Samstag, 18. Juli 2009

Schneller, als Straßburg erlaubt

Aus Straßburg berichtet Florian Gathmann

Als außerparlamentarischer Oppositioneller hat er gern Abgeordnete gepiesackt, jetzt ist Sven Giegold selbst einer: In dieser Woche durfte der Ex-Attac-Wortführer zum ersten Mal im Europaparlament Platz nehmen. Die ersten Tage in Straßburg stellen seine Geduld auf die Probe.

Straßburg - Punkt zehn sitzt Sven Giegold auf Platz 401. Das weite Halbrund des Straßburger Plenums ist an diesem Morgen noch spärlich besetzt, selbst zur Eröffnung der konstituierenden Sitzung haben es die meisten Europaabgeordneten nicht besonders eilig. Giegolds lederner blauer Sessel steht ziemlich mittig in der neunten Reihe, anders als beispielsweise im Bundestag haben die Parlamentarier hier feste Sitzplätze. 401 sei "eine gute Position", wie Giegold findet. Direkt am Gang, man verliert wenig Zeit.

Sven Giegold, 39, nimmt sein neues Abgeordneten-Leben sehr ernst.

So ernst, wie er zuvor sein Leben als Attac-Wortführer genommen hat. Und davor als Umweltschützer in Niedersachsen. Und zwischendurch als Student und Doktorand. Dass manche Attac-Weggefährten seinen Eintritt bei den Grünen und von der außerparlamentarischen in die parlamentarische Opposition als Verrat sehen, kann er nicht verstehen. "Ich wollte immer meine Arbeitszeit nutzen, um politisch etwas zu bewegen."

Nun also als Politiker.

"Ich habe an Möglichkeiten dazugewonnen, und natürlich sehe ich hier die Ambivalenzen. Aber die sehe ich auch bei den sozialen Bewegungen." Er habe sich für seine neue Rolle nicht verändern müssen, sagt der grüne Europaabgeordnete Giegold.

Äußerlich betrachtet ist dem nicht zu widersprechen. Schon als Vorzeige-Ökonom von Attac trug er Hemd, Sakko und seine ergrauenden Haare ordentlich geschnitten. Genau so sitzt Giegold an seinem zweiten Straßburger Tag in der "Blümchenbar", die so wegen des bunten Teppichs unter den Füßen der Parlamentarier, Mitarbeiter und Journalisten genannt wird, und sagt mit einem Espresso in der Hand: "Ich hab Arbeitsstau." Statt stundenlang im Plenum, würde er am liebsten am Rechner sitzen. Papiere lesen, Papiere schreiben, Mails beantworten. "Die Liste der Dinge, die ich machen muss, ist sehr lang."

Spät dran sein, hinterher sein, das mag er nicht.

Aberwitzig viel Zeit verging am Dienstag bei der Konstituierung des Parlaments. Erst war es feierlich, als die Europahymne gespielt wurde, weshalb Giegold nach den ersten Takten seinen Rucksack unter den Tisch schob. Dann wurde es historisch, weil man den Polen Jerzy Buzek zum Nachfolger des scheidenden deutschen Parlamentspräsidenten Hans-Gerd Pöttering wählte. Buzek ist der erste Osteuropäer auf dieser Position. Der Abgeordnete Giegold blieb dennoch sitzen, obwohl auch viele seiner Parteifreunde stehend für den ehemaligen Solidarnosc-Mann applaudierten. "Ich habe ihn zwar gewählt", sagt Giegold, aber einige Positionen des konservativen Polen würden ihm nicht gefallen. Schließlich wurde es unübersichtlich, weil das im Europaparlament dazugehört - und das kostete Zeit: Die Wahl der 14 Vizepräsidenten zog sich bis in den späten Abend, drei Abstimmungsgänge waren nötig.

"Das war eine fürchterliche Warterei", erzählt Giegold später in seinem Büro im fünften Stock des Parlamentsgebäudes. Nach der Mittagspause konnte er die Wartezeit wenigstens nutzen: Der Mann auf Platz 401 klappte im Plenum - wie der eine oder andere MEP auch - seinen Laptop auf.

Giegolds Straßburger Büro ist ein Raum von der Größe eines unterdurchschnittlichen Jugendzimmers, auch ungefähr so eingerichtet. Darin steht ein hölzerner Schreibtisch, an dem Giegolds Mitarbeiter Michael Schmitt arbeitet. Der Abgeordnete selbst sitzt an einem aus dem Schrank herauszuklappenden Holzbrett. Rechts von ihm gibt es noch eine Pritsche, "für Teambesprechungen", wie Schmitt meint. Einleuchtender erscheint die Erklärung, wonach dieses Möbelstück Parlamentariern aus osteuropäischen EU-Staaten, die nach wie vor deutlich weniger verdienen als beispielsweise ihre deutschen Kollegen, als Schlafgelegenheit dient.

