Montag, 31. Mai 2010

Konvoi-Angriff führt zu diplomatischem Desaster


Israelische Militäraktion

Von Yassin Musharbash

Botschafter einbestellt, gemeinsame Manöver abgesagt - und Protestnoten aus aller Welt: Der tödliche Angriff von Israels Marine auf einen Schiffskonvoi mit Ziel Gaza-Streifen ist der diplomatische Katastrophenfall für die Regierung Netanjahu.

Berlin - Es dauerte nur Stunden, bis die ersten internationalen Protestnoten eintrafen, seitdem ist der Strom nicht abgerissen: Nachdem die israelische Marine am Montagmorgen im Mittelmeer einen Schiffskonvoi mit für den Gaza-Streifen bestimmten Hilfsgütern aufgebracht und dabei mindestens zehn Aktivisten getötet hat, steht das Land international massiv in der Kritik.

Ausmaß und Heftigkeit der Reaktionen sind ungewöhnlich. Gleich mehrere Staaten bestellten die jeweiligen israelischen Botschafter ein, darunter Griechenland, Spanien, Ägypten und die Türkei.

Die Europäische Union und die Vereinten Nationen forderten eine internationale Untersuchung des Vorfalls. Die Arabische Liga berief für den kommenden Dienstag ein Sondertreffen in Kairo ein, um über eine Reaktion gegenüber Israel zu beraten. Der Vatikan sprach von einem "unnützen Verlust von Menschenleben". Am Montagnachmittag New Yorker Zeit wird sich der Sicherheitsrat der Uno in einer Dringlichkeitssitzung mit dem Vorfall beschäftigen.

Der deutsche AußenGuido (FDP) berichtete nach einem Telefonat mit seinem israelischen Amtskollegen Avigdor Lieberman, er habe eine "umfassende, transparente und neutrale" Untersuchung angemahnt. Regierungssprecher Ulrich Wilhelm erklärte in Berlin, die Bundesregierung sei "bestürzt". "Jede Bundesregierung unterstützt vorbehaltlos das Recht Israels auf Selbstverteidigung", so Wilhelm weiter. Diese müsse aber dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen. "Der erste Anschein spricht nicht dafür, dass dieser Grundsatz eingehalten wurde." Vor einer abschließenden Beurteilung gelte es jedoch, die Details zu klären.

Am Nachmittag meldete sich BundesAngela in Berlin zu Wort. Sie schätze die Lage als "sehr ernst" ein, sagte sie. In einem Telefonat mit Israels Premier Benjamin Netanjahu habe sie diesen auch um Informationen über die deutschen Bürger gebeten, die an dem Konvoi teilgenommen haben. Darunter sind auch zwei Bundestagsabgeordnete der Partei Die Linke. Es stelle sich zudem die "dringende Frage der Verhältnismäßigkeit", sagte Merkel weiter. Sie zeigte sich bestürzt. Internationale Beobachter, so die Kanzlerin, könnten bei der Aufklärung des Zwischenfalls hilfreich sein.

Amerika hält sich mit Kritik zurück
Das Weiße Haus, dessen Stimme im Nahen Osten besonders schwer wiegt, beließ es zunächst bei einer kurzen Mitteilung, derzufolge die US-Regierung dabei sei, die Hintergründe des Zwischenfalls zu verstehen. Von einer expliziter Kritik an Israel nahm die US-Regierung zunächst Abstand.

Tatsächlich war bis zum Montagmittag noch unklar, warum die israelischen Elitesoldaten bei der Erstürmung des größten der insgesamt sechs Schiffe das Feuer eröffneten. Während israelische Regierungsvertreter geltend machten, die Soldaten seien zuerst - und zwar mit Feuerwaffen - angegriffen worden, bestritten Teilnehmer und Organisatoren des Konvois dies massiv.

Vize-Außenminister Daniel Ajalon sagte laut der israelischen Nachrichten-Website "Ynet", die Organisatoren hätten Verbindungen zu Hamas und al-Qaida. Vermutlich bezog er sich damit auf eine türkische islamistische Gruppe, die neben einem halben Dutzend weiteren zu den Planern zählt. Die Anschuldigungen sind umstritten. Ajalon sagte zudem, an Bord seien Waffen gefunden worden und diese seien gegen die israelischen Soldaten eingesetzt worden.

Die Konvoi-Organisatoren des "Free Gaza Movement" widersprachen dieser Darstellung. "Es gab kein Feuer von unserer Seite", erklärten sie via Twitter. "Das ist eine Lüge." In Deutschland wurden Spendensammlungen von "Free Gaza" unter anderem von der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft, Pax Christi und dem Verein Internationale Ärzte für die Verhütung eines Atomkrieges (IPPNW) unterstützt.

