Trommeln tönten durch die   Steppe. Früh morgens zum Dienstbeginn und abends, zum Ende der Buddelei. Im   Osten Afrikas herrschte deutsche Ordnung: Vor 100 Jahren gruben Paläontologen   am Tendaguru in Deutsch-Ostafrika, dem heutigen Tansania, nach fossilen   Resten von Dinosauriern.
„Tendaguru“, steiler   Berg, heißt der afrikanische Knochenhügel, der 150 Millionen Jahre alte,   zentnerschwere Wirbel, Beinknochen und sogar Schädel freigab. „Tendaguru“   heißt auch die Expedition, deren Teilnehmer von 1909 bis 1913 unter Werner   Janensch in der Hitze Afrikas Typhus und Malaria trotzten. Und „Tendaguru“   steht noch immer für eine der erfolgreichsten paläontologischen Grabungen   aller Zeiten. Bis heute liegen die in alle Welt verschifften Fossilien in den   Regalen der Wissenschaftler. In den Naturkundemuseen in Berlin, in London,   Los Angeles und New York spiegeln sich die Skelette der Urzeitriesen Tag für   Tag in den Augen der Besucher. Brachiosaurus brancai etwa, der größte   weltweit ausgestellte Dinosaurier, steht in der Lichthalle des Berliner   Naturkundemuseums – und auch er kommt vom Tendaguru.
Doch was die afrikanische   Steppe vor 100 Jahren war, ist für moderne Paläontologen der ein oder andere   Museumskeller. Denn wer heute einen neuen Dinosaurier entdecken will, sagen   Wissenschaftler völlig ironiefrei, der muss nicht raus ins Feld. Keiner muss   mehr am Tendaguru oder am nordamerikanischen Hell-Creek graben. Kein Paläontologe   muss mühevoll in der Mongolei, auf Madagaskar, in China oder Argentinien die   staubigen Erdschichten mit Spitzhacke, Schaufel, Schüppe und Pinsel   wegkratzen. Man muss einfach nur in den Keller hinabsteigen.
Denn die Magazine der   Museen und Forschungsinstitute sind mit der Beute längst vergangener   Großexpeditionen bis an die Decken vollgestopft. Im Berliner Naturkundemuseum   etwa quetschen sich zahllose Ober- und Unterschenkelknochen beliebiger   Dinosaurierarten in einer Nische des Kellers. Fußwurzelknochen thronen auf   schwarzen Zylindern, basketballgroße Rückenwirbel warten darauf, dass   irgendein Forscher sie nach 150 Millionen Jahren Totsein korrekt   zusammenpuzzelt. Die weniger unscheinbareren Knöchelchen sind achtlos   aufeinander gestapelt, alte Transportkisten ruhen unangetastet. Dass in den   Knochenkammern ein Schatz wartet, ist allen klar.
Denn in den vergangenen   Jahren haben Paläontologen einige spektakuläre Erkenntnisse über die Dinozeit   allein durch das genaue Studieren von Museumsmaterial gewonnen. Eine Analyse   fossilen Erbmaterials hier, ein Computermodell zur möglichen Fortbewegung und   Ernährungsweise da, eine Röntgentomografie, eine Isotopenanalyse oder ein   Neutronenscan – die neuen Methoden der Paläontologie bringen immer mehr Farbe   in die Ökologie von Jura- und Kreidezeit. Saurier, die früher als nahe   Verwandte galten, werden heute als allenfalls entfernte Bekannte geführt.   Brachiosaurier haben heute keine O-Beine. Ihre langen Hälse nutzten sie wohl   auch nicht, um in Baumkronen frische Blätter zu naschen. Sie waren   stoffwechselbedingt wohl so faul, dass sie einen langen Hals brauchten, um   sich möglichst wenig bewegen zu müssen.
All diese Erkenntnisse   lassen sich aus dem beinernen Museumsschatz herauslesen. Doch ganz einfach zu   heben ist er nicht. Das zeigt nicht zuletzt das Beispiel Tendaguru: Mehr als   250 Tonnen Saurierknochen, unzählige Holzkisten und Behälter schickte   Grabungsleiter Werner Janensch nach Berlin. Mit seinen zwischenzeitlich über   500 einheimischen Helfern hatte er die Knochen aus drei verschiedenen   Fossilienschichten aus dem Berghang befreit. Zum Teil mussten die Beinjäger   die Knochen nur aufsammeln – im Laufe der Zeit waren sie freigewittert,   ragten offen aus der Krume. Ein Areal von 100 mal 20 Kilometer wühlten die   Forscher um. Jeder Fund wurde in genauen geologischen Karten eingetragen, zum   Teil sogar an Ort und Stelle abgezeichnet und koloriert.