Spartanisch ist kein übertriebenes Wort für diese Art Büro, aber damit scheint der MEP Giegold kein Problem zu haben. Vielmehr nerven ihn die technischen Defizite: Der Internet-Anschluss hängt, das Netzwerk zwischen den Büros in Straßburg und Brüssel steht noch nicht. "Geht bei euch das Telefon?". Die Grünen-Kollegin Ska Keller, ebenfalls eine neue Parlamentarierin und Giegolds Büronachbarin, hat offenbar noch elementarere Probleme.

Was Giegold am meisten stresst - und was er von Daniel Cohn-Bendit lernen kann

Beinahe die Hälfte der 736 Europaabgeordneten ist neu. In Brüssel, wo die Parlamentarier den Großteil der Zeit verbringen, haben die Fraktionen bereits getagt. Nun müssen sich die rund 350 Frauen und Männer in Straßburg zurechtfinden, hier kommt das Parlament nur einige Tage pro Monat zusammen. Das kostet Zeit und Kraft. "Am meisten stresst mich hier das Gebäude", sagt Giegold. Ohne seinen Mitarbeiter Schmitt, der schon fünf Jahre für einen Grünen-MEP gearbeitet hat, wäre er hier verloren.

Nach seinen ersten Straßburger Tagen spricht Giegold von einer "allgemeinen Situation der Unübersichtlichkeit". Dazu gehört, dass er es am Montagnachmittag auf den letzten Drücker zur ersten Grünen-Fraktionssitzung schaffte, weil sein Zug umgeleitet werden musste. Am Morgen darauf war Giegold wieder spät dran war, weil er den Busfahrplan falsch gelesen hatte.

Manches dagegen funktioniert schon ganz gut: Beispielsweise das erste Treffen Giegolds mit seinen Arbeitsgruppen-Kollegen für den Beschäftigungs- und Sozialpolitik-Ausschuss. Noch besser lief es in der Arbeitsgruppe für den Wirtschafts- und Währungspolitik-Ausschuss: Dort ist er nun sogar Koordinator. "Ich habe mich mit Pascal Canfin geeinigt", sagt Giegold. Canfin ist grüner Neu-MEP aus Frankreich und wäre auch gern Koordinator geworden.

Ein erster Erfolg für Giegold.

Möglicherweise wird sich das eine oder andere Arbeitsgruppen-Mitglied über Giegold und dessen Arbeitstempo wundern. "Ich habe schon einen ziemlich hohen Anspruch an mich", sagt er bei einem schnellen Sandwich am Mittwochnachmittag. Obwohl ihm durchaus klar sei, "dass ich nicht gleich große Räder drehen kann". Aber beispielsweise beim Thema Steueroasen will er schon mitdrehen.

Große Räder bewegen sich in Brüssel und Straßburg ohnehin langsam, und dann eher knarrend und knarzend. Davon kann Daniel Cohn-Bendit eine Menge erzählen. Der Grünen-Fraktionschef, Anführer der Studentenbewegung in den Sechziger Jahren und Weggefährte von Joschka Fischer, sitzt seit 15 Jahren im Europaparlament. Wenn der Deutsch-Franzose Fraktionssitzungen leitet, tut er das mit großer Milde, anders als der öffentlich oft polternde und polemisierende Cohn-Bendit. Was vor Giegold liege, sei der "Weg von der außerparlamentarischen 'Ich weiß Bescheid'- zur 'Ich mache Kompromisse'-Haltung". Cohn-Bendit muss über diesen Satz ein bisschen lachen, weil er ja auch seinen eigenen Weg beschreibt. "Das sind Lernprozesse, die man machen muss."

Zu den Lernprozessen für Sven Giegold gehört auch, dass er sich ziemlich viel Mist anhören muss. Das stresst ebenfalls. Giegold ist unter anderem deshalb ein gern gesehener Talkshow-Gast, weil er Ahnung von Finanzmärkten und Wirtschaft hat. Den "Green New Deal", mit dem die Grünen in Europa genauso wie im Bundestagswahlkampf für eine Verknüpfung von Ökologie und Ökonomie werben, hat er mit geprägt. "Das Niveau der Diskussion über die Finanz- und Wirtschaftskrise war unsäglich", sagt Giegold nach der Plenardebatte am Mittwochvormittag. Die scheidende tschechische Ratspräsidentschaft hatte sich dort verabschiedet, die neue schwedische vorgestellt.

"Richtig platt" sei er nach den ersten Parlamentstagen, sagt Sven Giegold und beißt in das letzte Stück Sandwich. Dann muss er auch schon wieder los.

Am Montag zieht die Karawane nach Brüssel, dort kommen die Ausschüsse zum ersten Mal zusammen. Und dazwischen? "Werde ich mit meiner Freundin und deren Oma nach Köln fahren", sagt Giegold. "Das haben wir ihr zum 91. Geburtstag geschenkt." Also ein Wochenende ohne Arbeit? "Na ja, in meine Mails werde ich zwischendurch schon schauen und ein bisschen telefonieren."

Er will nicht hinten dran sein, wenn es in Brüssel weitergeht.

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