Sonntag, 17. Mai 2009

Die Augenringe einer Popdiva

Mariah Carey im Interview:

Mariah Carey im Interview: Die Augenringe einer Popdiva

Von Sophie Albers, Cannes

Mariah Carey kann auch anders. Die US-Sängerin mit Pocher-Problem gilt vielen als Lachnummer. Doch beim Filmfest in Cannes hat sich die schauspielernde Popdiva von einer eher schäbigen Seite gezeigt. stern.de sprach mit Carey über Missbrauch und die Notwendigkeit, manchmal die High-Heels auszuziehen.

Das Haar ist unordentlich und dunkelbraun, die Haut fahl, der Jacke sieht man den Polyesteranteil an, und als die Frau aufsteht und den Gang des Sozialamtes entlangschlurft in diesen gemütlichen, flachen Tretern, liegt in jedem Schritt das Gewicht all der traurigen Lebensgeschichten, die sie schon gehört hat. Dann kommt die Frau zurückgeschlurft, blickt dem Mädchen, das da sitzt und nicht über die Situation zu Hause reden will, offen ins Gesicht, und die Augen verraten sie. Gute Güte! Das ist tatsächlich Mariah Carey, die eine ausgebrannte Sozialarbeiterin spielt. Und das ziemlich überzeugend.

Die Popdiva und der Regisseur Lee Daniels sind schon lange und gut befreundet. Als er ihr eine Rolle in seinem neuen Film "Precious" angeboten hat, gab es eine klare Ansage dazu: kein Make-Up, keine hohen Absätze und überhaupt gar kein Glamour. Erstaunlicherweise hat Mariah Carey trotzdem zugesagt - und damit eine Ernsthaftigkeit bewiesen, die ihr kaum jemand zutraut.

Carey sitzt sehr aufrecht mit einem engen dunkelroten Kleid und extrem hohen Schuhen in einem eher schlichten Hotelzimmer. An ihren schönen Händen glitzern beachtliche Brillanten.

Wie sind Sie nur an diese Rolle gekommen, Frau Carey?
Eine Freundin hat mir das Buch gegeben und gesagt, jede farbige Frau sollte es lesen. Ich denke, jeder Mensch sollte es lesen. Es hat mich umgehauen. Als ich erfahren habe, dass mein Freund Lee Daniels daraus einen Film macht, war ich ganz aufgeregt! Dann hat er mich gefragt, ob ich mitmachen will. Ich habe mich gefragt, wen ich spielen soll, und dann hat er diese Mrs. Weiss erfunden. Sie ist eine Sozialarbeiterin und so ziemlich das Gegenteil von mir.

War das für Sie nicht sehr schwierig zu spielen?
Man sucht im Charakter immer etwas, das man kennt. Ich musste Schicht um Schicht meiner Selbst ablegen, als Prominente, als Künstlerin, wie immer Sie es nennen wollen, um diese Person zu werden. Diese Person, die dem Publikum letztlich entblößt, was mit Precious passiert ist.
"Precious"
"Precious" ist die Verfilmung des Erfolgsromans "Push" von Sapphire und erzählt die Geschichte einer zum zweiten Mal schwangeren 16-Jährigen, die im Harlem der 80er Jahre eine Hölle durchlebt. Vom Vater missbraucht, von der Mutter gehasst und geprügelt, hat sie versucht, sich einen Panzer anzufressen, der ihr aber auch nicht hilft. Als sie auf eine neue Schule kommt, trifft sie plötzlich Menschen, die ihr zeigen, dass sie ihr Leben ändern kann. Eine davon ist die Sozialarbeiterin Mrs. Weiss, gespielt von Mariah Carey. Auch Lenny Kravitz hat einen kurzen Auftritt - als Krankenpfleger.

Wie schwierig war es denn, da runter zu kommen?
Es war wirklich ein Runterkommen! (lacht rauchig) Lee hat gesagt, ich müsse auch meinen Gang ändern. Dabei laufe ich selbst auf den Zehenspitzen herum, wenn ich keine hohen Absätze trage. Lee hat gesagt: Du bist da oben, kannst du hier runter kommen? All die kleinen Angewohnheiten, für die ich bekannt bin, musste ich über Bord werfen. Und das haben wir ziemlich schnell gemacht. Die Vorbereitungszeit war kurz.

Und hinterher haben Sie die Schichten wieder drauf gepackt?
Hey, das musste ich doch. (lacht) Ich durfte im Film kein Make-Up tragen, nur unter die Augen haben sie mir dunkle Ringe gemalt.

