Tatort Bus und Bahn
Der Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN), Christian Pfeiffer
Gewaltexzesse, verübt von Jugendlichen, scheinen sich zu häufen. Aber die Medienberichte zeigen nicht die ganze Wirklichkeit, sagt Professor Christian Pfeiffer vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen.
DW-WORLD.DE: In der vergangenen Zeit haben sich zumindest in den Medien Berichte über Jugendgewalt gehäuft, bei denen Opfer krankenhausreif oder gar zu Tode geprügelt und getreten werden. Und das oft direkt vor den Überwachungskameras. Hat die Jugendgewalt stark zugenommen?
Christian Pfeiffer: Wir können in Bezug auf das letzte Jahr noch nichts Genaues sagen, weil die Polizei die Statistiken noch nicht veröffentlicht hat. Unsere im Dunkelfeld erhobenen Daten aus den Jahren 1998 bis 2008 geben Hinweise darauf, dass die Jugendgewalt stabil bis leicht rückläufig ist. Jedenfalls da, wo wir geforscht haben. Dort gab es nur wenige Ausnahmen, wo Jugendgewalt zugenommen hatte.
Unsere Wahrnehmung, dass wir aufgrund der Medienberichte eine Zunahme vermuten, stimmt also nicht?
Unsere Daten bis zum Jahr 2009 belegen keine Zunahme. Im Gegenteil: An den Schulen hatten wir einen Rückgang. Im Vergleich zu den Zahlen von 1997 haben schwere Gewaltvorfälle, die für das Opfer im Krankenhaus endeten, bis 2007 um 44 Prozent abgenommen. Bei der Tötungsrate sind es zwölf Prozent weniger. Und auch die gefährlichen bis schweren Körperverletzungen sind nach Erkenntnissen der Polizei 2009 im Vergleich zum Vorjahr zurückgegangen. Angestiegen sind allerdings die Medienberichte. Wir bewerten das sehr positiv, wie sensibel vor allem über die Opfer solcher Vorfälle berichtet wird.
Ein zweiter Eindruck: Bei den Tätern scheint es sich überproportional um männliche Jugendliche mit Migrationshintergrund zu handeln – stimmt das mit der Datenlage überein?
Wenn wir Migranten und Deutsche mit gleichem sozialen Hintergrund vergleichen, die beispielsweise die Realschule besuchen, deren Familie nicht von Armut betroffen ist, die auch von ihrem Wertekonzept vergleichbar aufgewachsen sind, dann haben wir die selben Gewaltraten. Aber die Beobachtung ist auch richtig, denn statistisch betrachtet, begehen junge Migranten weit häufiger Gewaltdelikte als junge Deutsche. Das beruht unter anderen darauf, dass sie häufiger auch familiärer Gewalt ausgesetzt sind, viel häufiger in sozial schwachen Familien aufwachsen und auch im Bildungssystem massiv benachteiligt sind. Bei einem Projekt in Hannover beispielsweise haben engagierte Bürger türkischen Jugendlichen kostenlos Nachhilfeunterricht erteilt. Dort machen nun fast 70 Prozent den Realabschluss oder Abitur. Ihr soziales Netzwerk und ihre schulischen Perspektiven haben sich so positiv verändert. Die Quote die Mehrfachtäter von Jugendgewalt ist seit 1998 um die Hälfte zurückgegangen.
Auffällig ist auch die maßlose Gewaltanwendung: Das Opfer liegt bereits hilflos auf dem Boden und trotzdem wird mit höchster Brutalität nachgetreten. Koppeln sich die Täter von der Realität ab, von den Folgen für das Opfer? Und ist das möglicherweise eine Folge des Medienkonsums, von Computerspielen und Filmen, in denen exzessive Gewalt zelebriert wird und die Konsequenzen keine Rolle spielen?
Szene aus dem Computerspiel Mortal Kombat mit zwei Kämpfern (Foto: AP)Bildunterschrift: Großansicht des Bildes mit der Bildunterschrift: Virtuelle Gewalt mit Trainingseffekt: Computerspiel "Mortal Kombat"
Das können wir mit unserer Analyse 2007/08 bestätigen. Wir haben 45.000 Jugendliche befragt und die Auswertung zeigt: Man wird zwar nicht direkt zum Amokläufer oder Gewalttäter, weil man brutale Computerspiele spielt, aber das Risiko von Gewalttaten erhöht sich bei denen, die sich durch tägliche Nutzung solcher Gewaltspiele die Sensibilität für die Leiden der Opfer nehmen und so schrittweise seelisch abstumpfen.
Sind die Höhe und die Anwendung der Strafen aus Ihrer Sicht ausreichend?
Das Wichtigste ist das Risiko des „Erwischtwerdens“. Und da ist das Risiko gerade auf dem höchsten Stand, den wir je hatten, weil heute mehr als Dreiviertel der Gewalttaten aufgeklärt werden. Das schreckt ab. Ob dann nun drei oder fünf Jahre Jugendvollzugsanstalt auf die Täter warten, ist den Jugendlichen völlig egal. Es geht darum, ob man erwischt wird oder nicht. Daher ist der Staat in dieser Hinsicht auf einem guten Kurs. Verbessern könnte er sich bei der Prävention: Vor allem an Schulen gibt es keine Nachmittagsangebote, die Jugendliche vom stundenlangen Computerspielen abhalten oder davon, einfach auf der Straße rumzuhängen.
Das Interview führte Michael Gessat.
Redaktion: Nicole Scherschun
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