Von Gisela Friedrichsen, München
Im Fall Brunner hat das Gericht einen Mitschnitt der tödlichen Schlägerei abgespielt - das spätere Opfer droht den Angeklagten, die reagieren mit wüsten Beschimpfungen. Das Tondokument, aufgezeichnet von Brunners Handy, ist in einem Verfahren voller Widersprüche einer der wenigen belastbaren Belege.Mitschnitte von Tatgeschehen sind stets hochdramatisch. Der Zuhörer sieht nichts, aber er hört Schreie, Stöhnen, Ächzen, durcheinander, gleichzeitig, helle Stimmen, dunklere Töne, Hintergrundgeräusche. Er glaubt, dabei zu sein, fühlt sich mitten im Geschehen. "Oan' derwischt's jetzt" - die Stimme des späteren Opfers, hoch erregt. Dann, wieder das Opfer: "I nimm oan' mit", einmal, zweimal, dann wieder: "I nimm oan' mit!". Und noch einmal "I nimm oan' mit!" Dazwischen einer der Täter: "Komm her, Mann, du Dreckschwein! Du Sau!"
Wüste Beschimpfungen folgen. "Du Bastard!", "Motherfucker", "Wichser", das übliche Vokabular, "Arschloch", überlagert von grellen Schreien: "Hört's auf!", "Aufhören!".
Die Tonqualität ist erbärmlich. Der Mitschnitt stammt von Dominik Brunners Handy, das er angeschaltet am Körper trug, als die Auseinandersetzung mit den nun wegen Mordes angeklagten Markus Sch., 19, und Sebastian L., 18, auf dem Münchner S-Bahnhof Solln am 12. September 2009 stattfand. Das Gerät schabte am Stoff, der Ton rauscht und kratzt, dann wieder die erregten Stimmen. Und immer wieder dazwischen die roboterhafte Stimme des Polizeinotrufs "Bitte legen Sie nicht auf" - piep - "Bitte legen Sie nicht auf" - piep. Wer in Not ist und Hilfe braucht, gibt da jede Hoffnung auf.
Dass der Zeugenbeweis ein höchst unzuverlässiger ist, weiß man nicht erst seit dem Brunner-Prozess, der zurzeit vor der Jugendkammer des Landgerichts München I geführt wird. Doch dass so viele Zeugen sich widersprechende, ja zum Teil sich ausschließende Angaben vor Gericht machen wie in diesem Fall, ist auffallend.
Zeugen, die sich Vorwürfe machen, an jenem 12. September 2009 an der S-Bahn-Haltestelle München-Solln vielleicht nicht so gehandelt zu haben, wie es angebracht gewesen wäre, wollen nun wenigstens vor Gericht besonders gute Zeugen sein. Manche weinen, wenn sie Reaktionen von Passanten schildern, die angeblich unbeteiligt weggingen, obwohl eine ganze Reihe von Notrufen abgesetzt wurde. Andere füllen Lücken oder Unverstandenes in ihrer Erinnerung mit dem auf, was sie in den Zeitungen gelesen und im Fernsehen gesehen haben, zum Teil sogar wörtlich.
Erstaunlich, was da ausgesagt wurde
Einige Zeugen berichten von Wahrnehmungen, die sie gar nicht gehört oder gesehen haben können, sie schildern wortreich Abläufe, die anders gewesen sein müssen. Eine Arzthelferin etwa war sich am Montag sicher, dass die S-Bahn, mit der Brunner und die vier Schüler gekommen waren, schon wieder abgefahren gewesen sei, als die Schlägerei anfing. Doch mehrere Zeugen, die mit dieser S-Bahn weiterfuhren, haben in der vorigen Woche detailliert beschrieben, welche Schläge sie aus dem Zug heraus genau hatten sehen können. Was stimmt?
Die Zeugen lügen nicht - nein, sie sind von der Geschichte, die sie erzählen, fest überzeugt. In ihrem Gedächtnis hat sich eine Version des Geschehens eingenistet, die ihr Bild von sich selbst sowie von Gut und Böse schützt und stärkt. Die Täter hätten "gelächelt", sagt die Arzthelferin, sie habe erst gedacht, es gehe um Spaß. Was will dieser Herr mit den Jugendlichen? An einen eiskalten, verachtungsvollen Blick eines der Täter erinnert sich ein anderer Zeuge. Hat Brunner sich noch gewehrt, als er schon am Boden lag? Ja, mit Händen und Füßen, berichten mehrere Zeugen. Andere sagen: Nein, er hat sich überhaupt nicht mehr bewegt. Nein, er sei auch nicht mehr aufgestanden, er habe das gar nicht mehr gekonnt. Doch, sagen andere, er habe kurz noch nach seiner Brille gegriffen. Er sei aufgestanden und zusammengesackt. Was stimmt?
Überraschend andere Zeugenaussagen waren nun zu Wochenbeginn zu vernehmen. Wir schreiben inzwischen den achten Verhandlungstag, als ehemalige Lehrer, Psychologen, Betreuer und Sozialpädagogen, die mit den Angeklagten Sebastian L. und Markus Sch. in den vergangenen Jahren zu tun hatten, vor Gericht auftraten. Es war erstaunlich, was da ausgesagt wurde - und wie wenig darüber berichtet wurde.