Wut in der Türkei
Besonders heftig fallen die Reaktionen in der Türkei aus. Ersten Berichten zufolge sind die meisten der Getöteten Türken. Ankara sagte ein geplantes gemeinsames Manöver mit Israel ab. Damit ist klar, dass der Angriff auf die Flotte das Verhältnis der beiden Staaten weiter verschlechtern wird. Die Türkei ist einer der wenigen islamisch geprägten Staaten, mit denen Israel grundsätzlich freundschaftliche Beziehungen unterhält.

Der türkische Ministerpräsident Tayyip Erdogan warf Israel "Staatsterrorismus" bei der Erstürmung des internationalen Schiffskonvois für den Gaza-Streifen vor. "Diese Aktion, die im absoluten Gegensatz zu den Prinzipien internationaler Gesetze steht, ist inhumaner Staatsterrorismus", sagte Erdogan am Montag am Rande eines Besuchs in Chile. "Niemand sollte denken, dass wir angesichts dessen ruhig bleiben."

Auch auf die geplante neue Runde palästinensisch-israelischer Verhandlungen hat der Zwischenfall Auswirkungen. Amre Mussa, der Generalsekretär der Arabischen Liga, sagte: "Wir sehen, dass es keinen Zweck hat, mit Israel über Frieden zu verhandeln." Israel ignoriere internationales Recht. Die Organisation sprach von einem "terroristischen Akt".


Für Dienstag waren Treffen von US-Präsident Barack Obama mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und Palästinenserpräsident Abbas geplant. Netanjahu sagte diesen Termin jedoch ab.

Auch in der weiteren Region kritisierten die Regierungen Israel heftig. Der Emir von Katar, Scheich Hamad Bin Chalifa al-Thani, sprach von einer israelischen "Piratenaktion". Der libanesische Ministerpräsident Saad al-Hariri erklärte: "Dieser Schritt war gefährlich und verrückt."

Kritik für Israel ein Desaster
Das diplomatische Kreuzfeuer ist für Israel ein Desaster. Erst vor wenigen Monaten hatte das Land internationales Missfallen auf sich gezogen, weil Agenten seines Geheimdienstes Mossad in Dubai einen Hamas-Kader getötet und dazu gefälschte Pässe mehrerer befreundeter Staaten benutzt hatten.

Die Verschlechterung der Beziehungen zur Türkei und zu denjenigen arabischen Staaten, zu denen Israel offizielle Beziehungen pflegt, ist ebenfalls ein ernsthaftes Problem für die Regierung von Premierminister Benjamin Netanjahu, weil es eine umfassende Aussöhnung mit den Nachbarn unwahrscheinlicher macht.

Der Vorwurf der Unverhältnismäßigkeit trifft Israels Regierungen zudem besonders hart, weil es den Nimbus Israels als einzigen Rechtsstaat der Region beschädigt.

Forderung nach Öffnung des Gaza-Streifens
Schließlich lenkt der tödliche Angriff das Augenmerk der Weltöffentlichkeit auf die Lage der Bewohner des Gaza-Streifens, die seit mehr als zwei Jahren weitgehend von der Außenwelt abgeschnitten sind. Zwar lässt Israel gelegentlich Waren und Hilfsgüter passieren, nach Berechnungen der Uno aber nicht annähernd genug.

Die Außenrepräsentantin der EU, Catherine Ashton, stellte diese Verbindung gleich in ihrer ersten Stellungnahme her: Außer einer Untersuchung des Angriffs auf den Konvoi verlangte sie auch die "sofortige, dauerhafte und bedingungslose" Öffnung der Grenzübergänge in den Gaza-Streifen, um Hilfsgüter, Waren und Personen nach Gaza passieren zu lassen. Der deutsche Regierungssprecher Ulrich Wilhelm stellte ebenfalls klar, dass Deutschland die Blockade des Gaza-Streifens als unakzeptabel ansieht.

Auch der Sondergesandte des Nahost-Quartetts, Tony Blair, hat nach dem blutigen Angriff bessere Hilfe für die Menschen im Gaza-Streifen gefordert. "Schon wieder muss ich meine Ansicht wiederholen, dass wir einen anderen und besseren Weg brauchen, den Menschen in Gaza zu helfen und das Elend und die Tragödie, die in der derzeitigen Situation liegen, zu vermeiden", sagte der frühere britische Premierminister am Montag. Auch der britische Außenminister William Hague rief die israelische Regierung zur Öffnung der Grenzen nach Gaza für Hilfslieferungen auf.

Knesset-Abgeordneter über Konvoi-Angriff: "Es musste jemand sterben"

Die Soldaten sollten töten, um abzuschrecken. Das glaubt Jamal Zahalka, der Vorsitzende der palästinensischen Knesset-Fraktion Balad. Israel bleibe jetzt nur noch die Aufhebung der Blockade.


Aufnahme vom nächtlichen Angriff auf die Schiffsflotte im Mittelmeer.

taz: Herr Zahalka, Ihre Parteigenossin Chanin Soabi ist auf einem der Schiffe, die heute Nacht von der israelischen Marine abgefangen wurden. Stehen Sie in Kontakt zu ihr?

