Dienstag, 4. November 2008

Dschungelshow für Ypsilanti

Mit dem Scheitern der rot-grünen Minderheitsregierung in Hessen ist die gesamte Partei schwer beschädigt, sind sich die meisten Kommentatoren einig. Sie geben vor allem Ypsilanti die Schuld - und ihrem Machtstreben.

"Süddeutsche Zeitung" (München)
"Jürgen Walter ist ein kleiner Nero der SPD. Ein knapper Wahlausgang gab ihm Zündhölzer in die Hand. Er hat seine Partei angezündet und der CDU neue Lichter aufgesteckt. Das Wahlunglück Roland Kochs hat sich so in Glück verwandelt. Aus einem Wahlverlierer ist ein Zufallsministerpräsident geworden. Und wenn es Neuwahlen in Hessen geben sollte, werden diese die hessische CDU neu vergolden. Der SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier kriegt dann, drei Monate vor der Bundestagswahl, ein großes Problem. Das Scheitern von Ypsilanti ist daher auch ein Schlag für die Ambitionen von Steinmeier und Franz Müntefering. Es verbrennt nicht nur die SPD in Hessen. Sie kokelt auch im Bund."

"Bild-Zeitung" (Berlin)
"Was für ein Absturz. Und Abschuss. Vier SPD-Abgeordnete sagen Nein zu Rot-Rot-Grün in Hessen; sie zerstören die Politikerin Andrea Ypsilanti. Und das in allerletzter Minute, nach Monaten der Vorbereitung, bei der auch sie selber mitmachten oder zumindest schwiegen. Die vier berufen sich auf ihr Gewissen, auf die letzte Instanz. Ganz gleich, wie abrupt und spät sie damit kommen - das allein zählt. Das verdient Respekt. Wer im Zug die Notbremse ziehen will, darf auf die Fahrpläne nicht achten. Die vier wollten den SED-Erben nicht die Hand reichen - auch wenn es sie die Macht und ihre politische Karriere kostet, in die sie Jahre und Jahrzehnte Arbeit gesteckt haben. Denn mit der nächsten Wahl werden die vier ihre Sitze im Landtag wohl verlieren, weil sie mit der SPD gebrochen haben. Neuwahlen sind jetzt der einzige Ausweg in Hessen. Die Situation ist so verfahren, dass nur der Wähler sie klären kann, klären muss."

"Der Tagesspiegel" (Berlin)
"Überdies gehen die Klagen über den Kandidaten-Abschuss auf der offenen Szene des hessischen Landtages an dem eigentlichen Problem vorbei: Wie kann es geschehen, dass ein ganzer SPD-Landesverband sich in ein Projekt hineinsteigert, das quer zu wirtschaftlicher Rationalität und politischer Vernunft steht? Was für Kräfte lassen eine Politikerin wie Andrea Ypsilanti sympathisch, aber ohne ein größeres Profil an die Spitze einer Partei aufsteigen, die einen Ruf zu verlieren hat? Nur der Wille zur Macht? Die wohlfeile Koch-muss-weg-Erregung? Die Sehnsucht nach einem politischen Erweckungserlebnis? Da muss in der Politik etwas verloren gegangen sein; so aber wird sie zum Blatt im Wind der Stimmungen und Erregungen. Bodenhaftung, Urteilsfähigkeit, Augenmaß? Der Fall der hessischen SPD rührt an ein Unbehagen, das Stoff bei allen Parteien findet."

"Berliner Morgenpost"
"Wenn jetzt schon auf Landesebene vier Gewissens geplagte Sozialdemokraten eine SPD-Regierung von Gnaden der Linkspartei torpedieren, dann müsste ein vergleichbares Experiment auf Bundesebene zumindest 2009 erst recht chancenlos sein. Doch statt zumindest klammheimliche Erleichterung über das aus den eigenen Reihen erzwungene Ende von Frau Ypsilantis Irrweg durchschimmern zu lassen, attackiert Müntefering die Vier, empört sich über deren Verantwortungslosigkeit und schweigt zum Wortbruch der Mehrheit. Ein glaubwürdiges kategorisches Nein zu Experimenten mit Lafontaine und Gysi auf Bundesebene hört sich anders an."

