Freitag, 21. November 2008

Homosexueller Fußballer: Einsame Spitze

Marcus Urban ist Profifußballer und homosexuell. Für den Erfolg opfert er Freiheit: Ein Outing kann das sportliche Aus bedeuten. Offen schwul lebt er erst seit Ende seiner Karriere.

C.LEHNEN & J.MENDRALA

Chefredakteur Kelvin MacKenzie ist zufrieden, als er am 22. Oktober 1990 die Sun aufschlägt. Es ist Montagmorgen, und das britische Boulevardblatt hat die neue Woche gleich mit einer Exklusivgeschichte begonnen: In großen Lettern verkündet Fußballprofi Justin Fashanu öffentlich seine Homosexualität.

Die Leute kennen Fashanu:
Zehn Jahre zuvor erzielte er als blutjunger Stürmer für Norwich City gegen den Rekordmeister Liverpool mit einem spektakulären Treffer das "BBC Goal of the Season", das Tor des Jahres. Über Nacht wurde er berühmt, wechselte wenig später zu Nottingham Forrest und wurde der erste schwarze Fußballprofi im Königreich, der einen Verein mehr als eine Million Pfund kostete.

Nun ist er der erste Profifußballer, der sich je offen zu seiner Homosexualität bekannt hat. Als Marcus Urban gleichen Tags auf dem Trainingsplatz des damaligen DDR-Vereins Rot-Weiß Erfurt (RWE) steht, weiß er von alledem nichts. Erfurt spielt damals in der höchsten Spielklasse.

Es regnet in Strömen, der Coach brüllt Anweisungen über das Grün. Marcus rennt, doch er ist müde.Er ist zehn Jahre jünger als Fashanu, steht mit 19 Jahren am Beginn einer hoffnungsvollen Karriere: In der DDR hat er sämtliche Jugendauswahlmannschaften durchlaufen, mit späteren Nationalspielern wie Bernd Schneider, Thomas Linke und Frank Rost auf dem Platz gestanden. Beobachter wähnen ihn kurz vor dem Durchbruch, sein Verein ist auf dem Sprung in die erste gesamtdeutsche Zweite Bundesliga, der Vertrag liegt zur Unterschrift bereit.

Bereits seit 1984 trainiert er in der renommierten Kinder- und Jugendsportschule Erfurt auf seinen Traum vom Profifußball hin; nie war Marcus ihm so nah wie hier bei RWE. Gleichzeitig ist dieser Traum so weit entfernt. Seine Jugend verbringt Marcus auf dem Fußballplatz - und doch versteckt er sich zu jeder Zeit: Er ist schwul. Keiner weiß es.

Denn keiner darf es wissen. "Schwul", sagt er heute, "dieses Wort existierte für mich damals nur als Schimpfwort. Ich dachte: Als Fußballer ist man nicht schwul, fertig." Urban ist hager, wirkt mit seinen 1,75 Metern wie der klassische Mittelfelddribbler Marke Mehmet Scholl. Eloquent und gewitzt erzählt er seine Geschichte, legt dramatische Pausen ein. Wenige in den späten Achtzigerjahren sozialisierte Profifußballer sprechen so.Doch kaum denkt man, es sei für ihn Routine, von den Jahren in der Sportschule zu erzählen, ringt Urban um Worte. "Ich war völlig allein", sagt er nach Sekunden der Stille.

"Es gab niemanden, mit dem ich hätte sprechen können, keine schwule Öffentlichkeit, keine Bars, nichts." Wieder Stille. Urban ist ein nachdenklicher Mensch. Psychologie ist sein Hobby, die eigene Psychologie zuvorderst: "Ich musste lernen, meine Probleme zu verstehen, um sie lösen zu können", sagt er.

Schon als Teenager begann er psychotherapeutische Literatur zu wälzen. In der streng geführten Sportschule war für derlei Sensibilität kein Platz. Die jungen Sportler mussten funktionieren: "Das war der Deal: Sportkarriere gegen Persönlichkeit", sagt Urban.

Der "Deal" zum jahrelangen Versteckspiel
Marcus mochte Männer. Er spürte es. Nachts träumte er von ihnen. Und tagsüber spielte er mit ihnen Fußball. Mit hartem Training versuchte er, sich von seinen Gefühlen abzulenken, brüllte und foulte auf dem Platz. "Ich wollte meine Emotionen nicht zulassen. Doch sie ließen sich nicht abstellen", sagt er und erinnert sich, wie mit 16 Jahren die Wahrheit doch einmal aus ihm herausplatzte: "Wie zum Test sagte ich einem Mannschaftskollegen in der Straßenbahn: ,Du, ich bin schwul.' Darauf hat er einfach nicht reagiert!" Stattdessen betretene Stille, "demütigender als jede Beleidigung".

Über das Thema wurde nie mehr gesprochen. Marcus blieb allein. Immer weiter zog er sich von den Mitspielern zurück, wurde zum Außenseiter. "Ich wusste: Ein öffentliches Outing hätte mein einziges großes Ziel - die Profikarriere - für immer zerstört. Die Schule hätte mich gnadenlos aussortiert." So wurde der Fußball zum einzigen Fixpunkt: "Mit 17 habe ich mir eingeredet: ,Pelé war in deinem Alter schon Weltmeister. Du musst endlich Gas geben!' Ich wollte Weltmeister werden - mit der DDR: Ich habe wirklich daran geglaubt." Übersteigerte sportliche Ziele als Ablenkung von der eigenen Sexualität? "Ich habe mich nicht einmal an die Vorstellung herangetraut, wie es als Schwuler im Profisport wohl wäre - der bloße Gedanke daran machte mir schon Angst."

