Joachim Müller-Jung
Gute Nachrichten werden, wenn es um die Aids-Epidemie geht, allzu leicht missverstanden. Das war vor Jahren so, als man unter dem Eindruck neuer wirksamer Kombinationstherapien von der chronischen Krankheit Aids zu sprechen begann und viele das Prinzip Safer Sex über Bord warfen.
Und das ist heute vielleicht nicht anders.
Beim Robert-Koch-Institut in Berlin jedenfalls, der zuständigen Bundesbehörde, wächst die Sorge um die konsequente Aidsvorsorge, seitdem in der Schweiz mit einem gesundheitspolitischen Tabu unter Wissenschaftlern gebrochen wurde. Vor ein paar Tagen hatte dort die vom Schweizer Bundesamt für Gesundheit berufene Eidgenössische Kommission für Aids-Fragen (EKAF) erklärt, dass „eine HIV-infizierte Person unter funktionierender antiretroviraler Therapie das HI-Virus nicht über Sexualkontakte weitergibt“.
Für die meisten ändert sich nichts
Weltweit zum erstenmal, rühmte sich der Präsident des Expertenzirkels, Pietro Vernazza, sei eine nationale Behörde diesen Schritt gegangen. Die Bekanntmachung wurde als „Stand der Wissenschaft“ und als „gute Nachricht“ für die Betroffenen angekündigt. Noch am selben Tag allerdings sah sich das Züricher Bundesamt für Gesundheit zur Aussendung eines Kommentars ermuntert, in dem es gewisse schon im Kommissionsbericht zwar angeführte, im Gefühl der Erleichterung aber vielleicht unterzugehen drohende Details klarstellte: Die gute Nachricht betreffe in der Schweiz nur „wenige tausend Personen, welche ganz strenge Vorgaben erfüllten“.
Lediglich solche HIV-Infizierte seien damit gemeint, in deren Blut seit mindestens sechs Monaten keine Viren mehr nachweisbar seien, die zudem die Arzneitherapie konsequent einhielten und an keiner anderen sexuell übertragbaren Krankheit litten. Sie könnten auf Kondome verzichten, wenn sie sich beispielsweise Kinder wünschten. Für alle anderen - und das sind immer noch die meisten - Aids-Patienten ändere sich genauso wenig wie für die Bevölkerung: Safer Sex sei das absolute Gebot.
Ausschließen lässt sich nichts
So schnell hatte die Behörde die Notbremse gezogen, dass die Diskussion über die offizielle Stellungnahme nicht auf sich warten ließ. Gesundheitspolitiker und Mediziner wurden aufgeschreckt. Auch in Deutschland. Osamah Hamouda, der zuständige Fachgebietsleiter am Robert-Koch-Institut, hält die öffentliche Bekanntgabe einer vermeintlichen Nichtinfektiosität HIV-Infizierter für falsch. „Grundsätzlich ist der Schritt aus der empirischen Erfahrung der Wissenschaft nicht zu kritisieren“, sagt er. Tatsächlich kommen alle bisher veröffentlichten Studien zu dem Ergebnis, dass eine Übertragung des Erregers nicht mehr nachzuweisen ist, sobald die Menge an Viren unter der Nachweisgrenze liegt. Aber ein Beweis ist das streng genommen nicht.
Noch im November 2007, aus Anlass des Aidskongresses, hatte Hamouda die in der Wissenschaft heftig diskutierte Frage in einem mehrseitigen Bulletin besprochen. Fazit: Ausschließen lässt sich nichts. Die Aussage, weltweit sei noch kein einziger Fall einer Übertragung bei nicht nachweisbarer Viruslast beschrieben, sei „extrem problematisch“. Hamouda will zumindest einen Fall kennen, in dem sich ein Mann bei einem infizierten Partner angesteckt haben soll, dessen Viruslast unter der Nachweisgrenze gelegen hatte. Demnächst soll das publiziert werden.
Erhebliche Wissens- und Datenlücken
Möglicherweise ist es zu einer Art Reaktivierung der Viren gekommen. Personen, die an einer weiteren sexuell übertragbaren Krankheit leiden - etwa Syphilis - oder durch Herpes genitalis verursachte Geschwüre aufweisen, können das HI-Virus leichter weitergeben. Allerdings ist dies nur bei Aidskranken ohne Therapie und mit erhöhter Viruslast sicher nachgewiesen. Schon wegen solcher Wissens- und Datenlücken wird es Hamouda zufolge keine Empfehlungen und keine offiziellen Stellungnahmen des Robert-Koch-Instituts zur Frage der Nichtinfektiosität geben. „Wir sind sehr viel zurückhaltender, weil man negative Auswirkungen auf die HIV-Prävention fürchten muss“, meint Hamouda. Es könne sich ein Gefühl falscher Sicherheit ausbreiten. Das bedeute aber nicht, dass der Arzt im Einzelfall und im Zuge der vierteljährlichen Therapiekontrolle und Beratung nicht doch die Schweizer Lösung wähle. „Aber die Empfehlung muss auf bestimmte Situationen eingegrenzt bleiben.“
Was es für die Rechtsprechung und das Risiko bedeute, einem konsequent therapierten HIV-Infizierten eine Art Persilschein der Nichtinfektiosität auszustellen? „Daran dürfte die Schweizer Empfehlung nichts ändern“, meint Hamouda. Bisher habe stets gegolten, dass man mit dem Strafrecht die Infektion nicht verhindern kann. Für eine Ansteckung beim Sex trage jeder ein gutes Stück Eigenverantwortung. Dabei werde es bleiben. In nur einer Handvoll Fällen ist es in Deutschland wegen vermuteter vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Strafverfolgung HIV-Infizierter gekommen.
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