"Frankfurter Rundschau"
"Die Lage ist so verfahren, dass es nur einen Ausweg gibt: Neuwahl. Das ist jetzt eine Frage des politischen Anstands geworden. In Hessen blickt die SPD auf einen Scherbenhaufen, von Berlin aus sieht das nicht anders aus. Es ist am Montag nicht nur für Ypsilanti und die Hessen-SPD etwas schief gegangen, sondern für die Partei insgesamt. Es sah es so aus, als könnte sich die SPD als Regierungspartei wieder neu finden. Aber nun sind die alten ideologischen Probleme erst einmal wieder da. Und vor allem ist die Krise wieder da. Die Republik blickt nach Hessen und sieht ein gescheitertes Experiment, eine gescheiterte Kandidatin, eine gescheiterte Partei. Die Wand steht noch, und die SPD steht ratlos davor."

"Münchner Merkur"
"Allen voran die tapfere Dagmar Metzger darf sich rühmen, von Anfang an durch Charakterfestigkeit eine auch in der sozialdemokratisch gefärbten Bevölkerung Hessens heftig umstrittene politische Geisterfahrt beendet und so allen Sozialdemokraten außerhalb des linken Flügels bundesweit einen Dienst erwiesen zu haben. SPD-Kanzlerkandidat Steinmeier und Parteichef Müntefering dürften nach der Botschaft aus Hessen insgeheim wahre Felsbrocken vom Herzen gefallen sein. Ihnen bleibt nun Kurt Becks Hinterlassenschaft eines Bundestagswahlkampfs mit Ypsilanti-Ballast erspart."

"Berliner Zeitung"
"Zu erinnern ist auch daran, dass Ypsilanti nicht einmal ernsthaft versucht hat, Alternativen zu einer rot-grünen Regierung zu sondieren. Weder hat sie seriös die Liberalen zu Gesprächen über eine Ampel-Koalition ermuntert, noch hat sie versucht, mit der CDU über eine große Koalition zu reden ohne Koch als Ministerpräsident. Wenn es wirklich wie immer und immer wieder versichert das wichtigste Ziel der hessischen SPD und ihrer Spitzenkandidatin war, den bei den Wählern damals aus gutem Grund überaus unbeliebten Koch aus dem Amt des Ministerpräsidenten zu entfernen, dann hätte es an Möglichkeiten dazu nicht gefehlt. Die CDU sogar die hessische ist gelenkig genug, um sich nicht wegen einer Personalie von der Macht verdrängen zu lassen. Wer wie Ypsilanti großspurig einen Politikwechsel in Hessen anpeilt, sollte zumindest zu einem Regierungswechsel in der Lage sein."

"Stuttgarter Zeitung"
"Andrea Ypsilanti ist gewiss nicht zu bedauern. Schließlich hat sie mit Brachialgewalt an ihrem Projekt festgehalten und sämtliche Appelle der Berliner Führung ignoriert. Sie hat zu Kurt Becks Abgang beigetragen und sie hat die ohnehin in der Bevölkerung verbreiteten Zweifel gemehrt, ob Politik noch etwas mit Anstand und Respekt vor dem Bürgerwillen zu tun habe."

"Abendzeitung" (München)
"Es ist vor allem schlechtes politisches Handwerk, das Andrea Ypsilanti der Republik nun über Monate geboten hat. Nun ist der Spuk vorbei. Aus Sicht der SPD ist der Schaden maximal: Die Links-Option ist erledigt, für Andrea Ypsilanti bleibt nur noch die RTL- Dschungelshow als Einsatzgebiet. Und neuer alter Regierungschef wird Roland Koch. Es ist nicht zu fassen."

"Express" (Köln)
"An mahnenden Hinweisen hat es nicht gefehlt: Selbst aus den eigenen Reihen kamen jede Menge Warnungen, dass das Experiment einer rot-grünen Minderheitsregierung in Hessen schief gehen könnte. Nur Andrea Ypsilanti wollte nicht hören. Sie hat ihre Pläne gegen alle Vernunft durchgepeitscht. Und nun dafür die Quittung bekommen. Nun ist das Desaster der SPD in Hessen kein Unglück, sondern politisches Unvermögen. Wir werden Andrea Ypsilanti nicht vermissen, wenn sie demnächst aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwindet. Denn wer sich in verantwortlicher Position über Monate dermaßen vergaloppiert wie sie und zudem in außergewöhnlich großem Maß beratungsresistent ist, hat in der Politik nichts zu suchen."

"Neue Presse" (Hannover)
"Insgeheim dürfte die Bundes-SPD über den Ausgang in Hessen aber nicht ganz unglücklich sein. Denn nun hat sie im Vorfeld der Bundestagswahl ein Glaubwürdigkeitsproblem weniger. Ihre Aussage, im Bund auf keinen Fall mit der Linken zu kooperieren, hätte stets den Fingerzeig Richtung Hessen zur Folge gehabt. Doch nun wird es das Menetekel Ypsilanti nicht geben. Den vier Rebellen sei Dank."

