Der Ramadan hat Marokko fest im Griff. Der Fastenmonat bestimmt den Rhythmus der Gesellschaft. Wer sich den Riten entzieht, den stellen die islamistischen Kräfte immer öfter ins Abseits. Einige junge Marokkaner wünschen sich daher die liberalere Vergangenheit zurück.
Von Alexander Göbel, ARD-Hörfunkstudio Rabat
Der Ramadan 2009: Junge Marokkaner verabreden sich über Facebook, planen ein Picknick im Wald von Mohammedia vor den Toren von Casablanca. Ein absoluter Tabubruch, denn das öffentliche Fastenbrechen während des Ramadan gilt in Marokko als Straftat. Die Behörden haben der Gruppe im Netz nachspioniert und ersticken die Aktion im Keim.
Zineb el Ghazaoui, Mitgründerin der Bürgerrechtsbewegung für individuelle Freiheiten, kurz MALI, erinnert sich: "Schon am Bahnhof von Mohammedia wurden wir von einer Hundertschaft der Polizei empfangen, es war wie eine Armee, die auf Terroristen wartete, mit Hunden, mit Waffen. Wir wurden beschimpft, bespuckt, in den Zug zurückgesteckt, und dann wurden wir festgenommen und stundenlang verhört." Nur weil die internationale Öffentlichkeit darauf aufmerksam geworden sei, habe die Polizei schließlich die Akten geschlossen - zumindest vorerst, berichtet El Ghazaoui.
Gegen die Kriminalisierung
"100 Polizisten gegen 10 Sandwiches" - so machte man sich zunächst in den Facebook-Foren lustig. Doch aus Spaß wurde schnell Ernst, als in Marokkos Medien eine Hetzjagd begann und die Fastenbrecher Dutzende E-Mails mit Todesdrohungen erhielten. Dabei hatten sie immer betont, ihre Aktion sei keinesfalls gegen die marokkanische Gesellschaft oder den Islam gerichtet - und auch nicht gegen den Ramadan an sich, immerhin eine der fünf Säulen des Islam. El Ghazaouis Organisation protestiert nicht gegen das Fasten, sondern dagegen, dass das Nicht-Fasten kriminalisiert wird. Mit der Kritik an einem neuen "Totalitarismus der Religion", so Zineb, habe die Gruppe einen Nerv getroffen. Das heftige Vorgehen des Staatsapparates gegen ein paar fastenbrechende Jugendliche spreche jedenfalls Bände.
"Natürlich macht man uns Angst", räumt sie ein. Das sei auch so gewollt. "Die Ausländer in Marokko trauen sich kaum, in der Öffentlichkeit zu essen", sagt El Ghazaoui. "Und die Muslime, die heimlich das Fasten brechen, werden bestraft, manche Leute gehen ins Gefängnis, weil ihre Nachbarn sie denunziert haben. Dabei ist der Ramadan per Definition eine Sache allein zwischen mir und Gott. Man fastet ja nicht für die anderen - auch wenn man uns das ganz klar suggeriert", kritisiert El Ghazaoui. "Aber das hier hat alles nichts mehr mit Vernunft zu tun!"
Islam als Staatsreligion
In Marokkos Verfassung ist der Islam als Staatsreligion verankert, der König ist der oberste Glaubenshüter. Allerdings garantiert die Verfassung allen Bürgern das Recht auf freie Religionsausübung. Paragraph 222 des Strafgesetzbuches jedoch droht all jenen mit Bußgeldern und bis zu sechs Monaten Haft, die während des Ramadan öffentlich das Fasten brechen. Für El Ghazaoui ein eklatanter Widerspruch - auch gegen die Allgemeine Charta der Menschenrechte, die Marokko unterzeichnet hat.
Sie meint, "hinter dem angeblich so großen sozialen Konsens während des Ramadan versteckt sich in Wahrheit eine große Heuchelei. Der Marokkaner existiert nur im Rahmen der Umaa, der religiösen Gemeinschaft der Muslime. Den Marokkaner als Individuum, als Bürger in einem Rechtsstaat, den gibt es nur in der Theorie, nicht aber in der Praxis."
Liberale Vergangenheit
[ König Mohammed VI. ]Das war nicht immer so. Und deswegen lässt Zineb El Ghazaoui den Einwand nicht gelten, Marokko sei noch nicht bereit für derlei "moderne Experimente". Noch in den 1970er-Jahren war Marokko in puncto Ramadan sogar ziemlich liberal. In aller Öffentlichkeit konnten Studenten an der Universität essen, trinken und rauchen. Das sei heute undenkbar. Natürlich habe Marokko Fortschritte gemacht, findet Zineb El Ghazaoui - dank König Mohammed VI. sei es vorbei mit dem Muff der Königsdiktatur Hassans II.
Doch die Bürgerrechtlerin befürchtet, der Staat habe sich den Schutz der individuellen Freiheiten schrittweise von den Islamisten aus der Hand nehmen lassen. Auch von Abdellilah Benkiran, heute Generalsekretär der einflussreichen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, kurz PJD. Der Funktionär brandmarkt die Initiatoren des Ramadan-Protests als Aufwiegler. Den Ramadan stilisiert er zum Exempel für einen Staat, der auf allen Ebenen untrennbar mit dem Islam verbunden sei. Einen Staat, der also niemals laizistisch sein werde. "Wir stecken in Marokko in einem Prozess des Wandels", sagt Abdelillah Benkiran. "Aber wir kommen sehr gut ohne diese Unruhestifter aus!" Diese Leute seien "mickrige Provokateure, unter Moderne verstehen sie einen atheistischen Staat - und da sagen wir als Muslime: Nicht mit uns. Nicht um den Preis unserer Religion." Abdelillah Benkiran gibt sich überzeugt: "Die absolute Mehrheit der Menschen hier weiß: Der Ramadan – das ist eine wunderbare Sache."
Religion für 98 Prozent der Marokkaner unverzichtbar
Zineb El Ghazaoui kennt die Umfragen. Sie weiß, dass Religion für 98 Prozent der Marokkaner unverzichtbar ist. Gerade deswegen will sie weiterkämpfen - im Namen der Religion als Recht des Einzelnen. Gegen die Radikalisierung des Ramadan als gesellschaftliches Druckmittel. Und für einen Staat, der aufwacht aus seiner Ohnmacht gegenüber der religiösen Instrumentalisierung. Zineb will zurück in die Zukunft - ins religionsliberale Marokko der 1970er Jahre. Fragt sich nur, ob sie damit Erfolg hat. Die Deutungshoheit darüber, was genau Ramadan in Marokko zu sein hat, haben jedenfalls Andere.
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