Knochen für Knochen   verpackten die Feldforscher liebevoll: Die großen verstauten sie in Kisten.   Kleinere Funde legten die Paläontologen in Fruchtschalen von Affenbrotbäumen   oder in leergegessene Konservendosen, vergaben jedem Fund eine Nummer und   notierten in Inventarlisten Fundort und -lage. Wissenschaftliche Korrektheit   unter afrikanischem Himmel. Weich gebettet auf trockenem Savannengras gingen   die fossilen Knochen, Korallen, Muschelschalen und Gesteinsproben auf ihre   weite Reise vom afrikanischen Seehafen Lindi nach Europa.
Und hier erwartet sie ein   Verhängnis: Zwei Weltkriege und das DDR-Regime überstanden auch die pingelig   geführten Inventarlisten nicht. Der ein oder andere Knochen, die ein oder   andere ungeöffnete Kiste fiel den Bomben zum Opfer. Das Kleinod der   Tendaguru-Sammlung, ein gut erhaltener Schädel von Brachiosaurus, retteten   Mitarbeiter des Geologisch Paläontologischen Institutes nur dadurch, dass sie   ihn im Keller des Museums an einer geheim gehaltenen Stelle vergruben.
Verlorene   Dokumente und vergessene Kisten
Wenn sich ein Forscher   auf die Suche begibt, kann Überraschendes passieren: Erst in der vergangenen   Woche hat Chefpräparator Lutz Berner vom Berliner Museum in einer   publikumswirksamen Aktion eine original vernagelte Bambustrommel vom   Tendaguru geöffnet. Keiner hatte zuvor hineingesehen, keiner ein Röntgenbild   oder einen Neutronenscan angefertigt. Die Liste zur Inventarnummer fehlte. Es   war ein denkwürdiger Moment – immerhin hatten die alten Nägel und Drähte die   Bambusstäbe 100 Jahre lang zusammengehalten. Pflichtgemäß sträubten sie sich   etwas gegen Berners Baumarktzange.
Doch heraus kam kein   Dinosaurier-Ei, kein Urzeitschädel und auch kein fossiles Korallenskelett.   Heraus kamen eine 100-jährige Konservendose, Fruchtschalen, ein paar über 150   Millionen Jahre alte Knöchelchen, Savannengras und bröselnde Gesteinsproben.   Und dennoch sind die Forscher verzückt – schließlich können sie mit jedem   neuen Knochen und jedem neuen Stein die Ökologie der Urzeit besser verstehen.   Vielleicht entpuppt sich eines dieser fossilen Fundstücke als Überrest eines   winzigen, noch nicht bekannten Tendaguru-Mitbewohners der Dinosaurier. Vielleicht   bestätigt ein bestimmtes Mineral die Berliner These, warum im späten Jura am   Tendaguru ein Friedhof entstand.
Die Berliner Knochenhüter   immerhin haben bereits eine These dazu: Aus dem Vermächtnis der   Janensch-Funde und durch eine Expedition, die sie vor neun Jahren gemeinsam   mit tansanischen und kanadischen Forschern durchführten, schließen sie, dass   am Knochenhügel mindestens drei Überschwemmungen stattfanden. Drei Schichten   von Saurierknochen werden von Sedimenten aus Meeresschichten voneinander getrennt.   Hier könnten Tsunamis ihre Spuren hinterlassen. Vielleicht ertranken die   Saurier, die gerade in der Gegend waren. Das Hinterland war von Nadelwäldern   bewachsen, in der Nähe des Meeres tummelten sich die Tiere an Lagunen und   Ebenen.
Natürlich lohnt es sich   auch heute noch, auf den großen Saurierfriedhöfen nach Knochen zu suchen.   Aber es lohnt sich für Forscher genauso, einfach einmal in den Keller   hinabzusteigen.
Von Pia Heinemann
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