Die türkische Polizei geht mit Wasserwerfern, Tränengas und Schlagstöcken auf linke Demonstranten los. Die besondere Härte erklärt sich mit der Angst vor einem Putsch: Dem Militär soll kein Vorwand geboten werden, einzugreifen.
Vor 30 Jahren kamen bei einer Mai-Kundgebung am Istanbuler Taksim-Platz 34 Menschen ums Leben, als Unbekannte aus umliegenden Gebäuden auf die Demonstranten feuerten. Der „blutige 1. Mai“ war eines der Ereignisse, die zum Militärputsch drei Jahre später führten. Seither war es verboten, am Taksim-Platz zu demonstrieren. Doch an diesem 1. Mai wurde dort erstmals seit 30 Jahren wieder protestiert. Der linke Gewerkschaftsbund DISK hatte zur Kundgebung aufgerufen, der Istanbuler Gouverneur Muammer Güler hatte es verboten, und die Polizei hatte alle Einsatzkräfte mobilisiert. Nicht einmal die Uniformen schienen für alle zu reichen: Hunderte von „Hilfspolizisten“ wurden zusätzlich eingesetzt, teilweise junge Frauen und alte Männer in Jeans und Pullover.
Es ging aber wohl weniger um die Demonstranten als um jene Männer in grünen Uniformen und glänzenden Stahlhelmen, die die Lage am Taksim-Platz etwas abseits stehend, vom frühen Morgen im Blick behielten. Die Armee hat seit dem letzten Staatsstreich 1997 das Recht, ohne Erlaubnis des Gouverneurs am Taksim-Platz für Ordnung zu sorgen, wenn sie es für nötig hält. So kursierten bereits Gerüchte, die ganze Demonstration sei nur eine Provokation, ein Vorwand, um das Militär auf den Plan zu rufen und die Regierung zu stürzen. Denn die linke Gewerkschaft ist kein Freund der islamisch geprägten AKP-Regierung. Die Aufgabe der Polizei, die in Istanbul von AKP-Anhängern kommandiert wird, war es, der Armee keinen Vorwand zum Eingreifen zu liefern. Daher das massive Aufgebot.
Auf den Dächern standen Scharfschützen
Es wurde ein langer Tag. Schon beim Anmarsch am Morgen gab es 580 Festnahmen, nach Verhandlungen mit der Polizei wurden schließlich einige Hundert Gewerkschaftler auf den Platz gelassen, um „Kränze niederzulegen“. Sie waren umgeben von Tausenden Polizisten, auf den Dächern standen Scharfschützen des Militärs; das ganze endete mit einem stundenlangen Katz- und Mausspiel zwischen Polizei und Demonstranten, Tränengas und Schlagstöcke kamen zum Einsatz, mindestens 100 Demonstranten wurden festgenommen. Sie sammelten sich aber immer wieder in kleinen Gruppen, warfen Steine und waren offensichtlich gekommen, um Randale zu machen. Die Ausschreitungen hielten am Nachmittag noch an. Es wurde viel geweint, auch bei den Polizisten, deren Gasmasken anscheinend zu wünschen übrig ließen. Krankenwagen transportierten Verletzte ab.
Es war zunächst nicht klar, ob die Gewalt in der angespannten Situation dieser Tage politische Folgen haben würde. Am Freitagabend hatte das Militär eine Erklärung veröffentlicht, wonach sie eingreifen werde, wenn bei der zurzeit laufenden Präsidentschaftswahl im Parlament kein Kandidat gewählt wird, der das Gefallen der Generäle findet. Der einzige Kandidat ist Außenminister Gül, AKP, und der frühere Islamist findet nicht das Gefallen der Militärs. Noch bis Dienstagabend will das Verfassungsgericht entscheiden, ob und wie er gewählt werden darf. Ein Gutachter des Gerichts empfahl, die Klage gegen Gül abzuweisen. Die Richter, mehrheitlich dem Vernehmen nach eher kemalistisch gesinnt, müssen sich aber nicht daran halten.
Erdogan bezeichnet seine islamisch geprägte Partei als „Erben Atatürks“
Ministerpräsident Erdogan hielt am Montagabend eine „Rede an die Nation“, in der er nicht direkt auf die angespannte Lage und das Gerede von einem Militär-Coup einging. Er bezeichnete sich und seine islamisch geprägte Partei als "Erben Atatürks", was viele Kemalisten zu Hohngelächter bewegt haben dürfte. Erdogan zählte zudem die wirtschaftlichen Erfolge seiner Regierung auf, und schloss etwas bemüht mit der Bitte, man möge doch "mehr Liebe füreinander" aufbringen.