Jamal Zahalka: Wir haben seit gestern Abend nichts von ihr gehört. Soweit wir wissen, ist sie aber nicht unter den Verletzten.

Wie kommt es, dass Frau Soabi gefahren ist und nicht Sie selbst?
Normalerweise schickt jede Fraktion einen Teilnehmer. Ich war schon vor drei Wochen nach Zypern gereist in der Absicht, auf einem der Schiffe mitzufahren, was sich aber aus technischen Gründen zerschlagen hat.

Was hoffen Sie zu erreichen?
Wir wollen die Blockade brechen, die Israel über den Gazastreifen verhängt hat und die unmenschlich ist. 1,5 Millionen Menschen in ein großes Gefängnis zu sperren ist kollektive Bestrafung und verstößt gegen internationales Recht.

Letzter Coup eines Gekränkten

Köhlers Bundeswehr-Äußerungen

Von Sebastian Fischer und Florian Gathmann

Der Bundespräsident ist zurückgetreten, alle sind schockiert - doch wie kam es dazu? Als Begründung für seinen plötzlichen Abgang nennt Horst Köhler die Kritik an seinen Afghanistan-Äußerungen. Doch die umstrittene Antwort in einem Interview war nicht sein einziger Patzer.

Berlin - Es kann gar nicht schnell genug gehen. Nur fünf Sätze liest Horst Köhler von seinen Sprechzetteln ab, dann kommt der entscheidende: "Ich erkläre hiermit meinen Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten - mit sofortiger Wirkung." Neben ihm steht seine Frau Eva, im dunklen Hosenanzug, die Handflächen hat sie an die Oberschenkel gepresst. Sie schaut starr geradeaus.

Köhler bedankt sich bei den "vielen Menschen in Deutschland, die mir Vertrauen entgegengebracht und meine Arbeit unterstützt haben", es folgen ein paar Erklärungen zum Procedere seines Rücktritts.

Es wirkt wie der Abgang eines Gekränkten, ein Rücktritt in Selbstmitleid. Und es ist eine Überraschung. Für alle. Kanzlerin Angela Merkel wurde nur zwei Stunden zuvor informiert. Sie versuchte noch, das Staatsoberhaupt umzustimmen - und scheiterte.

Köhler will an diesem Montag im Langhans-Saal von Schloss Bellevue noch eines klarmachen, bevor er geht: Er ist sich keines Fehlverhaltens bewusst. Er schmeißt hin, weil er sich ungerecht behandelt fühlt. Es ist offensichtlich: Die Kritik an seiner Verknüpfung von Bundeswehreinsätzen mit Wirtschaftsinteressen in einem Interview mit dem Deutschlandradio hat ihn verletzt. Man gehe so weit, "mir zu unterstellen, ich befürwortete Einsätze der Bundeswehr, die vom Grundgesetz nicht gedeckt wären", sagt er. Die Vorwürfe entbehrten jeder Rechtfertigung und ließen "den notwendigen Respekt für mein Amt vermissen". Es klingt wütend.

Das war's. Ein paar Sekunden später sind die Köhlers Hand in Hand aus dem Raum verschwunden.


Es ist das erste Mal, dass ein deutscher Bundespräsident derart plötzlich und mit sofortiger Wirkung zurücktritt. Horst Köhler ist eine Ausnahme - in allen Belangen. Der einzige Präsident, der zuvor kein Vollblutpolitiker war. Horst Köhler arbeitete als Abteilungsleiter im Finanzministerium, er verhandelte die deutsch-deutsche Wirtschafts- und Währungsunion mit, er war Staatssekretär unter Theo Waigel. Für Kanzler Helmut Kohl machte er den "Sherpa" bei internationalen Konferenzen, wurde später Sparkassenpräsident und schließlich Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF).

Köhler war fast immer ein Mann des politischen Hintergrunds. Nie hat er eine Partei geführt (wie FDP-Amtsvorgänger Walter Scheel), nie hat er ein Land regiert (wie SPD-Vorgänger Johannes Rau), und nie war er Minister (wie CDU-Vorgänger Heinrich Lübke). Vielleicht deshalb hat Horst Köhler nun in gewisser Weise unpolitisch reagiert.

Köhler schlägt sich selbst mit der Macht des Wortes
Der deutsche Bundespräsident hat kaum wirklichen Einfluss auf die politischen Geschehnisse. Aber er hat die Macht des Wortes. Wie konnte es geschehen, dass Horst Köhler sich ausgerechnet mit dieser Macht selbst schlug? Was hat ihn letztlich zum Rücktritt bewogen?

