Donnerstag, 27. November 2008

Bundesregierung vs. Zwitter

Seit Jahrzehnten wehren sich Zwitter gegen menschenrechtswidrige genitale Zwangsoperationen, Zwangskastrationen und andere nicht-eingewilligte medizinische Zwangs-"Behandlungen". Sie fordern ein menschenwürdiges Leben, Bestrafung unverbesserlicher Zwangsoperateure und Wiedergutmachung. Wissenschaftliche Studien belegen das an ihnen begangene Unrecht.

Bundesregierung und Bundestag schauen derweil weg und schweigen ...

In den letzten zwölf Jahren wurde die Bundesregierung durch Kleine Anfragen bisher vier Mal aufgefordert, zur Situation der intersexuellen Menschen in Deutschland, der medizinischen Praxis und den rechtlichen Implikationen Stellung zu nehmen (Drucksachen 13/5916, 14/5627, 16/4322, 16/4786). Von betroffenen Menschen wurde mehrfach kritisiert, dass auf wiederholt gestellte wesentliche Fragen keine Antworten erfolgten und generell die Sicht der betroffenen Menschen nicht einbezogen, sondern einseitig auf den Parteistandpunkt der "an einer Fortführung der bisherigen Praxis interessiert[en]" Mediziner abgestellt wurde (SchattenberichtCEDAW 2008, 1.2).

Seit langem bemängeln Selbsthilfegruppen Vertuschung durch fehlende Statistiken und nicht-existentes Monitoring. Noch als die Bundesregierung zum dritten Mal in Folge nach Statistiken zum Vorkommen und zur Behandlung von intersexuellen Menschen gefragt wurde, lautete die Antwort: "Der Bundesregierung liegen keine bundesweit einheitlichen Erfassungen und Statistiken vor" (16/4786). Zwar wurde 2001 "voraussichtlich ab 2002" eine statistische Erfassung in Aussicht gestellt (14/5627), jedoch später nie mehr darauf Bezug genommen. Zu keinem Zeitpunkt wurden Konsequenzen gezogen aus diesem Nicht-Vorliegen genauer Daten und widersprüchlichen Teilangaben gemäß "Erkenntnisse[n] von Fachgesellschaften und Wissenschaft": zum Beispiel "etwa 150" Geburten jährlich "mit genitale[n] Fehlbildungen" gegenüber "7" Krankenhauseinweisungen "mit der Diagnose Hermaphroditismus [...] im Jahr 2004"; "etwa 1:4500" "genitale Fehlbildungen" gegenüber "etwa 8 000 bis 10 000" "schwerwiegenderen Abweichungen der Geschlechtsentwicklung" (16/4786). Geht es demgegenüber in wissenschaftlichen Publikationen um die Anzahl der zu Behandelnden, so heißt es bei 1:1000 sei keine "eindeutige Zuordnung" möglich, was gut 80 000 betroffenen Menschen entspricht (Finke/Höhne: "Intersexualität bei Kindern" 2008). Umsonotwendiger wären deshalb aus Sicht der betroffenen Menschen exakte Statistikenund kontinuierliches Monitoring.

Durchgängig stellte sich die Bundesregierung auf den Standpunkt, die anintersexuellen Kindern ohne ihre Einwilligung vorgenommenen chirurgischenEingriffe seien ausnahmslos "medizinisch indiziert" und dienten deshalbdem "Kindeswohl [...] (§ 1627 BGB)" (14/5627). Weiter unterstellt die Bundesregierung, "größer angelegte Nachuntersuchungen als auch die klinische Praxis" würden beweisen, "dass die Mehrzahl der betroffenen Patienten rückblickend (d. h. im Erwachsenenalter) die bei ihnen in der Kindheit vorgenommene operative Vereindeutigung ihres Genitalbefundes für richtig befinden", vermag dafür jedoch keine Belege anzuführen (16/4786).

Möglicherweise bezog sich die Bundesregierung auf die in diesem Zusammenhanggerne zitierte amerikanischeStudie von Meyer-Bahlburg aus dem Jahre 2004, die jedoch auch von Medizinern wiederholt z.T. heftig kritisiert wurde (http://www.thieme-connect.com/ejournals/html/uro/doi/10.1055/s-2005-870031).

Mittlerweile vorliegende Forschungsergebnisse des Netzwerks Intersexualität/DSD unterstreichen diese Kritik. So bestätigte etwa die "Hamburger Studie" die von betroffenen Menschen seit Jahrenimmer wieder betonten, von der Bundesregierung aber bisher ignoriertenMissstände in der Behandlung intersexueller Menschen:

"Die Behandlungsunzufriedenheit von Intersexuellen ist [...]eklatant hoch. [...] Ein Drittel [der Patienten] bewertetgeschlechtsangleichende Operationen als zufriedenstellend bzw. sehrzufriedenstellend, ein weiteres Drittel ist unzufrieden bzw. sehr unzufriedenund das letzte Drittel ist z.T. zufrieden, z.T. unzufrieden." (ChristianSchäfer: "Intersexualität: Menschen zwischen den Geschlechtern". http://www.springer.com/medicine/thema?SGWID=1-10092-2-513709-0)

Auch die aktuelle "Lübecker Studie" bestätigt erneut dienotorisch "Hohe Unzufriedenheit mit der medizinischen Behandlung" vonIntersexuellen. Eltern von Betroffenen schätzten zudem derenLebensqualität durchgehend besser ein als die Kinder selbst. (Vortrag vonDipl.-Psych. Eva Kleinemeier und Dipl.-Soz. Martina Jürgensen (Lübeck)anlässlich des 5. Bundesweiten Treffens "Netzwerk Intersexualität e.V." vom 6.9.2008 inKiel. Erste Resultate in schriftlicher Form werden demnächst auf der Netzwerk-Homepage veröffentlicht.)

Dasselbe bestätigt die Feststellung: "Auch aus der Literatur ist bekannt,dass sich ein überdurchschnittlich hoher Prozentsatz von Menschen mitDSD im Lauf der Pubertät oder im Erwachsenenalter entschließt, das ihnenzugewiesene soziale Geschlecht zu wechseln." (M. Jürgensen; O. Hiort; U. Thyen: "Kinder und Jugendliche mit Störungen der Geschlechtsentwicklung: Psychosexuelle und -soziale Entwicklung und Herausforderungen bei der Versorgung". (Monatsschrift Kinderheilkunde, Volume 156, Number 3, March 2008, S. 226-233, PDF)

Diese aktuellen Veröffentlichungen zur Situation Intersexueller in Deutschland unterstreichen also einmal mehr, dass die von der Bundesregierungdurchgehend behauptete Ausrichtung auf das Kindeswohl nicht der Realitätentspricht.

Zwitter sind ein Teil unserer Gesellschaft und haben als gleichberechtigte Bürger ein Recht auf freie Entfaltung und Entwicklung. Die an ihnen begangenen medizinisch nicht notwendigen, traumatisierenden Zwangsbehandlungen stellen aus der Sicht der betroffenen Menschen einen erheblichen Verstoß gegen ihr Menschenrechtauf körperliche Unversehrtheit, Selbstbestimmung und Würde dar, auf derenWiedergutmachung sie nach wie vor warten.

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