Dienstag, 22. Mai 2007

Irak: Leben und Sterben in Bagdad

Wie sieht der Alltag in der Hauptstadt aus? Was geht den Menschen durch den Kopf, wenn wieder eine Bombe explodiert und Unschuldige zerfetzt? Der SPIEGEL hat vier Iraker begleitet und beschreibt an ihrem Beispiel einen Tag in der gefährlichsten Stadt der Welt.

Um 6.04 Uhr geht die Sonne auf über Bagdad, sie brennt vom wolkenlosen Himmel, es gibt keine Morgenröte. Bagdad, der staubige Moloch, liegt auf einer ebenen Fläche - die bräunlichen Straßen, der grünliche Fluss. Da und dort wachsen Rauchsäulen in den Himmel.

Es ist Sonntag, der 13. Mai, 1496 Tage nach dem Einmarsch der amerikanischen Armee. Für fünf Millionen Menschen beginnt ein weiterer Tag in der Stadt, die einmal die modernste der arabischen Welt war. Jetzt ist sie ein Alptraum, die schrecklichste Stadt der Welt.

An diesem 13. Mai 2007 sterben laut den Meldungen der Agenturen mindestens 35 Menschen in Bagdad, Dutzende werden verletzt. Aber niemand wird je ganz genau wissen, wie viele Menschen seit März 2003, als der Krieg begann, wirklich gestorben sind, in einer Stadt, in der ein Leben lange schon nichts mehr wert ist; wie viele ermordet, entführt und vergewaltigt wurden.

Heute erfährt die Welt aus Bagdad nur noch nackte Zahlen und sieht nur noch Schreckensbilder. Amerikaner und Briten suchen nach einem Ausweg aus dem Irak, mittlerweile finden internationale Konferenzen statt, auf denen arabische Autokraten mit dem Westen und Iran diplomatische Lösungen wälzen. Aber wie leben die Menschen in Bagdad? Was hält sie in dieser Stadt?

Ein Redakteur und zwei irakische Mitarbeiter des SPIEGEL waren am 13. Mai in Bagdad unterwegs. Sie begleiteten einen Leichensammler, einen Arzt, einen Abgeordneten und einen Souvenirverkäufer durch ihren Alltag. Sie erzählen, was diese Menschen denken, fühlen und erleben - und wie sie überleben.

  • 6.00 UHR, ISKAN

Die Sonne hat Imad*, den Leichensammler, geweckt. Er rollt seinen Teppich aus und betet, danach liest er im Koran. Es ist wichtig, dass Gott seine Hand über ihn hält. Seine Arbeit kann ihn jeden Tag das Leben kosten.

Imad war Taxifahrer, heute fährt er die Toten. Er findet sie und birgt sie, wenn die Familien vergebens nach ihnen suchen. Es ist ein gutes Geschäft.

Er ist 39, ein dünner, nervöser Mann mit schwarzem Bart und groben Händen. Er wohnt in Iskan, einem ärmlichen, übervölkerten Stadtteil in der Nähe der Stadtmitte. Seit die Mahdi-Miliz von Muktada al-Sadr die Kontrolle übernommen hat, wohnen hier nur noch Schiiten. Imads Haus ist winzig, vier Zimmer auf zwei Stockwerken, in einem der oberen Zimmer schläft er selbst, im anderen seine Mutter und die beiden Schwestern. Imad ist ledig, und er findet, dass er gerade zu viel zu tun hat, um sich eine Frau zu suchen.
  • 7.00 UHR, GRÜNE ZONE
Zwei riesige gekreuzte Schwerter aus Stahl stehen am Eingang zu dem Feld, auf dem Saddam Hussein früher seine Soldaten aufmarschieren und Raketen vorführen ließ. Direkt neben diesem martialischen Torbogen steht ein rotes Zelt.

Es ist das Zelt von Salman Mohammed, dem Souvenirhändler.

