie flüchtige Verbrecher, wenn etwa die Armee die gefürchteten "Batidas" organisiert, Razzien an öffentlichen Orten: auf der Straße, am Busbahnhof, in Einkaufszentren, vorm Fußballstadion. "Wer nicht mit Dokumenten beweisen kann, dass er Familienvater, Student oder Inlandsflüchtling ist, den können sie von der Straße weg zum Wehrdienst einziehen", sagt Alejandro. Batidas würden vor allem in Arbeitervierteln durchgeführt. Eine sehr erschreckende Praxis, die an die Zwangsaushebung in Militärdiktaturen erinnert. Das sei "quasi eine legale Entführung" und für das Militär einfach: "Der Wehrpflichtige hat weniger Optionen als im regulären Verfahren, es gibt keinen Aufschub."


Zudem versuchen Tausende von "Evasores", dem Wehrdienst zu entgehen, in dem sie Musterung und Rekrutierungstag fernbleiben - anders als Verweigerer wie Alejandro, die pflichtgemäß erscheinen: mit einer schriftlichen Verweigerungserklärung in der Hand. Darauf reagieren die Militärs wegen der wirren Rechtslage unterschiedlich. Alejandro erschien zu vier Rekrutierungstagen. Einmal, erzählt er, wollte man ihn fast mit Gewalt einziehen: Er konnte in der Menge untertauchen, nachdem er zur Tarnung mit jemandem den Pulli getauscht und die Reihe gewechselt hatte.


Ohne Militärbuch kein Uni-Abschluss
"Von 1000 jungen Männern beim Rekrutierungstag weiß vielleicht einer, dass er die Option hat, Nein zu sagen", so Alejandro. Daher gebe es nur wenige Verweigerer aus Gewissensgründen, landesweit rund 200. Und in Kolumbien haben es alle schwer, denen die "Libreta militar" fehlt: Das ausweisähnliche "Militärbuch" beweist, dass der Besitzer pflichtgemäß als Reservist registriert ist. Ohne Militärbuch darf man weder für öffentliche Ämter kandidieren noch im Öffentlichen Dienst arbeiten.


Schlimmer noch: Ohne Militärbuch gibt es auch keinen Uni-Abschluss, und viele Arbeitgeber bestehen darauf, dass Bewerber das Papier vorlegen. "Es ist ein Instrument der sozialen Kontrolle", sagt Alejandro. "Wer sich Scherereien sparen will, hat keine Wahl: Er kann sich dem Wehrdienst nicht entziehen."


Alejandro hat sein Studium abgeschlossen, bekommt aber keinen akademischen Titel. Mehrmals habe ihm die Armee angeboten, das Militärbuch zu kaufen, erzählt er - der Preis, zunächst unverschämt hoch, sei von Brief zu Brief geschrumpft. Nur wäre es "absurd zu sagen: Ich leiste keinen Wehrdienst, aber ich zahle die Libreta. Kann sein, dass du damit die Kugel bezahlst, mit der sie dich erschießen und danach als Guerillero hinstellen", spielt Alejandro auf den Skandal der sogenannten "falsos positivos" an, der 2008 weltweit Schlagzeilen machte - unschuldige junge Männer wurden von der Armee erschossen und danach in der Erfolgsstatistik als getötete Guerillas gezählt.


Im Oktober 2009 hat das Verfassungsgericht erneut - mit fünf zu vier Stimmen - entschieden, die bisherigen Gesetze seien verfassungskonform. Zugleich aber erkannten die Richter erstmals das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen an. "Wenn jemand aus philosophischen, ethischen oder religiösen Gründen glaubhaft machen kann, dass sein Gewissen es ihm nicht erlaubt, Waffen zu tragen, kann er vom Dienst ausgeschlossen werden", erklärte der Gerichtsvorsitzende.


Bis das Urteil praktische Wirkung entfaltet, mögen noch Jahre vergehen - für Kolumbiens Demokratie sehen es Menschenrechtler als wichtigen Fortschritt. Wehrdienstverweigerer können hoffen, eines Tages doch noch ihren Uni-Abschluss zu erhalten - auch ohne Militärbuch. So lange wird Alejandro wohl nicht warten: Er kennt private Schulen, die ihn trotzdem einstellen würden. "Einen Job an einer staatlichen Schule kann ich als Verweigerer sowieso vergessen."

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