Wie ernst Marcus Urbans Angst Ende der Achtzigerjahre zu nehmen ist, wird deutlich, wenn man Justin Fashanus Werdegang nach seinem Outing verfolgt: Bereits eine Woche nach seinem öffentlichen Coming-out in der Sun beschimpfte ihn sein jüngerer Bruder John - zu diesem Zeitpunkt selbst englischer Nationalspieler - auf dem Titel des Revolverblattes The Voice vor der gesamten Nation als "outcast", als Ausgestoßenen. Daraufhin begann für Justin ein brutaler Spießrutenlauf. Er wurde zum Freiwild für Mitspieler, Funktionäre, Fans und Medien, ein Getriebener.

Er floh schließlich von der Insel, suchte sein Glück bei unterklassigen Clubs in Übersee. Doch glücklich wurde er nie mehr. Als Talent bei RWE verletzte sich Urban im Frühjahr 1991 schwer; erstmals verließ er darauf die vorgezeichneten Karrierepfade, kehrte Erfurt und der zweiten Liga den Rücken. In Weimar nahm er sein Studium der Stadtplanung auf. Fußball spielte er nebenher: unterklassig, unmotiviert, "völlig unter Wert". 1993 entschloss er sich zu einem Auslandssemester in Neapel.

Seine intensivsten Momente
Er kickte auf Hinterhöfen und auf der Straße, labte sich an Pasta mit Meeresfrüchten, besuchte das Haus des großen Maradona und verliebte sich: in einen Mann. Mit dem Abstand von 1.500 Kilometern, dem Ende des Leistungsdrucks und der Dolce Vita Italiens begann Marcus Urban zu leben. "Plötzlich war der Sport nicht mehr das Wichtigste im Leben. Ich spürte, wie mir die Distanz zur Machodomäne Fußball Mut zur Offenheit machte." Dennoch fiel der letzte Schritt zum Outing nicht leicht. Zurück in Deutschland, vergingen erneut quälende Monate, bis Marcus 1994 die wohl folgenschwerste Entscheidung seines Lebens traf

Er gab den Traum vom Profifußball endgültig auf und wagte das Coming-out: "Eine große Last fiel von mir ab. Euphorisiert erzählte ich Bekannten auf der Straße von meinem Freund, rief überglücklich meine Mutter an: ,Mama, ich bin schwul!'" Mit 23 Jahren gelang es ihm, den fatalen Deal aus der Jugend zu seinen Gunsten zu drehen: Von nun an ging es um Persönlichkeit statt Sportkarriere. In den folgenden Jahren schloss Urban sein Ingenieursstudium ab, bildete sich in Marketing und Rhetorik fort, arbeitete mit geistig Behinderten und als selbständiger Designer.

Fußball spielt er bis heute, als Spielmacher der Herrenmannschaft des schwul-lesbischen Fußballclubs Startschuss in Hamburg - ganz ohne Leistungsdruck, nur zum Spaß. Einen ungewöhnlichen, ja "verrückten" Lebenslauf habe er, meint Urban. Doch sein langes, herzliches Lachen verrät, dass er angekommen ist. Dieses Glück sollte Justin Fashanu nicht mehr zuteil werden. Im Mai 1998 endete seine Reise im Londoner Stadtteil Shoreditch. Nach einer jahrelangen, letztlich erfolglosen Suche nach Respekt brach er hier in eine verlassene Autowerkstatt ein und erhängte sich. "Ich hoffe, dass ich endlich meinen Frieden finden kann", war in seinem Abschiedsbrief zu lesen. Fashanus Tod war der Sun eine letzte Story wert. Von der Mär, dass es keine schwulen Fußballprofis gibt, hat sich mittlerweile die Mehrheit der Beobachter verabschiedet.

Noch hat sich aber kein deutscher Fußballprofi je offen zur Homosexualität bekannt - ist das erste Outing also nur noch eine Frage der Zeit? "Ich bin mir sicher, dass sich schon sehr bald Spieler bekennen werden", sagt Urban. Die Stimmung sei heute insgesamt viel positiver als Anfang der Neunziger: "Das Outing hat schon begonnen. Es gibt schwule Fußballer und ich weiß von ihnen."

Sogar Theo Zwanziger, Präsident des sonst knöchern wirkenden DFB, hat jüngst schwulen Spielern jede nötige Unterstützung beim Outing zugesagt. "Genau das richtige Signal", schwärmt Urban und ermuntert die heutige Profigeneration, sich zu öffnen: "Das Versteckspiel ist die Hölle. Es ist unglaublich befreiend, wenn es vorbei ist."

Wieder schweigt er lange, bis er anfügt: "Vielleicht ist die Zeit des ewigen Entweder-oder für schwule Fußballprofis auch endlich bald vorbei." Justin Fashanu ist mit 37 Jahren auf der Suche nach Frieden zerbrochen, blieb seit dem Bekenntnis zu sich selbst allein und erhängte sich schließlich. Marcus Urban ist heute 37 Jahre alt.

Er fand seinen Frieden, als er den Fußball hinter sich ließ. Er schämt sich nicht mehr. Er hat sich lieben gelernt. Das Buch "Versteckspieler: Die Geschichte des schwulen Fußballers Marcus Urban" von Ronny Blaschke ist im Verlag Die Werkstatt erschienen und kostet 9,90 Euro.

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