Mohammed, 40, ein schlanker Mann mit kantigem Kinn und ergrauenden Haaren, ist gerade aufgestanden. Bei ihm kaufen tagsüber die Leute aus der US-Botschaft, Soldaten auf Urlaub in der Grünen Zone, ausländische Bauarbeiter und Sicherheitsleute ein. Präsente aus Bagdad: kleine Saddam-Büsten, Briefmarken und Geldscheine mit Saddam-Bildern drauf, Gebetsteppiche, auf denen statt arabischer Inschriften die irakische und die amerikanische Fahne abgebildet sind.

Ganz hinten im Zelt wälzt sich sein 15jähriger Sohn Ahmed von einer Seite auf die andere. Auch die Grüne Zone hatte in dieser Nacht keinen Strom aus dem öffentlichen Netz, die beiden Ventilatoren im Zelt stehen still. An Schlaf war nicht zu denken, aber das ist Ahmeds geringste Sorge. Was ihn und Millionen andere in Bagdad plagt, die wegen der Hitze im Freien schlafen, sind die Mücken. "Wir haben zwei Arten von Helikoptern hier", sagt der Junge, "die amerikanischen sind groß und laut, sie kommen und gehen wieder. Die irakischen sind klein und hinterhältig. Man wird sie nie los." Alle paar Minuten sprüht er sich mit dem Inhalt einer giftgelben Plastikflasche ein. Die Flasche ist nur auf Englisch beschriftet: Es ist ein Insektizid gegen Küchenschaben.

  • 7.30 UHR, MEDICAL CITY

Ein Reisewecker reißt Dr. Rafid* aus seinem Schlaf, er hasst den Piepton, der ihm jeden Morgen durch Mark und Bein geht. Wie erschlagen liegt er in seinem Bett im achten Stock des Ärztehauses, oberste Etage, in dem kahlen und fensterlosen Raum, den er sich mit drei anderen Ärzten teilt.

Dr. Rafid muss zur Morgenschicht. Er ist 29, ein kleiner, dünner Mann mit Schnurrbart, er trägt ein weißes T-Shirt, eine helle Leinenhose und etwas Gel im Haar.

Der Aufzug ist kaputt, es gibt keinen Strom, Dr. Rafid und seine Kollegen müssen wie immer die Treppe nehmen. Als sie durch den langen Korridor und die kleinen Gärten zum Krankenhaus gehen, unterhalten sie sich über den Fall eines Patienten, der nach einer Nierenoperation starb.

Dr. Rafid wohnt erst seit kurzem im Ärztehaus, das Haus seiner Familie steht in Jarmuk, einem Stadtteil westlich der Grünen Zone. Die Sunniten kontrollieren jetzt die Gegend, Dr. Rafid ist Schiit. Als er vor ein paar Wochen mit seinem kleinen Bruder in Jarmuk unterwegs war, stoppte ihn eine sunnitische Miliz. Sie sagten ihm, er könne wählen, ob sie zuerst ihn erschießen sollten oder seinen Bruder. Der Doktor sagte, sie sollten ihn zuerst töten. Da tauchte wie aus dem Nichts eine Patrouille der irakischen Arme auf, die Milizionäre mussten fliehen.

Seit diesem Erlebnis ist Dr. Rafid, der immer schon ein nachdenklicher Mensch war, noch stiller geworden. Er möchte den Irak verlassen, aber er hat kein Geld dafür, man braucht Zehntausende Dollar.

+++ 8.30 Uhr. Zwei Iraker sind 50 Kilometer nördlich von Bagdad regelrecht hingerichtet worden. Bewaffnete Männer fuhren sie in die Stadt, holten sie von der Ladefläche des Autos herunter und erschossen sie. "Das ist das Schicksal von Verrätern", riefen sie. Eine Warnung an alle Iraker, nicht mit den US-Streitkräften zu kooperieren. +++

  • 9.00 UHR, GRÜNE ZONE

Mithal al-Alussi, einer der einflussreichsten und populärsten Politiker im Nachkriegs-Irak, sitzt auf einem Sofa in seiner Villa in der Grünen Zone. Er ist 52, er hat einen vollen Schnurrbart und die grauen Haare zu einem Seitenscheitel gekämmt. Es ist der Look, den Politiker in diesem Land immer schon gern mochten.