Es waren Tage voller rhetorischer Missgeschicke:
Am Freitag vor einer Woche gibt Köhler auf dem Rückflug vom Truppenbesuch in Afghanistan einem Reporter des Deutschlandradios ein Interview. Es enthält viele Bandwurmsätze. Es wirkt befremdlich. Der Journalist fragt nach Afghanistan: Ob das Mandat der Bundeswehr überhaupt ausreiche? Köhler reagiert mit allgemein gehaltenen Einlassungen, fordert mehr Respekt für die Soldaten und deren Kampf "für unsere Sicherheit in Deutschland" auf Basis eines Uno-Mandats.
Dann kommt die entscheidende Passage. O-Ton Köhler:

"Meine Einschätzung ist aber, dass insgesamt wir auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen. Alles das soll diskutiert werden, und ich glaube, wir sind auf einem nicht so schlechten Weg."
Dass die Sicherheitspolitik Deutschlands auch vom Ziel geleitet wird, den "freien und ungehinderten Welthandel als Grundlage unseres Wohlstandes zu fördern", steht so schon im aktuellen sicherheitspolitischen Weißbuch der Bundesregierung. Militärische Mittel sind dafür eines unter verschiedenen Instrumenten. Doch nirgendwo wird die Bundeswehr in solch explizitem Zusammenhang mit Wirtschaftsinteressen genannt wie bei Köhler.

Trotzdem geschieht tagelang nichts. Denn das Radiointerview geht völlig unter. Im politischen Berlin nimmt es kaum jemand zur Kenntnis. Der Grund: Zwar stellt Deutschlandradio Kultur die komplette Audiodatei ins Internet, doch der Partnersender Deutschlandfunk besorgt eine nur eingeschränkte Abschrift. Nur aus Zufall fehlen die entscheidenden Passagen.

"Schwadroneur um Schloss Bellevue"
Am Donnerstagmorgen bringt SPIEGEL ONLINE mit Verweis auf das komplette Interview die entsprechenden Zitate. Auch das Deutschlandradio thematisiert da die Köhler-Äußerungen erneut. Das Echo ist groß: Es kommt heftige Kritik von SPD, Grünen und Linkspartei, es gibt Irritationen bei Union und FDP.. Der Berliner Verfassungsrechtler Ulrich Preuß beklagt den "imperialen Zungenschlag" Köhlers. Der Historiker Michael Wolffsohn vermutet, dass Köhler weder "die historischen Gedankenverbindungen - 'Kanonenbootpolitik' - noch die sicherheitspolitischen Konsequenzen bedacht" habe.

Die Kommentarlage am vorigen Freitag, eine Woche nach Köhlers Interview, ist verheerend für das Staatsoberhaupt. "Schwadroneur im Schloss Bellevue", schreibt die liberale "Süddeutsche Zeitung", Köhler sei den Soldaten "in den Rücken gefallen". Die konservative "Welt" schreibt über den "präsidialen Fehltritt", die linksliberale "Frankfurter Rundschau" wundert sich: "Man fragt sich, ob das wirklich nur eine unglückliche Formulierung war, oder ob Weltökonom Köhler nicht doch einen blitzartigen Einblick in sein wirkliches Denken gewährt hat".

Ein Bundespräsident, der das Wort nicht beherrscht - das ist der eigentliche Kern der Kritik. Und er trifft.

Im Bundespräsidialamt versuchen sie verzweifelt, die Sache noch einzufangen. Versuchen, den Mann des Wortes zu interpretieren. Ein wohl beispielloser Vorgang. Köhler habe nicht ausdrücklich auf die Afghanistan-Mission der Bundeswehr angespielt, sagt ein Sprecher. Die Äußerungen des Präsidenten bezögen sich auf die vom Deutschen Bundestag beschlossenen aktuellen Einsätze der Bundeswehr wie zum Beispiel die Operation Atalanta gegen Piraterie.


Vergleiche mit Heinrich Lübke
Die Äußerung im Radiointerview war nicht Köhlers einziger Fauxpas während der Afghanistan-Reise. So ließ das Staatsoberhaupt seinen Präsidentenkollegen Hamid Karzai diplomatisch links liegen, machte ihm keine Aufwartung. Die Afghanen waren nicht amüsiert. Auch die deutschen Soldaten irritierte Köhler, als er nach deren Zuversicht fragte, diese aber nicht antworteten. Der Präsident fragte einen US-Soldaten. Dessen Antwort: "Ich glaube, wir können das gewinnen." Köhler darauf zu den Deutschen: "Warum höre ich das nicht von Ihnen?"

Daheim rumorte es schon seit Monaten im Präsidialamt, der Personalverschleiß ist hoch: Referatsleiter und bereits zwei Planungschefs sind gegangen. In Köhlers Amt herrschte Misstrauen, der Chef galt als leicht reizbar. Jeder seiner Reden gingen unzählige Mitarbeiterentwürfe voraus. Köhler strebte immer nach dem Besten.

Trotz seiner rhetorischen Schwächen kam Köhler beim Volk an. In der Beliebtheit rangierte er ganz oben. Die Politik hingegen zeigte sich zunehmend genervt vom "Bürgerpräsidenten" in Schloss Bellevue, der so oft wie kein anderer zuvor Gesetzesvorlagen der Regierung die nötige Unterschrift verweigerte. "Notfalls unbequem" wolle er sein, kündigte Köhler zu Beginn seiner ersten Amtszeit 2004 an.