"Braunschweiger Zeitung"
"Aber für die Parteispitze hat die Ypsilanti-Pleite auch ihr Gutes: Wenigstens belastet eine hessische, SPD-geführte Wackelregierung von Lafontaines Gnaden nicht mehr den Bundestagswahlkampf. Ein Ende rot-roter Machtoptionen im Westen bedeutet das Debakel ohnehin nicht: Für die Landtagswahlen 2009 hält sich die SPD ein Bündnis mit der Linken nicht nur in Thüringen, sondern auch im Saarland offen, diesmal ungeniert. Was in Hessen noch so verpönt war, dass es vor der Wahl bestritten wurde, ist künftig nicht mehr tabu. Ob die SPD auf diesem Weg mehr Erfolg hat als Ypsilanti, wird man noch sehen."

"Passauer Neue Presse"
"Zu blindwütig war Andrea Ypsilantis Streben, den Machtwechsel in Hessen herbeizuführen und den verhassten Roland Koch aus dem Amt zu heben. Und eben jener Hass auf Koch, als einzige Klammer von Rot-Rot-Grün, war zu wenig für den Zusammenhalt des geplanten Regierungsbündnisses. Nur mühsam konnte man gemeinsame Politikziele definieren. Doch der faktische Ausbaustopp für den Frankfurter Flughafen und die Personalie Hermann Scheer wurden für Ypsilanti zum Desaster. Dass Scheer, der SPD-Altlinke, Wirtschaftsminister werden sollte, machte den Ypsilanti-Rivalen Jürgen Walter endgültig zum Parteirebellen. Er ist jetzt die treibende Kraft für ihre Niederlage. Was übrig bleibt, ist ein durch Ehrgeiz und Verblendung ausgelöster Scherbenhaufen. Hessen können jetzt nur noch Neuwahlen helfen, denn die Parteien und ihre Protagonisten sind in der jetzigen Konstellation nicht mehr verhandlungsfähig."

"Sächsische Zeitung" (Dresden)
"Die Folgen sind jedenfalls fatal: Zum einen für die hessische SPD, die sehr lange brauchen wird, um sich von diesem Desaster wieder zu erholen. Zum anderen - und das ist weitaus schlimmer - hat aber auch die Politik insgesamt ein Stück Glaubwürdigkeit verloren. Denn viele Menschen widert diese Art des politischen Ränkespiels einfach nur an. Das aber schadet allen demokratischen Parteien."

"Schwäbische Zeitung" (Leutkirch)
"Andrea Ypsilanti hat hoch gepokert und verloren. Ihr Wunsch-Bündnis, das die SPD tief spaltete und indirekt für den Sturz von SPD-Chef Kurt Beck sorgte, ist definitiv gescheitert. Gut so, denn dieses Ende mit Schrecken ist immer noch besser als der Dauerschrecken, den das rot-grüne Bündnis mit Tolerierung der Linkspartei für Hessen bedeutet hätte."
"Reutlinger General-Anzeiger"

"Vier aufrechte Demokraten haben aus ihrem Herzen keine Mördergrube gemacht und die Machtübernahme in Hessen platzen lassen. Der Beifall der großen Mehrheit in Hessen ist ihnen dabei sicher. Außer Ypsilanti kann sich ohnehin niemand so richtig vorstellen, wie sich am Gängelband einer Partei Politik machen lassen soll, die nicht einmal in Regierungsverantwortung stehen würde. In ihrer blinden Fixierung auf das Ministerpräsidentenamt hat Ypsilanti das Wort gebrochen und die Bodenhaftung vollständig verloren. Montag ist sie wieder in der Realität angekommen. Eigentlich müsste sie den SPD-Rebellen dafür dankbar sein."

"Aachener Zeitung"
"Spätestens vergangene Woche, allerspätestens beim Landesparteitag am Samstag hätten die Drei klipp und klar sagen müssen: Wir machen nicht mit. Sie haben es nicht getan. Sie sind nicht für ihre Überzeugung eingetreten, geschweige denn, dass sie dafür gekämpft hätten, wo sie doch nach eigener Aussage so viel Zustimmung aus der Partei erfahren haben. Ypsilantis Vorhaben war fahrlässig. Eine Fraktion mit 42 Mitgliedern ist überschaubar. Wer so viel Wagnis eingeht, muss wenigstens den eigenen Laden im Griff haben. Ypsilanti konnte und durfte sich nicht sicher sein; sie war sich aber sicher. Das heißt: Sie kann es nicht. Sie hat zugelassen, was einer Partei schon gar nicht passieren darf: Dass sie nicht mehr ernst genommen wird."

