Freitag, 3. Juli 2009

Wirt des Berliner Komasäufers muss in Haft

Gisela Friedrichsen

Lukas W. soff sich in einem Berliner Lokal mit mehr als 45 Tequilas ins Koma - der 16-Jährige starb. Der Wirt der Kneipe hatte mit dem Schüler um die Wette getrunken, nun wurde er wegen Körperverletzung mit Todesfolge verurteilt: zu drei Jahren und fünf Monaten Haft.

Berlin - Ein 16-Jähriger lässt sich nicht mehr an die Kette legen. Man kann versuchen, ihm Grenzen zu setzen, wie etwa: Spätestens um 1 Uhr nachts bist du zu Hause. Zwei Bier sind okay, aber nicht auch noch Scharfes, und keine Cocktails, du weißt nicht, was da drin ist!

Tod nach Wetttrinken

Drei Jahre und fünf Monate Haft für den Wirt
Man kann an Vernunft und Einsicht appellieren, dass mehr Freiheit auch mehr Verantwortung bedeute und dass man sich aufeinander verlassen können müsse. Darüber hinaus aber hilft nur noch Beten.

Lukas war ein ganz normaler Berliner Junge. Er ging aufs Gymnasium, drehte eine Ehrenrunde und beklagte sich dann, dass er nun mit Jüngeren in einer Klasse sitzen müsse. Wenn er am Wochenende mit seinen Kumpels loszog, trank er wie die anderen Alkohol, was ihm mit seinen 86 Kilo wenig ausmachte. Er prahlte nicht mit seiner Trinkfestigkeit, erntete dafür aber durchaus Anerkennung - bis er sich im Februar 2007 in einer Berliner Kneipe ins Koma und am Ende zu Tode soff.

Nun hat das Berliner Landgericht den Wirt zu einer Haftstrafe von drei Jahren und fünf Monaten verurteilt. Es sprach den 28-Jährigen am Freitag wegen Körperverletzung mit Todesfolge schuldig. Bei dem ungleichen Duell im Februar 2007 hatte der 16-jährige Lukas mindestens 45 Tequila getrunken, während der Kneipier sich zunächst Wasser einschenken ließ. Unmittelbar vor dem Urteil entschuldigte sich G. und sprach der Mutter des verstorbenen Jungen sein Beileid aus: "Es tut mir sehr, sehr, sehr leid", sagte er. Die Tragweite seines Tuns sei ihm nicht bewusst gewesen.

Es begann im "Reich und Schön" - und endete im Desaster
Lukas' Mutter hatte schon weit vor dieser Nacht versucht, ihrem Sohn Grenzen zu setzen. Sie machte ihm Vorhaltungen, als sie merkte, dass er immer öfter über die Stränge schlug. Der Junge hielt dagegen, in seinem Alter trinke man eben auch mal etwas mehr, es passiere doch nichts.

Am 24. Februar 2007, einem Samstag, verließ Lukas gegen 21.30 Uhr die elterliche Wohnung. Er wolle sich mit seinem Freund Jonathan, damals 15, und anderen im Club "Reich und Schön" am Potsdamer Platz treffen, sagte er zu seiner Mutter. Sie brauche nicht auf ihn zu warten, er übernachte bei Jonathan. Der durfte am Wochenende üblicherweise bis halb zwei unterwegs sein; dann holte ihn seine Mutter ab.

So war es auch an jenem Abend. Jonathan verließ den Club gegen 1.30 Uhr. Lukas aber blieb. Mit dem Trinken hielt er sich zurück, zwei, drei Bier in vier Stunden, das machte einem wie ihm nichts aus. Anschließend wollte er entweder noch in eine Kneipe am Hackeschen Markt gehen oder gleich zu Aytaç G., damals 26, dem Pächter des "Eye-T" am Spandauer Damm. Mit G. verstand er sich trotz des Altersunterschieds gut. Schon Wochen zuvor hatten die beiden ein Wetttrinken vereinbart: Wer den anderen unter den Tisch säuft, bekommt einen Döner spendiert.