Immer wieder streicht sie mit ihren Fingern glatte Haarsträhnen aus einem noch glatteren, augenringfreien Gesicht. Sie wirkt sehr gelassen.

War das anstrengend, der fehlende Glamour?
Er war entscheidend. Wenn eine bekannte Person wie ich auch nur entfernt glamourös ausgesehen hätte, hätte es dem gesamten Film geschadet. Um ehrlich zu sein, war es aber wirklich heftig für mich, weil ich so daran gewöhnt bin. Das Musikgeschäft ist so anders mit den Kamera und der Ausleuchtung. Wir hatten hier fluoreszierendes Zahnarzt-Büro-Licht. Es war die am miesesten ausgeleuchtete Szene des ganzen Films. Natürlich mit Absicht. Licht von oben, und Lee rief "Packt mehr dunkle Ringe unter ihre Augen". Einmal hat er mich erwischt, wie ich Rouge aufgelegt habe. Das fand er nicht so witzig. Aber jetzt weiß ich immerhin, wenn ich zuhause bin und ungeschminkt am Spiegel vorbeigehe, dass ich schlimmer aussehen kann. (lacht)

Wie sind Sie emotional mit diesem heftigen Thema klar gekommen?
Ich bin sehr sensibel und weine viel, nicht immer, aber in solchen emotionalen Momenten schon. Das konnte ich nur zwischen den Szenen tun, denn mein Charakter hält das ja alles zurück.
Mariah Carey im Interview: Die Augenringe einer Popdiva

Kennen Sie persönlich Menschen, die so etwas die Precious durchlitten haben?
Ich habe einen sehr besonderen Background. In der Familie meines Vaters gab es einige problematische Onkels und Tanten, Leute, mit denen wir nichts zu tun haben sollten, die in sehr schwierigen Situationen lebten. Daher kenne ich Menschen, die so etwas durchgemacht haben. Ich selbst habe auch Sachen erlebt, die es mir ermöglichen, mit Precious zu fühlen. Alle, die im Film mitspielen, haben sich schon als Außenseiter gefühlt, haben sich ignoriert gefühlt, so wie Precious ignoriert wird. Die meisten Leute denken, ich sei in einer magischen, heilen Welt aufgewachsen und singe die ganze Zeit in hohen Oktaven. Nee, so war es nicht. Ja, ich kenne Leute, die durch tiefe Scheiße mussten... (lacht rauchig) Entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise, aber hier darf man das doch, oder?

Der Film sagt auch einiges über die Popindustrie aus, wie man aussehen sollte, wovon keine Mädchen träumen...

Als ich mit 19 Jahren unter Vertrag genommen wurde, hat man mir gesagt (zeigt auf ihre linke Gesichtshälfte): Das ist deine schlechte Seite, lass die nie fotografieren. Von der Seite siehst du schrecklich aus. Die haben mir einen ordentlichen Komplex verpasst. Als hätte ich nicht schon genug Komplexe gehabt. (lacht)

Ist Ihnen die Unterhaltungsindustrie nicht zu oberflächlich, nachdem Sie sich intensiv mit einer Geschichte wie der von Precious auseinandergesetzt haben?
Zur Hölle ja. Da geht es nur um Oberflächlichkeit. Aber im Film, wenn Precious sich in ihre Fantasiewelt flüchtet, wenn sie sich selbst auf dem Laufsteg und im Scheinwerferlicht sieht, um der schrecklichen Realität zu entkommen, fand ich das aufbauend.

Precious' Fantasiewelt ist Ihre Realität.
Einen Charakter wie diesen zu spielen, lässt mich ein Teil der realen Welt sein. Mein Leben ist sehr anders als das anderer Leute wegen meiner Karriere und meiner Hingabe daran. Deshalb bin ich echt dankbar für dieses Projekt.

Was hat Ihnen im Leben eigentlich Kraft gegeben?
Als Kind die Musik und mein Glaube an Gott. Meine Mutter hat immer gesagt "Du wirst ein Star", mein ganzes Leben lang. Sie hat mir definitiv diesen Glauben an mich selbst gegeben. Das kam von niemand anderes. Musik war immer meine Flucht. Und mit der Zeit kamen verschiedene Freunde und Menschen, die mir unter anderem geholfen haben, aus meiner ersten schwierigen Beziehung zu kommen. (Carey meint ihre siebenjährige Ehe mit dem 20 Jahre älteren Plattenlabelchef Tommy Mottola, der sie mit 19 entdeckt hat) Da wollte niemand drüber reden. Aber es war eine Missbrauchs-Beziehung, seien wir ehrlich. Emotional und auch in anderer Hinsicht. Aber das liegt in der Vergangenheit.

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