Alussi trinkt starken Kaffee zum Frühstück, dazu raucht er. Er denkt an die Meldung, die er vergangene Nacht im Internet gesehen hat. Der Sohn des Vizepräsidenten ist ermordet worden. Wie seine eigenen Söhne, Dschamal und Aiman. Sie waren 22 und 30 Jahre alt, als sie vor zwei Jahren bei einem Anschlag starben.

Er wird rund um die Uhr bewacht. Seine Villa in der Grünen Zone von Bagdad hat einen kleinen Vorgarten und ist von einer meterhohen Mauer mit Sichtschutz umgeben, vor seiner Toreinfahrt steht ein Wächterhäuschen. Er ist ein liberaler Abgeordneter, ein säkularer Sunnit, und war immer wieder als neuer Verteidigungs- und Innenminister im Gespräch.

Heute ist im Parlament eine Sitzung des außenpolitischen Ausschusses, Alussi soll über seine Reise nach Washington berichten.

Doch heute Morgen hat er auf verschlungenen Wegen eine Nachricht bekommen, die ihn deutlich mehr beschäftigt als die Außenpolitik.

Seit zwei Jahren ist er den Mördern seiner Söhne auf der Spur. Mehrere Männer sind festgenommen worden, einer wurde verurteilt und hingerichtet, aber die Hintermänner blieben immer ein Rätsel.

Alussi weiß jetzt, dass einer der Männer im Verhör ausgepackt hat. Ein Mann, der heute Minister ist, soll den Befehl zum Anschlag gegeben haben. Er will den Namen nicht nennen, er will warten, bis ein Richter einen Haftbefehl erlässt. Er ist aufgewühlt, endlich, scheint es, kriegt er den Kerl zu fassen.

Alussis Villa hat immer Strom, die Klimaanlage und der Kühlschrank laufen. Er hat vier Handys, je eines für die drei irakischen Netze, die abwechselnd ausfallen, und eines für die amerikanische Telefongesellschaft MCI. An diesem Morgen funktionieren alle Netzwerke, die vier Handys klingeln ohne Unterlass.

Endlich findet er Zeit, den Vizepräsidenten anzurufen und ihm zu kondolieren. Aber die Nachricht war eine Falschmeldung. Der Sohn des Vizepräsidenten lebt.

  • 9.30 UHR, ISKAN

Imad, der Leichensammler, schickt seine Schwestern auf ihr Zimmer, als der alte Mann und die beiden Frauen zu ihm kommen, ihn um seine Dienste zu bitten. Es geziemt sich nicht für Frauen, sich männlichen Gästen zu zeigen. Imad will Gott nicht erzürnen.

Die Gesichter der Trauerfamilie sind voller Gram. Der alte Mann trägt einen blauen Anzug, er erzählt die Geschichte vom Tod seines Sohnes.

Sunnitische Gangster haben ihn vor ein paar Tagen entführt, sie verlangten 10.000 Dollar. Der alte Mann hatte das Geld nicht. Er bat um einen Monat Zeit, es aufzutreiben.

Ein paar Tage später riefen die Entführer an, sein Sohn sei tot. Die Leiche gaben sie ihm nicht zurück.

Die Frauen weinen leise. Der Mann sagt: "Imad, es ist nicht das erste Mal, dass wir dich bitten, eine Leiche für uns zu holen, letztes Jahr wolltest du 200 Dollar, wie viel willst du diesmal?"

Imad bittet die Familie, morgen wiederzukommen und ein Bild des Sohnes mitzubringen. Er sagt, er müsse wissen, was der Mann zuletzt trug und wo er zuletzt gesehen wurde.

Wenn er alle Informationen hat, aktiviert Imad sein Netzwerk, er nennt es "das Netzwerk der Leichenhändler", denn die Leichen stünden ja im Mittelpunkt seines Handelns. Er arbeitet mit Sunniten und Schiiten zusammen, die ihm helfen können, wenn die Leiche in einer Gegend liegt, in die er sich nicht vorwagen will.