Ganz wohl war Lukas bei der Sache offenbar nicht, denn er bat seine damals 17-jährige Freundin, ihn zu begleiten. Als sie absagte, fragte er im Freundeskreis herum, ob nicht ein anderer mitkommen wolle, um auf ihn aufzupassen. Doch keiner hatte Zeit oder Lust. So erschien Lukas allein im "Eye-T". Es war vier Uhr früh.

Tequila für den Teenager - Wasser für den Wirt
Die Gäste einer Party waren längst gegangen. Nur ein paar Aushilfen, die bedient hatten, saßen mit dem Wirt am Tresen zusammen und tranken Cocktails. Und ein paar Jugendliche waren noch da, die den Abend "ausklingen" lassen wollten. Einer von ihnen erinnert sich, dass Lukas auf einer Bank neben der Tür mehr gelegen als gesessen habe. Und dass der Wirt vor fünf Uhr früh mit einem Mädchen die Bar verließ.

In der halben Stunde nach Lukas' Erscheinen fand statt, was den Jungen das Leben kosten sollte. Die beiden Kampftrinker setzten sich in Positur. Die ersten Tabletts mit jeweils fünf 2-cl-Gläsern Tequila, einem mexikanischen Branntwein, wurden serviert. Ein Glas nach dem anderen, 10, 15, 20, 25. Irgendwann war man bei Nummer 40, schließlich bei 46 oder 48 oder noch mehr.

Gemeinsam gingen Aytaç G. und Lukas zwischendurch zur Toilette, damit nicht einer heimlich erbrach und mit neuem Fassungsvermögen aufs Kampffeld zurückkehrte.

Lukas war bald sturzbetrunken, doch Aytaç G. ging es noch immer gut
Kein Wunder: Bei ihm wurde bis etwa Glas 25 Wasser nachgefüllt, bei Lukas hingegen stets Schnaps. Und irgendwann stand eine Flasche Tequila auf dem Tisch, aus der sich jeder laut Aytaç G. selbst eingoss. Trank er weiter Wasser? Bekam Lukas überhaupt noch etwas mit? Schon deshalb, so der Staatsanwalt, habe der Junge in den Wettbewerb nicht wirklich einwilligen können. Sein Kopf fiel auf die Tischplatte. Er war am Ende.

Also ließ man ihn liegen. Jemand schrieb "Verlierer" auf seinen Bauch. Plötzlich lief er blau an. Einer steckte ihm einen Longdrink-Stab in den Mund, um ihn zum Erbrechen zu bringen. Es kam aber nur Schleim. Mund-zu-Mund-Beatmung brachte nichts. Ein Mädchen rannte zu einer Telefonzelle, um Aytaç zu informieren. Einer holte Feuerwehr und Notarzt. Zu spät.

Als Hilfe kam, es war 7.18 Uhr, hatte Lukas keinen Puls mehr. Er hing zusammengesackt in einer Ecke, klinisch tot. Im Krankenhaus stellte man einen Blutalkoholwert von 4,4 Promille fest.

"Er hätte überlebt"
Durch künstliche Beatmung wurde Lukas vier Wochen lang am Leben gehalten. Er reagierte auf nichts mehr. Dann stellte man die Maschine ab. Drei Tage später trat der Tod durch Herz-Kreislauf-Versagen nach Atemstillstand ein. "Wenn man den jungen Mann nach den ersten Zeichen von eintretender Bewusstlosigkeit gleich behandelt hätte und Kreislauf und Atmung erhalten geblieben wären, hätte er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit überlebt", sagt der Arzt, der Lukas versorgte.

Die Ermittlungen brachten erschreckende Erkenntnisse. Eltern, die geglaubt hatten, ihre Sprösslinge erhielten in öffentlichen Lokalen ab 16 höchstens Bier und erst ab 18 Hochprozentiges, wie es gesetzlich vorgeschrieben ist, mussten erfahren, dass es in dem einschlägig bekannten "Kindergarten" Aytaç G.s keine Grenzen gab. Bei ihm kamen laut Staatsanwaltschaft wiederholt Minderjährige an scharfe Sachen.