Ob das Militär ihn liebt, daran darf man zweifeln, doch es gab ein Telefongespräch zwischen ihm und Generalstabschef Büyükanit. Danach sagte ein Regierungssprecher, Erdogan sei "glücklich" und es sei ein "fruchtbares" Gespräch gewesen. Seither ist allenthalben aus den Reihen der AKP von jenen Neuwahlen die Rede, die das gegnerische Lager seit langem fordert, und die wahrscheinlich das Ende der absoluten AKP-Mehrheit im Parlament bedeuten würden, sowie das Ende ihrer Präsidentschaftsträume. Ein Gerichtsurteil gegen Güls Wahl würde Neuwahlen bis Anfang Juli erzwingen. Aus der AKP ist nun von Terminen Ende Juni oder Anfang Juli zu hören – am Montag war noch von August die Rede, am Sonntag von September, offenbar rennt man im Hintergrund immer wieder gegen Wände.
Der Parlamentspräsident nannte die Demonstration gegen seine Partei „wunderbar“
Jedenfalls ist wenig von der Forschheit geblieben, mit der Justizminister Cicek am Samstag auf die Erklärung des Militärs reagiert hatte. Da war noch von Verfassungsbruch der Generäle die Rede gewesen und von staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen. Am Sonntag folgte eine Massendemo mit mehr als einer Million Teilnehmern gegen die AKP (aber auch gegen einen Militärputsch) in Istanbul. Nun kommen kleinlautere Töne aus den Führungsetagen der Partei. Parlamentspräsident Bülent Arinc nannte die Demonstration gegen seine Partei "wunderbar".
Als der Chefredakteur der Zeitung Radikal, Ismet Berkan, nach Ciceks harten Worten, in einem TV-Interview seine Schlagzeile für den nächsten Morgen verriet, kam panikartig ein Anruf aus der AKP-Zentrale. Die Schlagzeile lautete nämlich "Regierung ist härter als das Militär". Ganz so hart sei man nun doch nicht, beschwichtigte ein Parteisprecher den Journalisten, und bat, die Zeile abzuschwächen. Geschwächt ist vor allem die AKP, fast von Stunde zu Stunde. Man darf gespannt sein, ob sie sich bei Neuwahlen behaupten kann.
Vor 30 Jahren kamen bei einer Mai-Kundgebung am Istanbuler Taksim-Platz 34 Menschen ums Leben, als Unbekannte aus umliegenden Gebäuden auf die Demonstranten feuerten. Der „blutige 1. Mai“ war eines der Ereignisse, die zum Militärputsch drei Jahre später führten. Seither war es verboten, am Taksim-Platz zu demonstrieren. Doch an diesem 1. Mai wurde dort erstmals seit 30 Jahren wieder protestiert. Der linke Gewerkschaftsbund DISK hatte zur Kundgebung aufgerufen, der Istanbuler Gouverneur Muammer Güler hatte es verboten, und die Polizei hatte alle Einsatzkräfte mobilisiert. Nicht einmal die Uniformen schienen für alle zu reichen: Hunderte von „Hilfspolizisten“ wurden zusätzlich eingesetzt, teilweise junge Frauen und alte Männer in Jeans und Pullover.
Es ging aber wohl weniger um die Demonstranten als um jene Männer in grünen Uniformen und glänzenden Stahlhelmen, die die Lage am Taksim-Platz etwas abseits stehend, vom frühen Morgen im Blick behielten. Die Armee hat seit dem letzten Staatsstreich 1997 das Recht, ohne Erlaubnis des Gouverneurs am Taksim-Platz für Ordnung zu sorgen, wenn sie es für nötig hält. So kursierten bereits Gerüchte, die ganze Demonstration sei nur eine Provokation, ein Vorwand, um das Militär auf den Plan zu rufen und die Regierung zu stürzen. Denn die linke Gewerkschaft ist kein Freund der islamisch geprägten AKP-Regierung. Die Aufgabe der Polizei, die in Istanbul von AKP-Anhängern kommandiert wird, war es, der Armee keinen Vorwand zum Eingreifen zu liefern. Daher das massive Aufgebot.