Viele erhofften sich vom Staatsoberhaupt geistige Führung in der Wirtschafts- und Finanzkrise. Köhler, der gelernte Ökonom - war er nicht der richtige Mann zur rechten Zeit? Einmal bezeichnete er die internationalen Finanzmärkte als "Monster". Das war es dann aber auch. Die große Rede à la Richard von Weizsäcker blieb aus. Der 67-Jährige verstrickte sich im Klein-Klein, zuletzt machte er sich gar Gedanken über den Benzinpreis, der doch "tendenziell höher als tendenziell niedriger sein sollte". Sogar im eigenen Haus verglichen sie Köhler in letzter Zeit mit Heinrich Lübke, dem Pannen-Präsidenten der sechziger Jahre.

Dabei war Köhler mit Vorschusslorbeeren gestartet. Damals im Mai 2004, als die CDU-Vorsitzende Merkel und der FDP-Chef Guido Westerwelle den reformfreudigen Ökonomen zum Präsidenten machten, da feierten sie ihn als Vorboten künftigen schwarz-gelben Glücks. Schon bald erklärte ihn die "Bild"-Zeitung zum "Super-Horst".

Daraus ist nichts geworden. Horst Köhler verlässt das Amt als ein Gekränkter. Er will nur noch weg. Keine zehn Minuten nach seiner Rückzugsankündigung braust schon der schwarze Präsidenten-Mercedes vom Schlossareal.

Kolumbien: Santos und Mockus müssen in die Stichwahl

Der kolumbianische Ex-Verteidigungsminister Juan Manuel Santos ist aus der ersten Runde der Präsidentenwahl am Sonntag überraschend klar als Sieger hervorgegangen. Dennoch gibt es eine Stichwahl.

Jpeg-14797C004FAB424F-20100530-img_24999506_thumbnailDer 58-Jährige, der auf dem Ticket des populären Amtsinhabers Alvaro Uribe antrat kam auf 46,56 Prozent und verpasste einen Sieg gleich im ersten Anlauf damit nur knapp. Uribe selbst durfte laut Verfassung kein drittes Mal in Folge antreten.

In einer Stichwahl muss er nun am 20. Juni gegen den unabhängigen Kandidaten der kleinen Grünen Partei, Antanas Mockus, antreten. Der frühere Bürgermeister von Bogotá schnitt enttäuschend ab und kam auf nur 21,49 Prozent. Fast alle Umfragen vor der Wahl hatten Santos und Mockus in etwa gleichauf bei 34 Prozent gesehen.

Politische Beobachter wiesen in Bogotá darauf hin, dass Santos stärker als erwartet davon profitiert habe, als «Erbe» Uribes ins Rennen gegangen zu sein. Uribe ist Umfragen zufolge bei fast 80 Prozent aller Kolumbianer beliebt. «Herr Präsident, dies ist ihr Triumph», sagte Santos vor jubelnden Anhängern. Er werde Präsident aller Kolumbianer sein, versprach Santos.

Auch Mockus gab sich optimistisch. «Wenn wir innovativ genug sind, können wir die Wahl gewinnen», sagte er in Bogotá. «Heute haben wir ein Ziel erreicht, dass noch im März unerreichbar erschien: die zweite Wahlrunde zu erreichen», betonte er.

Uribe wird hoch angerechnet, dass er die linken FARC-Rebellen zurückdrängen und damit weite Teile des Landes wieder sicherer machen konnte. Die seit mehr als 40 Jahren bestehenden FARC sind jedoch noch nicht besiegt und auch das Drogenproblem bekam Uribe nicht in den Griff. Mockus will ebenfalls die FARC frontal bekämpfen, dies soll jedoch unter strikter Beachtung der Gesetze geschehen. In der Wirtschafts- und Sozialpolitik gibt es kaum Unterschiede zwischen Santos und Mockus.

England: Doppelleben kostet schwulen Staatssekretär den Job

Finanzstaatssekretär David Laws muss nach nur drei Wochen im Amt seinen Hut nehmen, weil er Spesen an seinen (bislang geheimen) Lover weitergeleitet hatte.

Der Liberaldemokrat Laws erklärte am Wochenende seinen Rücktritt, nachdem die konservative Tageszeitung "Daily Telegrah" über die Spesenabrechnungen des 44-Jährigen berichtet hatte. Demnach hat Laws zwischen 2004 und 2009 über 40.000 Pfund (47.000 Euro) an seinen Vermieter in London gezahlt - der Vermieter war aber gleichzeitig der "geheime Liebhaber" des Politikers, wie der "Telegraph" meldet.
Seit 2006 dürfen Spesen laut einer schwammig formulierten Vorgabe aber nicht für Mietzahlungen verwendet werden, wenn der Lebenspartner oder die Lebenspartnerin Nutznießer ist.
Laws sagte, er habe seiner Meinung nach keine Vorschriften missachtet, könne aber wegen des öffentlichen Drucks sein Amt nicht mehr ausführen. Er sehe ein "dass das, was ich getan habe, in gewisser Weise falsch war, auch wenn ich keinerlei finanziellen Nutzen daraus gezogen habe, meine Beziehung geheim zu halten". Zwischen ihm in seinem Partner habe aber keine echte Beziehung bestanden, da er und sein Partner ein "getrennte Privatleben" geführt hätten.