Mit "Swimmingpool" oder "Sex on the Beach" oder "Apfel verrückt" konnten sie sich zudröhnen und sogar anschreiben lassen, wenn das Taschengeld nicht mehr reichte. 3,90 Euro für einen Cocktail, der "Shot" Tequila für nur einen Euro an manchen Tagen - das leisteten sich die Kids aus besseren Kreisen nicht nur einmal im Monat. Geburtstage und Konfirmation, Partys, Feste: Im "Eye-T" war ungestörtes Saufen immer möglich. Saufen, bis der Arzt kommt.

Die Berliner Staatsanwaltschaft klagte daraufhin zunächst drei Freunde des Lokalinhabers im Alter von 18 bis 21 Jahren sowie eine 17-jährige Aushilfskellnerin vor der 24. Großen Jugendstrafkammer in Berlin-Moabit wegen Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung an. Der Prozess, der wegen des jungen Alters der Angeklagten unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt wurde, ging für die jungen Leute glimpflich aus.

Im Februar 2008 wurde ein Angeklagter freigesprochen, die anderen müssen an einem sozialen Trainingskurs teilnehmen. Sie seien "keine verwahrlosten Kriminellen", urteilte das Gericht, "sondern junge Menschen, die sich in einer Situation falsch verhalten haben".

War der Tod vorhersehbar?
Ein Jahr später aber ging es dem Wirt an den Kragen. Aytaç G. musste sich wegen mindestens 180 Verstößen gegen das Jugendschutzgesetz und vor allem wegen Körperverletzung mit Todesfolge im Fall Lukas verantworten. Seit dem 11. Februar verhandelte die 22. große Strafkammer des Landgerichts Berlin mit dem Vorsitzenden Peter Faust den Fall, der bundesweit Entsetzen hervorgerufen hatte. Denn sogenannte Flatrate-Partys (hoher Eintrittspreis, dafür freie Getränke) haben sich in letzter Zeit wie eine Seuche verbreitet.

Verboten oder nicht - Komasaufen gilt gerade bei den Jüngsten als cool. Und bei so manchem Wirt offenbar ebenfalls. Denn als der Berliner Bezirk Lichtenberg nach Lukas' Tod Flatrate-Partys in einer Discothek verbieten lassen wollte, wehrte sich der Betreiber dagegen: Er mache an solchen Abenden dreimal so viel Umsatz wie normalerweise. Erst das Berliner Verwaltungsgericht stoppte das Treiben.

Aytaç G. wurde von dem Berliner Johannes Eisenberg und einer jungen Kollegin verteidigt. Den Mandanten versuchte Eisenberg vor öffentlicher Aufmerksamkeit abzuschirmen, als ginge das angeklagte Delikt niemanden außerhalb des Gerichtssaals etwas an. Das Interesse an dem Fall wehrte er so rabiat ab - bis zur Androhung körperlicher Gewalt - als sei die Berichterstattung darüber das weitaus schlimmere Übel als das, was sich im "Eye-T" abgespielt hat. Ob es an den Protagonisten lag, dass die Verteidigung in dem Fall ein wenig überzeugendes Bild abgab?

Im Prozess gegen die Helfer Aytac G.s tat sich der Berliner Rechtsanwalt Eckart Fleischmann mit der Bemerkung hervor, jeder könne schließlich aus dem Fenster springen oder sich zu Tode saufen, wenn ihm danach sei. Und Eisenberg, ein erfahrener Verteidiger in Strafsachen, behauptete allen Ernstes, den Tod des 16-Jährigen habe niemand vorhersehen können. Bei rund 50 Schnäpsen!

Die Staatsanwaltschaft hatte für den Wirt wegen Körperverletzung mit Todesfolge und unerlaubten Alkoholausschanks eine Freiheitsstrafe von vier Jahren gefordert, Eisenberg für "einen milden Richterspruch" plädiert. "Wozu dieser Unfug? Wozu soll eine solche Sauferei eigentlich gut sein?", fragte der Vorsitzende in der Hauptverhandlung ein ums andere Mal. Eine überzeugende Antwort darauf gibt es nicht. Es ist der ganz normale, alltägliche Wahnsinn.

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