Donnerstag, 24. September 2009

Madagaskar: Steinbruch statt Schule

Armut zwingt zwei Millionen Kinder zur Arbeit

Von Fanja Saholiarisoa

Antananarivo. Jeannine Raheriniaina arbeitet im Steinbruch von Ambalakely im Süden von Madagaskar. Von frühmorgens bis spätabends zerschlägt sie für einen Hungerlohn Felsbrocken zu Schottersteinen für die heimische Bauwirtschaft. Auch ihre vier Kinder schuften in der Steingrube, zusammen mit über hundert anderen Minderjährigen. Für sie und die rund zwei Millionen madagassische Kinderarbeiter bleibt für die Schule keine Zeit, denn ohne ihren Verdienst haben viele Familien nicht genug zum Leben.

In der Inselrepublik vor der Ostküste Afrikas hat der politische Machtkampf zwischen dem amtierenden Staatspräsidenten Andry Rajoelina und seinem entmachteten Vorgänger Marc Ravalomanana eine schwere wirtschaftliche und soziale Krise ausgelöst. Fast 70 Prozent der 20,6 Millionen Madagassen müssen mit als einem US-Dollar pro Tag auskommen.

Auch die vierfache Mutter Raheriniaina käme ohne die Mithilfe ihrer Kinder nicht über die Runden. "Sie kommen freiwillig mit, denn sie wissen, wie schlecht es ihren Eltern geht", versichert sie. Doch ihr siebenjähriger Sohn Mamitiana klagt über die Schwerarbeit, die von ihm verlangt wird: "Meine Mutter ist erst zufrieden, wenn ich ihr täglich zwei Säcke Schotter abliefere."

Wie aus einer Untersuchung hervorgeht, die das Kinderhilfswerk UNICEF, die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) und das madagassische Nationale Statistikamt (INSTAT) gemeinsam durchgeführt hatten, werden auf dem afrikanischen Inselstaat vor der Küste Mosambiks 1,8 Millionen Fünf- bis 17-Jährige als Tagelöhner in teilweise gefährlichen Jobs beschäftigt, meist in Steinbrüchen, in Fischfabriken oder als Hilfe im Haushalt. Kaum einer von ihnen hat die Chance, die Grundschule zu besuchen. Obwohl internationale und Landesgesetze Kinderarbeit verbieten, zwingt die Armut die Familien, den Nachwuchs als Mitverdiener arbeiten statt lernen zu lassen.

Für Madagaskars Öffentlichkeit ist Kinderarbeit kein Thema. Erst der Leidensweg der 17-jährigen Jeannine Razananirina aus Behenjy, 60 Kilometer südlich von Antananarivo, die als Hausmädchen in der Hauptstadt gearbeitet hatte und im Juni von ihrer Arbeitgeberin mit kochendem Wasser verbrüht wurde, sorgte vorübergehend für Schlagzeilen. Sozialarbeiterinnen kümmerten sich schließlich um das Mädchen.

Kinderrecht auf Bildung wird verwehrt
"Es ist ein schweres Stück Arbeit, den in den Steinbrüchen schuftenden Eltern klarzumachen, wie wichtig der regelmäßige Schulbesuch für ihre Kinder ist", berichtet die Direktorin der Ilempona-Grundschule, Berthine Ralaivelo. "Viele Kinder kommen und gehen und bleiben weg, sobald sie tagsüber arbeiten müssen. In diesem Jahr sei in ihrer Grundschule der Anteil der eingeschulten Kinder von 50 auf 20 Prozent zurückgegangen.

Die UNICEF/ILO-Untersuchung kritisiert, dass den Kinderarbeitern nicht nur ihr Recht auf Bildung verwehrt werde. Zudem sei die Arbeit im Steinbruch, in den Fabriken oder in der Landwirtschaft gefährlich und überfordere die Kräfte vieler Kinder, die sich verletzten oder krank werden.

Nach Ansicht von Experten hat die politische und wirtschaftliche Krise in dem ohnehin armen Madagaskar noch mehr Menschen in die Armut getrieben. "Die Kinder müssen mitverdienen, damit die Familien über die Runden kommen", betont die Präsidentin des Berufsverbands ausgebildeter Sozialarbeiter, Norotiana Jeannoda. "Im Steinbruch verdient man umgerechnet einen US-Dollar pro Tag. Je mehr Familienmitglieder dort arbeiten, desto mehr Geld lässt sich verdienen."

Wenig Erfolg hatte bislang eine von der ILO vor vier Jahren organisierte und von der Regierung unterstützte landesweite Kampagne gegen die Kinderarbeit, wie der ILO-Koordinator für Madagaskar Francesco D'Ovidio einräumt. "Wir haben zwar einigen tausend Kindern helfen können, doch weit mehr brauchen unsere Hilfe."

Ohne Hilfen für arme Familien bewirken Verbote nichts
Obwohl ein 2007 verabschiedetes Gesetz unter-15-Jährigen jede bezahlte Arbeit verbietet, gab es bislang weder einschlägige Anzeigen noch einen Strafprozess. Solange die Familien zwischen ihrem Überleben und dem Schulbesuch ihrer Kinder wählen müssten, bleibe das Gesetz wirkungslos, meinen Experten.

Die Psychologin Victorine Rakotondranivo sieht nur einen Ausweg. "Erst wenn die Regierung den Familien hilft und die Arbeitslosigkeit im Land energisch reduziert, werden die Armen ihre Kinder wieder zur Schule schicken", ist sie überzeugt.

Wichtiger Hinweis: Die Verwertung dieses Beitrags ist kostenpflichtig.
Zusätzliche Informationen im Internet: http://www.ilo.org/

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