Sie schwärmen aus und suchen den richtigen unter den vielen Toten, die jeden Tag auf offener Straße verwesen. Sie prüfen, ob die Gegend sicher ist, sie gehen die Straße hoch und runter, um zu sehen, ob sie beobachtet werden, ob Milizionäre in der Gegend sind.

Imads Arbeit ist wie russisches Roulette. Viele Leichen sind mit Bomben gekoppelt und gehen in die Luft, wenn man sie berührt. "Wenn eine Leiche auf dem Gesicht liegt, bin ich misstrauisch", sagt er.

Vor dem Haus fallen plötzlich Schüsse. Imads Mutter fürchtet sich. Er tröstet sie. "Das ist nur eine amerikanische Patrouille", sagt Imad, "die fahren vorüber, ein paar Leute schießen auf sie. Das ist gleich wieder vorbei."

+++ 10.30 Uhr. Eine im Irak agierende Qaida-Gruppe stellt ein Video ins Internet, das die Exekution von drei irakischen Soldaten zeigt. Die Gruppe hatte die Freilassung von Gefangenen gefordert, die Regierung ging nicht darauf ein. Das Video zeigt, wie ein Mann mit schwarzer Maske die gefesselten Männer auf einer Landstraße erschießt. +++

  • 10.30 UHR, GRÜNE ZONE

Mithal al-Alussi, der Parlamentsabgeordnete, verlässt seine Villa. Eigentlich wollte er noch in seine Parteizentrale im Stadtteil Masbah fahren, bevor die Parlamentssitzung beginnt, sie liegt nur fünf Kilometer Luftlinie von seiner Villa; das wird aber nichts, die Nachrichten aus der Roten Zone sind schlecht: Gefechte in der Nähe des Hauptquartiers des Schiitenführers Abd al-Asis al-Hakim, sagen seine Sicherheitsleute am Telefon. "Iranische Aktivitäten", sagt Alussi.

Die Einwohner von Bagdad wissen, dass in ihrer Stadt Verkehrsstaus und Politik meistens irgendwie zusammenhängen.

Er fährt wie immer selbst in seinem gepanzerten BMW zum Parlament hinüber, es sind nur ein paar hundert Meter. Die Kontrollen am Eingang zum ehemaligen Konferenzzentrum sind strenger geworden, seit vor einem Monat eine Bombe in der Parlaments-Cafeteria hochging. Alussi hatte sie gerade verlassen, als der Sprengsatz detonierte.

Die Sitzung des Auswärtigen Ausschusses dauert nur kurz an diesem Tag. Alussi wirbt wieder einmal für seine Lieblingsidee, im Grunde will er die alte antiiranische Allianz wiederherstellen, die Washington in den achtziger Jahren mit Saddams Irak unterhielt. Widerspruch, sagt er danach, habe es nicht gegeben, es sei nur um Ideenaustausch gegangen. Vielleicht gab es auch keinen Grund zu widersprechen, denn es gibt fast niemanden, der seine Ansichten über die Vereinigten Staaten teilt.

Alussi ist ein Getriebener, der Sturz Saddams war sein Lebensinhalt. Er hat über 20 Jahre in Deutschland gelebt. Ein halbes Jahr vor dem Krieg stürmte er mit Gesinnungsgenossen die irakische Botschaft in Berlin, ein Gericht verurteilte ihn zu dreieinhalb Jahren - bevor das Urteil rechtsgültig wurde, setzte er sich in den Irak ab.

  • 12.30 UHR, MANSUR

Imad, der Leichensammler, ist mit dem Taxi nach Mansur gefahren, in einen Stadtteil, der etwa vier Kilometer südlich von seinem Haus liegt. Der Ruwad-Platz ist einer der wenigen Orte, an denen sich die Menschen einigermaßen sicher fühlen können. Die Geschäfte sind offen und voller Leute, Gruppen von jungen Frauen ziehen durch die Läden und shoppen mit dem wenigen Geld, das sie haben.