"Saarbrücker Zeitung"
"Wie weiter in Hessen? Neuwahlen sind der vernünftigste Weg. Die SPD wird in ihnen untergehen. Wenn das bald geschieht, wird wenigstens der Bundestagswahlkampf der Partei nicht allzu sehr beschädigt. Roland Koch wird wieder auferstehen, wie aus einem Stahlbad. Er sollte sich darauf nichts einbilden. Er ist hauptsächlich dafür verantwortlich, dass in Hessen ein derartig erbittertes Klima herrscht. Koch ist der brutalstmögliche Gewinner und, so lange er an der Spitze der Union bleibt, der Garant dafür, dass sich die politische Kultur in diesem Bundesland auf lange Sicht nicht zivilisieren wird. Hessen hat auf beiden Seiten besseres verdient."

"Der neue Tag" (Weiden)
"Hessen steuert nun unweigerlich auf Neuwahlen zu. Dabei dürfte es, wenn Roland Koch nicht dieselben Fehler ein drittes Mal macht, für eine schwarz-gelbe Mehrheit reichen. Die SPD ist in Hessen auf absehbare Zeit tot, damit auch Rot-Grün und erst recht Rot-Rot-Grün. Nicht erledigt aber hat sich die Frage, wie es die SPD mit der Linkspartei halten will. Hessen lehrt nur, dass es nicht gut geht, vor der Wahl jedes Bündnis mit ihr auszuschließen, um es im Lichte eines knappen Wahlergebnisses umso hartnäckiger anzustreben. Schon im Juni bei den Landtagswahlen in Thüringen und im August im Saarland kann sich die Frage völlig neu stellen."

"Mitteldeutsche Zeitung" (Halle)
"Es war jene gefährliche Mischung aus eitlem Machtstreben, programmatischer Sorglosigkeit und sturer Beratungsresistenz, die Andrea Ypsilanti in die Arme der Linken trieb. Ihr Ziel war es, den CDU-Rivalen Roland Koch an der Spitze des Landes abzulösen. Die Bilanz am Ende dieser Aktion ist verheerend: eine nicht enden wollende Debatte über die Glaubwürdigkeit der SPD. Ein zerrissener Landesverband. Und ein Roland Koch, der grinsend auf der Regierungsbank sitzen bleiben und behaupten kann, augenscheinlich gehe es ja wohl nicht ohne ihn."

"Neue Ruhr/Neue Rhein Zeitung" (Essen)
"Aus dem hessischen Debakel können die Genossen lernen: Eine rot-grüne Koalition mit der Linkspartei als stillem Teilhaber ist ein politisches Modell ohne Zukunft. Die SPD kann am Ende froh sein, dass dieser Kelch an ihr vorübergegangen ist. Denn vom linken Rand aus sieht die Partei in den demoskopischen Abgrund. Müntefering muss die Sozialdemokraten wieder dorthin zurückführen, wo sie hingehören: in die Mitte. Auf der Strecke bleibt Andrea Ypsilanti. Sie wollte ohne Rücksicht auf Verluste an die Macht. Als gefühlte Siegerin der Landtagswahlen hatte sie offenbar den Sinn für das politisch Machbare und Sinnvolle verloren und erlebt nun einen beispiellosen Absturz. Sie hat ihrem Land, ihrer Partei und sich selbst einen denkbar schlechten Dienst erwiesen."

"Kölnische Rundschau"
"Dass Andrea Ypsilanti ihre politische Karriere wohl hinter sich hat, ist für sie und ihre Partei ein von ihr provozierter schwerer Schadensfall. Ein derartiges Maß an Machtbesessenheit, Verbohrtheit und Beratungsresistenz passt nicht zu den Ansprüchen einer verantwortungsvollen Wahrnehmung eines Regierungsamtes. Das galt schon, als ihr damaliger Parteivorsitzender Kurt Beck bemerkte, dass die hessische SPD nicht zweimal mit dem gleichen Kopf gegen die gleiche Wand rennen werde. Obwohl er damals damit nicht überzeugen konnte, hat er in diesem Punkt Recht behalten; selbst wenn er letztlich wegen des Problems Hessen nicht mehr an der Spitze der Partei steht, deren Scherben nun Müntefering einzusammeln hat."

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