Mit seinem Bericht outete der "Daily Telegraph" Laws. Zuvor hätten nicht einmal enge Freunde und die Familie gewusst, dass der Mann, mit dem er seit elf Jahren zusammen wohnt, auch sein Lebenspartner ist. Boulevardzeitungen haben am Montag damit begonnen, Details aus dem Leben des Paares zu veröffentlichen, etwa gemeinsame Urlaubsfahrten nach Frankreich.

Der Rücktritt ist bitter für die Liberaldemokraten, da Laws als große Hoffnung für seine Partei galt. Zudem verlieren die Konservativen einen der Architekten der brüchigen Koalitionsregierung, der in vielen fiskalischen Fragen mit den Torys einer Meinung ist. Der konservative Premierminister David Cameron hat den Rücktritt bereits bedauert.
Warum gibt es so viele Klemmschwestern in der Politik?
Homo-Aktivisten sehen den Rückzug kritisch: Er zeige, dass Politiker aus Angst vor Ansehensverlust selbst in Parteien, die Schwulen- und Lesbenrechten gegenüber sehr aufgeschlossen sind, ihre sexuelle Orientierung geheim halten müssen. "Warum ist das schon der dritte liberaldemokratische Abgeordnete, der zu einem Coming-out gezwungen werden muss? Die Partei selbst unterstützt doch Homo-Rechte mit vollem Herzen", fragt etwa das Portal pinknews.co.uk.

Die Liberaldemokraten sind die kleinste der drei großen Parteien in Großbritannien - und wegen des Mehrheitswahlrechts stets im Parlament unterrepräsentiert. So erreichten sie bei den diesjährigen Wahlen 23 Prozent der Stimmen, aber nur rund neun Prozent der Sitze im Unterhaus. Nach den Wahlen am 6. Mai konnten sie erstmals seit über 30 Jahren eine Regierungsbeteiligung erreichen, weil weder Labour noch die Torys eine absolute Mehrheit der Sitze erzielten. Allerdings haben die Liberaldemokraten zu vielen Themen - etwa der Europa- oder Steuerpolitik - völlig andere Ansichten als ihr Koalitionspartner.

Israels tödlicher Angriff auf "Solidaritätsflotte" empört Europa

Berlin ist "bestürzt", die Türkei ruft ihren Botschafter zurück, Athen stoppt ein gemeinsames Manöver: Der Einsatz eines israelischen Elitekommando gegen einen Schiffskonvoi für Gaza sorgt für Empörung. Zwei deutsche Abgeordnete und ein schwedischer Bestsellerautor begleiteten die Flotille.
 
 
Ein Elitekommando der israelischen Armee hat am frühen Montagmorgen gewaltsam drei Schiffe der "Solidaritätsflotte" für den Gazastreifen im Mittelmeer übernommen. Beim Sturm auf ein türkisches Passagierboot wurden nach Angaben der israelischen Armee mehr als zehn Menschen getötet. Laut der Organisation "Free Gaza" gab es zudem bis zu 50 Verletzte. Die Schiffe hatten sich nach Angaben einer "Free Gaza"-Sprecherin eindeutig in internationalen Gewässern befunden.
 
Ein Schiff der "Freedom Flotilla"
Ein Schiff der "Freedom Flotilla"Hunderte Elitesoldaten waren offenbar im Morgengrauen von Helikoptern und Schnellbooten an Bord des türkischen Schiffes IHH gekommen. Die israelische Armee teilte mit, ihre Soldaten seien während des Einsatzes unter Beschuss geraten. Die sechs Schiffe seien geentert worden, weil sie die über den Gaza-Streifen verhängte Seeblockade durchbrechen wollten. Die Organisatoren von "Free Gaza" werfen dem Kommando vor, das Feuer auf unbewaffnete Passagiere eröffnet zu haben. Nach Angaben des israelischen Armeerundfunks sollen die Aktivisten versucht haben, den Soldaten die Waffen zu entreißen.
 
Trotz israelischer Warnungen war der aus sechs Schiffen bestehende Konvoi am Sonntag aus internationalen Gewässern bei Zypern aufgebrochen. Die von pro-palästinensischen Gruppen und einem türkischen Menschenrechtsverband gecharterten Schiffe transportieren 10.000 Tonnen Güter. Israels Regierung hatte angekündigt, sie werde die Schiffe abfangen und die Ladung untersuchen.
 
Ein Angebot Israels, die Fracht im nahe der Grenze um Gazastreifen gelegenen Hafen von Aschdod zu entladen und nach einer Kontrolle auf Waffen an die UN zu übergeben, hatten die Organisatoren des Konvois, darunter auch palästinensische Gruppen, abgelehnt.
 