Plötzlich rennen drei Polizisten durch die Menge, sie schießen in die Luft und schreien. Drei Polizeiwagen und zwei Fahrzeuge der irakischen Armee blockieren die Straße, es beginnt ein Feuergefecht, das mehr als zehn Minuten dauert. Jemand sagt: "Sie verfolgen einen Schützen."

Ein Mann erklärt Imad, worum es geht: "Heute Morgen haben vier junge Männer einen Zwölfjährigen erschossen, der mit anderen Kindern die Straßen säuberte." Jetzt suchten die Sicherheitskräfte den Schützen. Da rennt ein junger Mann Mitte zwanzig über den Platz, eine Kugel trifft sein Bein, er bricht zusammen. Die Polizisten greifen ihn und schleppen ihn weg. "Gott hat dich verdammt!", ruft Imad dem jungen Mann nach.

Imad beschließt, schnell nach Hause zu gehen, denn wenn Kämpfer verhaftet werden, tauchen nachher meistens deren Kompagnons auf, um sich am nächstgelegenen Checkpoint an der Polizei zu rächen. Er kennt das. Er winkt ein Taxi heran.

  • 13.00 UHR, GRÜNE ZONE

Salman Mohammed, der Souvenirhändler, kommt gerade von drüben, von der anderen Seite des Tigris, aus der Roten Zone. Er hat Nachschub auf dem Markt besorgt. Das ist gefährlich, weil Selbstmordattentäter sich oft in Menschenmengen in die Luft sprengen.

Jetzt steht er wieder in seinem roten Zelt in der Grünen Zone. Er hat einen Kia über den Tigris genommen; so nennen sie hier den Minibus, das sicherste Gefährt in der Stadt - es ist zu groß und es sind zu viele Menschen drin, als dass man sie einfach erschießen und das Auto stehlen könnte; und es ist zu klein, um sich als Ziel für einen Selbstmordattentäter zu lohnen. Am Checkpoint musste er seine beiden Taschen mit den Gebetsteppichen filzen lassen; 15.000 Dinar (etwa zehn Euro) Bakschisch hat er an die Sicherheit bezahlt, damit sie ihn mit den Teppichen durchließen.

Amerikanische Arbeiter von der nahen Baustelle der neuen US-Botschaft kommen vorbei; es sind harte Kerle mit tätowiertem Körper und texanischem Bart, die ein Heidengeld verdienen für ihre Dienste. Salman Mohammed hat in drei Jahren Grüne Zone kein Wort Englisch gelernt, die Bauarbeiter kein Wort Arabisch. Sie zeigen ihm, was sie wollen, Mohammed packt es in eine Plastiktüte und kassiert.

Die Männer bauen hier, gleich neben Salmans Zelt, die größte amerikanische Botschaft der Welt. Die Diplomaten, die jetzt noch in Saddams altem Präsidentenpalast und in Dutzenden Containern hausen, sollen im Oktober den Neubau ein paar hundert Meter weiter unten am Tigris beziehen.

Es ist heiß, 35 Grad im Schatten.

  • 14.15 UHR, GRÜNE ZONE

Mithal al-Alussi, der Abgeordnete der irakischen Nationalpartei, sitzt im "Grill Room" vom Hotel Raschid, einem 18stöckigen Bau in der Grünen Zone. Viele Parlamentarier wohnen hier, weil es draußen zu gefährlich für sie wäre - aber auch das Raschid beschießen die Milizen gelegentlich aus der Ferne.

Alussi redet über die Dinge, die im Moment die irakische Politik beschäftigen: das Ölgesetz, das für eine gerechte Verteilung des Reichtums sorgen soll und auf das sich die Parteien nicht einigen können; und die Frage, ob die ehemaligen Mitglieder von Saddams Baath-Partei vom Öffentlichen Dienst ausgeschlossen bleiben sollen, was die Schiiten fordern und die Sunniten ablehnen - und schließlich die Frage nach den Parlamentsferien, die ...

