Sonntag, 7. Februar 2010

"Sie haben uns ausgenutzt"

Der Skandal um Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland weitet sich aus. Die Zahl möglicher Fälle ist bundesweit noch viel größer als bislang angenommen: Eine Umfrage des SPIEGEL bei allen 27 deutschen Bistümern ergab, dass seit 1995 mindestens 94 Kleriker und Laien unter Missbrauchsverdacht geraten sind. Zum Epizentrum des Skandals entwickelt sich das Berliner Canisius-Kolleg. Dort wurden die ersten Missbrauchsfälle öffentlich, täglich melden sich neue Betroffene. Der 54-jährige Ansgar Hocke war Zögling des Kollegs. Er selbst wurde zwar nie Opfer oder Zeuge sexueller Übergriffe, doch beschreibt er im Folgenden die teils düstere Atmosphäre an der kirchlichen Einrichtung:
 
Die Wut, nicht der Hass, sie löst sich nicht auf, sie wächst: Die öffentlichen Aussagen der zwei Täter Wolfgang S. und Bernhard E., mit denen ich Tage, Wochen, Monate meiner freien Zeit in der katholischen Jugendarbeit verbracht habe, mit denen ich als junger Mensch befreundet war, schockieren mich. Es geht dabei nicht um die Schwere oder das Ausmaß der Taten, die kann und will ich nicht einschätzen. Es geht darum, mit welchen Ansprüchen sie auftraten und was sie auf uns abluden. Meinen Glauben tangiert es schon gar nicht. Ich verweigere mich auch all den Unterstellungen, uns allen ginge es um einen Generalverdacht gegen die katholische Kirche und den Jesuitenorden. Es waren eben keine frömmelnden Himmelspiloten, es waren unsere Seelsorger.
 
Ich erinnere mich auf einmal wieder an Nachmittage, da war ich mit einem von ihnen im Wohntrakt des Berliner Canisius-Kollegs verabredet. Wir gingen an den alten dunklen rustikalen Möbeln vorbei. Jedes Mal war mir mulmig zumute in dieser Umgebung. Gemeinsam mit Wolfgang S. und Bernhard E. fuhr ich auf ein Dutzend Ferienlager und Seminare. Ich war knapp 18 Jahre alt. Eltern baten mich, auf einer Reise mit Schülern dabei zu sein.
 
Wir ahnten nichts. Wir hielten Wolfgang S. für ein wenig verklemmt, verschroben, aber er war nach außen kein Monster, das Potential seiner sexuellen Gewalt erahnten wir nicht. Dabei hätten wir es schon ahnen müssen.
 
Die Zeit der Patres in Soutane, die rumbrüllten, stockkonservativ den Katechismus als alleinige Richtschnur ansahen, lief Mitte der Siebziger langsam aus, so dachten jedenfalls viele Schüler am Canisius Kolleg damals. Vorbei die Sprüche: 'Das Kolleg, die letzte Bastion vor Russland', was einige Patres riefen. Oder: 'Macht der Schüler quatsche-quatsche, macht der Pater patsche-patsche'. Mitte der siebziger Jahre war Aufbruch, jetzt kamen die jungen, sportlichen Patres, so dachten viele. Wir sahen nicht, wie krank, wie labil Wolfgang S. und Bernhard E. waren. Einige von uns heulten sich auf einer Jugendfahrt nächtelang die Seele aus dem Leib. Wir fragten, warum, und erhielten keine Antwort.
 
Heute wissen wir, warum.

Wolfgang S., Bernhard E. und Pater R. waren offensichtlich eingesperrt in die Leib- und Sexualfeindlichkeit des Keuschheitsgelübdes. Sie konnten ihre Gefühle selbst nicht verstehen, aber die Leitung des Jesuitenordens hätte erkennen müssen, wen sie da in die Jugendarbeit schickten.

"Ich vertraute ihm ganz und gar"
 
  • Es gab offensichtlich keine Anlaufstelle, keine Supervision, alles war dem Zufall überlassen. Mit Wolfgang S. fuhr ich mit 15- und 16-jährigen Schülern des Canisius-Kollegs durch das Baskenland. Wir erfuhren etwas über die Unterdrückung dieses Volkes durch das Franco-Regime. Ich vertraute ihm ganz und gar, war begeistert von seinem Engagement für Folteropfer. Er passte in meine Vorstellung von einem Jesuiten.
  • Denn mit den weltoffenen, liberalen Jesuiten war ich aufgewachsen: Freunde meines Vaters, die alle zusammen im kirchlichen Widerstand gegen die Nazis aktiv gewesen waren. Wie sollte ich da diesen Jesuiten misstrauen? Wir fanden das Engagement von Wolfgang S. für die chilenischen Flüchtlinge in Berlin und für unsere offene Jugendarbeit toll. Doch er missbrauchte unser Vertrauen und das unserer Eltern. Unverantwortlich, dass die deutsche Provinz der Jesuiten ihn uns als geistlichen Leiter der Jugendarbeit zuteilte. 
  • Doch noch schlimmer war, dass Pater Bernhard E. aus Hannover 1976 sein Nachfolger wurde. Wir hatten einiges über seine Prügel-Exzesse gehört, aber keine Beweise. Die meisten von uns waren noch nicht volljährig, was sollten wir tun? Wir wehrten uns dagegen, dass er unser Jugendseelsorger werden sollte. Doch unsere Einsprüche wurden nicht gehört.
    Priester als ewig pubertierende Erwachsene