Mit an Bord waren auch Inge Höger und Annette Groth, zwei Bundestagsabgeordnete der Linken. Ihr Schicksal ist noch ungewiss. "Wir wissen noch nicht, was mit ihnen passiert ist", sagte eine Mitarbeiterin von Groth am Montagmorgen. Die Politikerin sei über ihr Mobiltelefon momentan nicht erreichbar.
Mit an Bord: Die Linken-Abgeordnete Annette Groth
 
Mit an Bord: Die Linken-Abgeordnete Annette GrothGroth hatte bereits vor ihrer Reise Schwierigkeiten erwartet, wenngleich nicht in diesem Ausmaß. Sie hoffe, dass sie Gaza erreichen werde und nicht in einem israelischen Gefängnis lande, sagte die Parlamentarierin vor dem Aufbruch aus Berlin. Sollte die kleine Flotte jedoch von der israelischen Marine aufgehalten werden, erwarte sie von der Bundesregierung, dass diese dagegen protestiere. In einem Telefoninterview am vergangenen Dienstag berichtete Grothe aus Kreta, die Aktvisten absolvierten gerade ein Training, das sie auf eine mögliche Konfrontationen mit israelischen Sicherheitskräften vorbereiten solle.
 
Auch der stellvertretende Deutschland-Chef der Organisation Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW), Matthias Jochheim, war mit an Bord. "Wir wissen nichts über sein Verbleiben", sagte eine Mitarbeiterin der Organisation der FTD. "Mit so einem Zwischenfall hatten wir nicht gerechnet, und er auch nicht". Letztmals habe man am Sonntag mit Jochheim Kontakt gehabt.
 
Zu den Begleitern der Flotte gehörte zudem der schwedische Bestsellerautor Henning Mankell und die Friedensnobelpreisträgerin von 1976, Mairead Corrigan Maguire. Auch die 85-jährige Auschwitzüberlebende Hedy Epstein war nach Angaben von IPPNW an Bord eines der Schiffe.
 
Vor dem Zwischenfall hätten Kampfhubschrauber und Jets über der Flotte gekreist, berichtet Raif Hussein von der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft im Gespräch mit der FTD. Hussein selbst war nicht an Bord, jedoch der in Deutschland lebende Palästinenser Nader el Saqa. Der Kontakt zum Schiff sei gegen 5 Uhr morgens abgebrochen.
 
"Wir haben damit gerechnet, dass die Schiffe vielleicht manövrierunfähig gemacht würden", sagte Hussein. Ihm zufolge befand sich der Konvoi noch in internationalen Gewässern. Das erste von insgesamt Schiffen sei angegriffen worden. Ob die deutschen Abgeordneten und Aktivisten auf dem ersten Schiff waren, ist unklar. "Die haben aus taktischen Gründen die Schiffe mehrmals gewechselt", sagte Hussein.
 
Die palästinensische EU-Vertretung in Brüssel sprach von einem "barbarischen Akt". "An Bord haben sich überhaupt keine Waffen befunden", sagte Botschaftsrat Adel Atieh der FTD. "Es ist eine Lüge, wenn behauptet wird, jemand habe das Feuer auf die Israelis eröffnet. Kein einziger Israelischer Soldat ist getötet worden, das sagt alles." Niemand auf dem Schiff habe so einen Zwischenfall erwartet, sagte der Diplomat. "Als die Israelis mitten in der Nacht gekommen sind, haben die meisten Leute auf dem Schiff noch geschlafen."
 
Der Angriff habe mutmaßlich 150 Kilometer vor der israelischen Küste stattgefunden; sagte Attieh, in jedem Fall habe sich der Konvoi in internationalen Wässern befunden. "Das ist staatliche Piraterie", sagte der Palästinenser-Vertreter. An Bord seien ausschließlich Hilfsgüter gewesen.
 
Griechenland bricht gemeinsames Manöver ab
Die Türkei rief aus Protest ihren Botschafter aus Israel ab. Außerdem annulliere die Türkei drei Militärabkommen mit Israel, sagte der türkische Vizeministerpräsident Bülent Arinc am Montag in Ankara. "Wir werden alle Möglichkeiten des internationale Rechts nutzen, Israel zur Verantwortung ziehen". Israel habe Zivilisten angegriffen und vor den Augen der ganzen Welt unmenschlich gehandelt. Die israelische Marine habe sich in internationalen Gewässern wie Piraten verhalten.
 
Die griechische Regierung brach nach den dramatischen Entwicklungen umfangreiche Luftwaffenmanöver mit Israel in der Ägäis ab. Die Manöver hatten vergangene Woche begonnen und sollten bis zum 3. Juni dauern. Dabei wurden Angriffe auf Bodenziele sowie die Treibstoffversorgung von Kampfbombern in der Luft geübt. Die israelischen Maschinen vom Typ F-16 und F-15 waren auf einem griechischen Luftwaffenstützpunkt auf der Mittelmeerinsel Kreta nahe Chania stationiert.
 