So brutal die Tat wohl gewesen war, die vermutlich den Tod des 50 Jahre alten Dominik Brunner bewirkt hat - so wenig passen dazu die Charakterbeschreibungen der Angeklagten durch jene Personen, die von Berufs wegen täglich mit der Vielfalt des Verhaltens junger Menschen zu tun haben. L. und Sch. seien stille, unauffällige junge Burschen gewesen, nie durch aggressives Verhalten auffallend, eher verschlossen, zurückhaltend, ja scheu. Keine Intensivtäter, keine Schläger, keine Draufgänger also, wie die Anklage vermuten lässt, sondern depressive, mutlose Personen ohne Perspektive und Initiative. Nicht "Killer", die manche Medien aus ihnen machen, sondern gescheiterte Existenzen, die erst jetzt zu begreifen scheinen, wohin sie ihre Disziplinlosigkeit, ihr Widerstand gegen jede Art von Bevormundung und ihre Regelverstöße gebracht haben, von ihrem Ausweichen in Drogen und Alkohol ganz zu schweigen.
"Wie kommt L. denn im Jugendgefängnis klar?" fragt der Vorsitzende Richter eine Gefängnismitarbeiterin, die einen Führungsbericht über den jüngeren der Angeklagten verfasst hat. "Wir konnten uns erst überhaupt nicht vorstellen, dass dieser kleine Junge, der so im Hintertreffen ist, einer von denen aus Solln sein soll. Die Mitgefangenen stürzten sich erst auf ihn wegen seiner 'Prominenz'. Aber sie merkten bald, als Gangster-Kollege eignet er sich doch nicht."
"Er war jemand, der sich eingemischt hat"
Als wäre die Nachricht, dass die Angeklagten offenbar bis zu dem Vorfall im vergangenen September nicht jene aggressiven Brutalos gewesen sind, als die sie bis zum Prozess dargestellt wurden, dem Andenken an Brunner abträglich, meldeten die Münchner Zeitungen am Dienstag als wichtigste Information, dass Brunners 80-jähriger Vater erkrankt sei und an dem Strafverfahren fortan nicht mehr teilnehmen werde, auch nicht als Zeuge. Allerdings hatte er bereits im Ermittlungsverfahren angekündigt, dass er dafür nicht zur Verfügung stehen werde, was sein gutes Recht ist.
So erfuhr man aus der verlesenen Aussage des Vaters und aus der am Dienstag vor Gericht gemachten Zeugenaussage der früheren Lebensgefährtin des Toten, dass Dominik Brunner ein "Cineast" gewesen sei und an Literatur interessiert, dass er laut Vater früher einmal Kampfsport betrieben, laut Lebensgefährtin hingegen nur einen Selbstverteidigungskurs absolviert, mit Kampfsport aber nichts zu tun gehabt habe. Beruflich sei er "sehr eingebunden" gewesen; über "sehr viel Arbeit" habe er häufig geklagt.
Von einer Herzerkrankung Brunners, der jede Woche tausend Meter zu kraulen pflegte, war den ihm nahestehenden Personen offenbar nichts bekannt. "Er war schon jemand gewesen, der sich eingemischt hat", sagt die ehemalige Freundin vor Gericht, "aber immer nur verbal." Von körperlichen Auseinandersetzungen sei ihr nichts bekannt. "Wenn er meinte, jemand strahle Angst aus, dann hat er relativ schnell die Spannung rausgenommen," so die Zeugin.
Den am Tatort wenige Minuten nach der Tat eintreffenden Rettungskräften fiel damals gleich auf, dass offenbar die rechte Herzkammer des am Boden liegenden, blau angelaufenen und bewusstlosen Mannes nicht funktionierte, da seine Halsvenen entsprechend gestaut waren. "Das ist eher untypisch für eine Schlägerei", sagte ein Rettungssanitäter als Zeuge. Äußere Verletzungen seien, außer zwei kleinen Blutungen an der Stirn, nicht zu sehen gewesen. Ein erster "Body-Check" habe nichts ergeben. "Bei so einem Meldebild - nämlich Hiebverletzungen - passt das eigentlich nicht. Da hätte man zumindest eine blutende Nase erwartet." Auch Verformungen des Brustkorbs seien nicht zu sehen gewesen.
Eine Stunde lang versuchte man damals noch am Tatort, Brunner zu reanimieren. Sein Herz fand jeweils für einen kurzen Moment einen Rhythmus, setzte dann aber wieder aus. Der Notarzt sah auch sofort die gestauten Halsvenen und stellte Nasenbluten fest. Nachdem Passanten von Schlägen und Tritten sprachen, hielt er jedoch auch ein Schädel-Hirn-Trauma für möglich. "Da man, als wir kamen, leicht drücken konnte, waren wohl durch die Reanimation schon Rippen gebrochen", sagte der Arzt als Zeuge.
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