    Jeder Fall muss anders betrachtetet werden, ich wehre mich gegen Pauschalurteile. Warum aber konnte Pater R. neun Jahre isoliert von seinen Ordensbrüdern, Lehrern und Eltern agieren? In den von ihm benutzten Räumen herrschte Chaos, manchmal ging im sogenannten "Behandlungszimmer" die Tür nicht mehr richtig auf. R. war ein ewig pubertierender Erwachsener, der sich an Pubertierenden, Unmündigen verging. Er war ein krankhafter Einzelgänger, aber die Ordensstruktur deckte ihn.

    Er verknüpfte seine Taten mit Symbolen des Glaubens: Am Karfreitag, bei einer Kreuzwegstation, konfrontierte er die Schüler mit dem Bild einer nackten Frau, das er abgedeckt hinterlegt hatte. Es gab Fragebögen zur Sexualität mit harten Bildern geschmückt, um Schüler zu testen. Viele von uns waren Gruppenleiter, verantwortlich für die Jüngeren, und wir lebten damals schon anders als es die Amtskirche von uns verlangte. Meilenweit entfernt von jenem 6000 Worte umfassenden Papier, das zu Beginn des Jahres 1976 die katholische Kirche in Rom vorgelegt hatte: die 'Erklärung zu einigen Fragen der Sexualethik'. Nur die Zeugung menschlichen Lebens rechtfertigte nach Ansicht der Bischöfe die gegenseitige Hingabe.

    Die Kluft zwischen den Ansprüchen des Kirchenapparates und unserem Alltagsleben wurde immer größer. Wir durchbrachen Tabus und setzten uns ganz offen mit unseren sexuellen Bedürfnissen auseinander. Der voreheliche Geschlechtsverkehr widersprach für uns nicht der christlichen Lehre. Die jüngeren katholischen Priester der Jugendarbeit sahen, wie wir lebten. Wir lebten anders als es die Weisungen der Kirche vorsahen, Inhalt und Sprache dieses Dokuments verstanden wir nicht.

    "Ihre Perversitäten blieben uns verborgen"

    Wir hatten das Beispiel der Pillen-Enzyklika vor Augen und wussten doch längst, wie wenig die Worte aus Rom Richtschnur für den Alltag waren. Die Amtskirche hatte kein Verständnis für uns, und wir setzen die Hoffnung in die Jugendpfarrer. Dass diese aber völlig überfordert waren, orientierungslos mit ihrer eigenen Sexualität im Orden lebten, das sahen wir nicht. Es rechtfertigt aber auch nichts, denn diejenigen, die nicht 'enthaltsam' leben wollten, heirateten, verließen den Orden. Sie schrieben uns Abschiedsbriefe, in denen stand: 'Ich bin zur Einsicht gekommen, das zölibatere Leben aufzugeben, das bedeutet unter den gegebenen Umständen leider noch, dass ich aus dem Priesteramt ausscheiden muss.'

    Das Recht auf sexuelles Glück muss Teil des menschlichen Glücks sein. Das war unser Postulat, und wir wussten, dass die jungen Priester davon ausgeschlossen waren. Wir sahen oft ihre Hilflosigkeit. Ihre Perversitäten, ihre Komplexe blieben uns verborgen, andere litten darunter auf grausame Art und Weise.

    Die Priester glaubten felsenfest, mit ihrer theologischen Kompetenz über Gut und Böse menschlicher Sexualität urteilen zu dürfen. Sie hätten nie Pädagogen werden dürfen. Die Kirche litt noch in den siebziger Jahren an einer 'Masturbationspsychose'. Sie war den ewig gestrigen Sprüchen verfallen, Onanie verursache verkrüppelten Rücken und Schwachsinn. Zwar galt die Selbstbefriedigung nicht als Sünde, aber ein 'freiwilliger Gebrauch der Geschlechtskraft, außerhalb der normalen ehelichen Beziehungen, sei seiner Zielsetzung' nicht entsprechend.

    Nach dem Katechismus wurde und wird die Masturbation als eine falsche Handlung gebranntmarkt. Somit wurde das Kennenlernen des eigenen Geschlechts als teilweise doch sündhaft abgetan. Dies und nichts anderes glaubte der geistliche Nachwuchs, und er hatte uns in diesem Sinne zu unterweisen.

    Das Schlimme ist: Wolfgang S. und Bernhard E. spielten die modernen Priester. Sie gaben vor, uns zu verstehen. Letztendlich aber warteten sie darauf, unbewusst oder bewusst, ihr nächstes Opfer zu erwischen.

    Sie haben uns ausgenutzt. Und wir haben das Leid der Täter nicht sehen können, dafür waren wir zu jung."
     
    Aufgezeichnet von Peter Wensierski
 

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