In diesem Moment geht das Licht aus, dann kracht es ohrenbetäubend in der Ferne, und der ganze Saal vibriert. Die Gespräche sind verstummt.

+++ 14.45 Uhr. Eine Autobombe explodiert auf dem belebten Wathba-Platz im Zentrum von Bagdad. 17 Menschen sterben, 46 werden verwundet. Fernsehbilder zeigen einen Krater im Boden, gefüllt mit Trümmern, Holzsplittern, Metall und einem Reifen. Irakische und US-Soldaten sichern die Gegend. Am 18. April waren in der Nähe 127 Menschen bei einem Anschlag ums Leben gekommen. +++

  • 15.05 UHR, MEDICAL CITY


Dr. Rafid, der junge Chirurg im Krankenhaus in der Medical City, wird in die Notaufnahme gerufen. Der Wathba-Platz, auf dem der Anschlag stattfand, ist nur zwei Kilometer vom Krankenhaus entfernt.

Sie bringen die Verletzten her, in Krankenwagen, mit Privatautos, in Streifenwagen. Es sind 21 Zivilisten, 3 Polizisten, 2 Verkehrspolizisten. Es war kein besonders großer Anschlag, und die Leute, die im Krankenhaus eintreffen, haben auch keine ganz schweren Verletzungen, sie standen nicht direkt neben der Explosion. Trotzdem bricht das Chaos aus. Die Leute bluten, schreien, manche denken, sie müssten sterben, und schreien noch lauter.

Es geschieht, was immer geschieht: Die Polizisten, die mit ihren verwundeten Kollegen mitfahren, zwingen die Ärzte, zuerst die Polizisten zu behandeln.

Dr. Rafid behandelt Bein- und Rückenverletzungen, er stoppt Blutungen, er kämpft mit den Verwandten, die ihn hin- und herstoßen, die ihn anbrüllen und anflehen, er möge doch helfen. Einige Kollegen müssen an Ort und Stelle Notoperationen durchführen, die OP-Räume sind besetzt.

Aber es läuft glimpflich ab, im Vergleich zu anderen Tagen, wo es an Neurochirurgen fehlt und Gliedmaßen abgesäbelt werden müssen. Dr. Rafid hat viele Dinge gesehen, die er nicht mehr vergessen kann. So gesehen ist heute gar kein so schlechter Tag.

Das Problem ist, dass es an allem fehlt in diesem Krankenhaus. Es gibt keine Defibrillatoren, es fehlen wichtige Medikamente, und natürlich fehlt es an Blut, bei den vielen Litern, die täglich vergossen werden.

Die Ärzte sind schlecht bezahlt, wer kann, flieht ins Ausland. Von Dr. Rafids Freunden sind die meisten schon weg, in Syrien, Jordanien und den Vereinigten Arabischen Emiraten, aber es ist schwieriger dort, als sie es sich vorgestellt haben. Die meisten haben keinen Job.

+++ Der iranische Außenminister gibt bekannt, Vertreter Irans und der USA wollten sich in Bagdad zu Gesprächen treffen, um die Sicherheit im Irak zu erhöhen. "Wir hoffen, dass der Schmerz des irakischen Volkes so gelindert werden kann", sagt der Minister. +++

  • 15.15 UHR, GRÜNE ZONE

Mithal al-Alussi verlässt das Parlamentsgebäude durch den Hintereingang. Drei Frauen in langen schwarzen Abajas stehen in der Hitze, sie wollen reden. Ihre Familien sind von sunnitischen Banden aus Husseinija im Nordosten von Bagdad vertrieben worden. Eine von ihnen hält ein Baby im Arm. Als Alussi durch das Tor kommt, stellt sie sich ihm in den Weg und fängt laut an zu weinen. Ihr Sohn sei krank, die Ärzte wüssten nicht, was ihm fehle. Er bleibt stehen, er fragt nach Details, er beginnt zu schwitzen. Andere Iraker, Frauen und Männer, drängen auch auf Alussi zu. Einer der Männer hat ein Papier, das er ihm zeigen will; er versucht, die Frau wegzuschieben.