Auf den Dächern standen Scharfschützen
Es wurde ein langer Tag. Schon beim Anmarsch am Morgen gab es 580 Festnahmen, nach Verhandlungen mit der Polizei wurden schließlich einige Hundert Gewerkschaftler auf den Platz gelassen, um „Kränze niederzulegen“. Sie waren umgeben von Tausenden Polizisten, auf den Dächern standen Scharfschützen des Militärs; das ganze endete mit einem stundenlangen Katz- und Mausspiel zwischen Polizei und Demonstranten, Tränengas und Schlagstöcke kamen zum Einsatz, mindestens 100 Demonstranten wurden festgenommen. Sie sammelten sich aber immer wieder in kleinen Gruppen, warfen Steine und waren offensichtlich gekommen, um Randale zu machen. Die Ausschreitungen hielten am Nachmittag noch an. Es wurde viel geweint, auch bei den Polizisten, deren Gasmasken anscheinend zu wünschen übrig ließen. Krankenwagen transportierten Verletzte ab.
Es war zunächst nicht klar, ob die Gewalt in der angespannten Situation dieser Tage politische Folgen haben würde. Am Freitagabend hatte das Militär eine Erklärung veröffentlicht, wonach sie eingreifen werde, wenn bei der zurzeit laufenden Präsidentschaftswahl im Parlament kein Kandidat gewählt wird, der das Gefallen der Generäle findet. Der einzige Kandidat ist Außenminister Gül, AKP, und der frühere Islamist findet nicht das Gefallen der Militärs. Noch bis Dienstagabend will das Verfassungsgericht entscheiden, ob und wie er gewählt werden darf. Ein Gutachter des Gerichts empfahl, die Klage gegen Gül abzuweisen. Die Richter, mehrheitlich dem Vernehmen nach eher kemalistisch gesinnt, müssen sich aber nicht daran halten.
Erdogan bezeichnet seine islamisch geprägte Partei als „Erben Atatürks“
Ministerpräsident Erdogan hielt am Montagabend eine „Rede an die Nation“, in der er nicht direkt auf die angespannte Lage und das Gerede von einem Militär-Coup einging. Er bezeichnete sich und seine islamisch geprägte Partei als "Erben Atatürks", was viele Kemalisten zu Hohngelächter bewegt haben dürfte. Erdogan zählte zudem die wirtschaftlichen Erfolge seiner Regierung auf, und schloss etwas bemüht mit der Bitte, man möge doch "mehr Liebe füreinander" aufbringen.
Ob das Militär ihn liebt, daran darf man zweifeln, doch es gab ein Telefongespräch zwischen ihm und Generalstabschef Büyükanit. Danach sagte ein Regierungssprecher, Erdogan sei "glücklich" und es sei ein "fruchtbares" Gespräch gewesen. Seither ist allenthalben aus den Reihen der AKP von jenen Neuwahlen die Rede, die das gegnerische Lager seit langem fordert, und die wahrscheinlich das Ende der absoluten AKP-Mehrheit im Parlament bedeuten würden, sowie das Ende ihrer Präsidentschaftsträume. Ein Gerichtsurteil gegen Güls Wahl würde Neuwahlen bis Anfang Juli erzwingen. Aus der AKP ist nun von Terminen Ende Juni oder Anfang Juli zu hören – am Montag war noch von August die Rede, am Sonntag von September, offenbar rennt man im Hintergrund immer wieder gegen Wände.
Der Parlamentspräsident nannte die Demonstration gegen seine Partei „wunderbar“
Jedenfalls ist wenig von der Forschheit geblieben, mit der Justizminister Cicek am Samstag auf die Erklärung des Militärs reagiert hatte. Da war noch von Verfassungsbruch der Generäle die Rede gewesen und von staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen. Am Sonntag folgte eine Massendemo mit mehr als einer Million Teilnehmern gegen die AKP (aber auch gegen einen Militärputsch) in Istanbul. Nun kommen kleinlautere Töne aus den Führungsetagen der Partei. Parlamentspräsident Bülent Arinc nannte die Demonstration gegen seine Partei "wunderbar".
Als der Chefredakteur der Zeitung Radikal, Ismet Berkan, nach Ciceks harten Worten, in einem TV-Interview seine Schlagzeile für den nächsten Morgen verriet, kam panikartig ein Anruf aus der AKP-Zentrale. Die Schlagzeile lautete nämlich "Regierung ist härter als das Militär". Ganz so hart sei man nun doch nicht, beschwichtigte ein Parteisprecher den Journalisten, und bat, die Zeile abzuschwächen. Geschwächt ist vor allem die AKP, fast von Stunde zu Stunde. Man darf gespannt sein, ob sie sich bei Neuwahlen behaupten kann.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen