Von Jörg Diehl
Es war das furchtbare Ende eines Routineeinsatzes: Mit mindestens zwölf Schüssen töteten Ende April zwei Regensburger Polizisten den Musikstudenten Tennessee Eisenberg. Die Beamten hätten in Notwehr gehandelt, hieß es zunächst, doch die Angehörigen des Opfers haben Zweifel.
Hamburg - Es scheint, als habe Tennessee Eisenberg zweimal gelebt, ehe er starb.
Es gab Tennessee den Träumer, einen Künstler und Musikstudenten, ein "Sternenkind", wie sein Vater schrieb. Groß und schlank, mit langen, schwarzen Haare, sanften, braunen Augen, ein Pazifist und Asket, den seine Mutter nach ihrem Lieblingsschriftsteller Tennessee Williams genannt hatte und den sein Bruder als "nachdenklich" und "liebevoll" beschreibt.
Und es gab Tennessee Eisenberg, einen 24-jährigen Regensburger, der am Vormittag des 30. April seinen Mitbewohner derart massiv mit einem Messer bedroht haben soll, dass dieser die Polizei rief. Ein "Aggressor", der "trotz mehrmaliger Aufforderung" der Beamten die Waffe in seiner Hand nicht fallen ließ, weshalb es "zu einem polizeilichen Schusswaffengebrauch" gekommen sei, wie die Staatsanwaltschaft noch am selben Tag amtlich-nüchtern erklärte.
An diesem verhängnisvollen Mittwochmorgen nämlich hatte Tennessees Mitbewohner, der ebenfalls die Musikfachhochschule in Regensburg besuchte, von einem benachbarten Sonnenstudio aus den Notruf gewählt. Er "teilte den Beamten mit, dass er die Hilfe der Polizei benötige, da ihn sein Mitbewohner mit einem Messer bedroht habe", hieß es in der behördlichen Mitteilung.
Daraufhin rückten acht Beamte, darunter zwei Zivilfahnder, zu dem Mehrfamilienhaus in der Schwandorferstraße 11 aus. Nach der Darstellung des bayerischen Innenministers Joachim Herrmann (CSU), die sich auf die Aussagen von sechs der beteiligten Polizisten stützt, klingelte der Trupp an der Wohnung im ersten Stock und drückte schließlich, als niemand öffnete, die nicht richtig verschlossene Tür auf.
"Ja, dann schießt doch!"
Noch ist der tatsächliche Ablauf der weiteren Geschehnisse in Regensburg-Steinweg nicht genau geklärt, doch nach den Aussagen der Beamten soll sich in etwa Folgendes abgespielt haben: Die Polizisten trafen in der Wohnung auf den mit einem Messer bewaffneten Eisenberg, der sie die Treppe wieder hinunter drängte.
Die Beamten hätten den Studenten wiederholt gewarnt, dass sie schießen würden, sollte er das Messer nicht fallen lassen, hieß es. Eisenberg aber soll sie ausgelacht haben: "Ja, dann schießt doch!" Im Erdgeschoss dann habe der Student einen 33-jährigen Zivilfahnder und Polizeihauptmeister derart massiv bedroht, dass dessen Kollegen feuern mussten.
Obschon der Trupp auch mit Schlagstöcken und Pfefferspray ausgerüstet war, gaben die Polizeihauptmeister Christian M., 33, und Klaus B., 40, insgesamt 16 Schüsse auf den schmächtigen Eisenberg ab. Mindestens zwölf Geschosse trafen den 1,84 Meter großen und gerade einmal 70 Kilogramm schweren Musiker, darunter auch drei Kugeln, die von hinten in Rücken, Knie und linken Oberschenkel des Opfers einschlugen.
Eine Stunde später war Tennessee Eisenberg tot.
"Die Art und Weise, in der der Polizeieinsatz eskalierte, ist auch für mich immer noch nicht begreifbar", sagte Innenminister Herrmann und kündigte eine umfassende Aufklärung des Geschehens an. Eine Grünen-Abgeordnete sprach von "sehr, sehr vielen Fragezeichen", während ein Abgeordneter der Freien Wähler sich im Innenausschuss des Landtages dazu hinreißen ließ, die Todesschüsse eine "Hinrichtung" zu nennen. Als ob ein solch drastisches Wort eine Erklärung sein könnte.
Für die Angehörigen des Getöteten, bislang nur spärlich unterrichtet, bleibt das Geschehen vollkommen unerklärlich. Ihr friedliebender, nachdenklicher Tennessee, der nicht trank und keine Drogen nahm, soll ein wütender Messerstecher gewesen sein, der auf seinen Mitbewohner und auf Polizisten losging? "Ich kriege das nicht zusammen", sagte der Bruder des Opfers, Benedict "Ben" Eisenberg, 22, SPIEGEL ONLINE. "Was ist da nur passiert?"
Wer hat versagt?
Zwar habe sich das Leben seines Bruder bereits seit Wochen in einer Umbruchphase befunden und er die Musik zugunsten der Schauspielerei aufgeben wollen, doch sei das "keine Krise" gewesen, eher eine "Neuorientierung". Er habe Tennessee noch am Vortag besucht, "da ging es ihm deutlich besser", so Benedict. Überhaupt sei sein Bruder niemals wegen psychischer Probleme behandelt worden oder in dieser Hinsicht auffällig gewesen.
Der Abiturient und seine Familie wollen, sie brauchen Klarheit darüber, wie und weshalb Tennessee Eisenberg starb. Wieso schossen die Beamten, warum so oft und gab es für sie wirklich keine Alternative? Kurzum: Wer hat versagt?
"Die Aussagen der Polizisten weichen in wichtigen Fragen entscheidend voneinander ab. Es bestehen heftige Zweifel an der behaupteten Notwehrsituation", sagt der vom Vater des Verstorbenen engagierte Regensburger Rechtsanwalt Helmut von Kietzell. Auch sei das in Erlangen erstellte vorläufige rechtsmedizinische Gutachten "in mancher Hinsicht nicht ganz nachvollziehbar", weshalb man eine Nachobduktion veranlasst habe, die an diesem Dienstag durchgeführt werden solle.
Die Staatsanwaltschaft, die gegen die beiden Schützen wegen Totschlagsverdacht ermittelt, soll inzwischen die in der Sache vielleicht entscheidende ballistische Expertise des Bundeskriminalamts erhalten haben. Die Ermittlungen würden "in absehbarer Zeit" abgeschlossen, sagte der Leitende Oberstaatsanwalt Günther Ruckdäschel SPIEGEL ONLINE. Bis dahin werde man keine weiteren Angaben zu Sache mehr machen.
Benedict Eisenberg, der die Wahrheit sucht und noch hofft, dabei auch Gerechtigkeit zu finden, fühlt sich seinem Bruder verpflichtet: "Ich will nicht, dass Tennessee als Irrer dargestellt wird. Und ich weiß, er täte dasselbe für mich."
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