Alussi schwitzt schwer, drückt der Frau mit dem Baby zwei Visitenkarten und einen 100-Dollar-Schein in die Hand. Sie kann aber nicht lesen und versteht nicht, was sie mit der Visitenkarte soll. Er erklärt es ihr, schreibt noch eine seiner vier Handynummern drauf, und dann küsst er sie - genau so, wie irakische Scheichs, auch Saddam, die Frauen aus dem Volk geküsst haben: auf ihren Kopf, den er sich dazu an die Brust drückt.

Er fährt nach Hause. Von dort aus wird er sich um den Mann kümmern, der seine Söhne auf dem Gewissen hat. Er hat sein Tagwerk vollbracht.

  • 15.30 UHR, ISKAN

Imad, der Leichenfahrer, liest zu Hause im Koran. Er ist ein gottesfürchtiger Mensch. Ja, er macht seinen Beruf des Geldes wegen, aber es beruhigt ihn, dass seine Arbeit auch eine religiöse Bedeutung hat - er bringt den Familien ihre Toten wieder, damit sie sie ordnungsgemäß bestatten können.

Er verlangt zwischen 200 und 2000 Dollar für eine Leiche, es kommt auf den Schwierigkeitsgrad an. Wenn die Leute zu ihm kommen, zeigt er ihnen Fotos von Leichen, die er geborgen hat, er sagt, sie seien der einzige Beweis, dass er seine Arbeit gut macht.

Es gibt wieder keinen Strom im Viertel. Imad muss den benzinbetriebenen Generator einschalten, damit er fernsehen kann.

Er wird heute zu Hause bleiben. Es ist zu gefährlich, nach 17 Uhr auf die Straße zu gehen. Er wird hier sitzen, mit seiner Mutter fernsehen, vielleicht werden die Nachbarn zu Besuch kommen, und sie werden Tee trinken. Er wird früh zu Bett gehen.

Morgen wird er sich auf die Suche nach der Leiche machen.

+++ 4000 US-Soldaten suchen nach drei Kameraden, die gestern südlich von Bagdad bei einem Angriff auf eine Patrouille entführt wurden. Vier Soldaten und ein irakischer Übersetzer waren bei dem Angriff ums Leben gekommen. +++

  • 19.00 UHR, MEDICAL CITY

Der Tag in Bagdad ist vorbei, das Leben auf den Straßen ist erstorben. Wer sich jetzt vor die Tür wagt, ist lebensmüde. Die Hitze weicht nicht, draußen sind immer noch 35 Grad.

Dr. Rafid sitzt wieder in seinem Zimmer, im achten Stock des Ärztehauses, er hat gerade sein Mädchen getroffen, im Internet-Raum des Krankenhauses, die junge Frau ist so schön, sie ist auch Ärztin, aber sie können sich nur selten sehen, und wenn, dann nur an öffentlichen Orten. Zweieinhalb Stunden haben sie im Computerraum gesessen, jetzt ist er melancholisch.

Dr. Rafid würde gern um ihre Hand anhalten, aber der Krieg macht es den jungen Paaren nicht leichter. Er braucht die Erlaubnis ihres Vaters, und dafür müsste er zu ihren Eltern reisen, die außerhalb wohnen, das ist gefährlich. Schlimmer ist, dass er kein Geld hat und kein Haus, denn ein Mann, der kein Geld hat und kein Haus oder zumindest die Möglichkeit, eine Frau außer Landes zu bringen, der hat kaum eine Chance, dass ihre Familie dem Antrag zustimmt.

Er versteht diesen Krieg nicht, er macht sich wenig aus Religion, er liebt den Irak, er liebt Bagdad. Er erinnert sich an diesen jordanischen Studenten, der den Tigris immer zu Fuß überquerte, weil er ihn so schön fand, und der immer ein Notizbuch bei sich trug, um seine Erlebnisse mit diesem Fluss aufzuschreiben. So schön war diese Stadt einmal.

Er betet: "Danke, Gott, für diesen Tag. Aber möge morgen ein besserer Tag sein als heute."

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