Die Bundesregierung äußerte sich "bestürzt" über die israelische Aktion. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) habe in einem Telefonat mit seinem israelischen Kollegen Avigdor Lieberman eine "umfassende Untersuchung" verlangt, teilte Regierungssprecher Ulrich Wilhelm in Berlin mit. Das Schicksal von fünf Bundesbürgern, die mit der "Solidaritätsflotte" unterwegs waren, müsse schnellstmöglich geklärt werden. Bislang habe das Auswärtige Amt dazu keine genaueren Angaben.
 
Catherine Ashton fordert eine umfassende Untersuchung
Catherine Ashton fordert eine umfassende UntersuchungAuch die Europäische Union forderte eine Untersuchung des israelischen Militäreinsatzes. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton äußerte am Montag ihr tiefes Bedauern über die Todesfälle und übermittelte den hinterbliebenen Familien ihr Mitgefühl. Eine Sprecherin von Ashton erklärte: "Im Namen der Europäischen Union fordert sie eine vollständige Untersuchung der Umstände, die dazu führten."
 
Zugleich rief Ashton Israel auf, die Blockade des Gazastreifens für Hilfslieferungen und normale Handelsgüter "sofort und ohne Bedingungen" zu lockern. Auch die Ein- und Ausreise von Personen dürfe nicht länger durch Israel unterbunden werden. Die israelische Blockade-Politik sei "inakzeptabel und politisch kontraproduktiv", kritisierte Ashton.
 
Auch die Fraktion der Sozialisten im Europäischen Parlament verurteilte Israels Vorgehen scharf. "Der Gebrauch tödlicher Gewalt gegen Zivilisten auf diesen Schiffen ist inakzeptabel", sagte Fraktionschef Martin Schulz. "Mit dem Vorgehen, das wir heute auf unseren Fernsehschirmen sehen, hat Israel eine Linie überschritten." Vize-Fraktionschefin Véronique de Keyer sagte, nach dem Vorfall müsse die Blockade gegen Gaza komplett aufgehoben werden.
 
Die internationale Organisation "Free Gaza" will mit Hilfsgütern die palästinensische Bevölkerung des Gazastreifens unterstützen. Solidaritätsfahrten von Schiffen sollen auch öffentlichkeitswirksam auf die Blockade des Gebiets durch Israel hinweisen. Free-Gaza-Spendensammlungen werden in Deutschland unter anderem unterstützt von der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft, Pax Christi und IPPNW.
 
Mehrfach wurden Fahrten von "Solidaritätskonvois" mit Dutzenden bis Hunderten Aktivisten an Bord und prominenten Unterstützern organisiert. In August 2008 erreichten laut Free Gaza zwei Schiffe mit Hilfsgütern im Wert von 200.000 Euro von Griechenland über Zypern Gaza. Im Oktober 2008 brachten 26 Aktivisten auf einem weiteren Schiff medizinische Hilfsgüter nach Gaza.
 
Während des Gaza-Krieges endete eine Solidaritätsfahrt Ende Dezember 2008 kurz vor der Küste. Nach Angaben der Aktivisten wurde ihr Boot nach Schüssen vor den Bug von einem israelischen Kriegsschiff gerammt und zum Abdrehen gezwungen. Bei einem weiteren Versuch im Juni 2009 wurde ein Hilfsschiff vor Gaza abgefangen und in den israelischen Hafen Ashdod gezwungen.
 
An dem aktuellen Konvoi war nach Angaben der Organisatoren ein Passagierschiff und zwei Cargoschiffe aus der Türkei beteiligt, die medizinische Hilfsgüter und Baumaterial geladen hatten. Zwei weitere Schiffe sollen aus Griechenland gekommen sein, eines aus Portugal. Insgesamt hatte Free Gaza geplant, rund 10.000 Tonnen an Hilfsgütern nach Gaza zu bringen.
 
Israel hat das kleine Palästinensergebiet am Mittelmeer nach Machtübernahme der radikalen Hamas-Organisation im Juni vor drei Jahren nahezu vollständig von der Außenwelt abgeriegelt. Mit der Blockade will Israel das Einschmuggeln von Waffen verhindern.

Gnade für Schwule in Malawi

Malawis Präsident hat nach einem Treffen mit Uno-Generalsekretär Ban Ki-moon das zu langer Haft verurteilte homosexuelle Paar begnadigt.

UN- Generalsekretär Ban Ki-Moon beim Treffen mit Malawis Präsident Bingu wa Mutharika
UN- Generalsekretär Ban Ki-Moon beim Treffen mit Malawis Präsident Bingu wa Mutharika
Kapstadt/Lilongwe/Harare . Malawis Präsident Bingu wa Mutharika hat überraschend ein zu langer Haft verurteiltes schwules Paar begnadigt. Er habe dessen sofortige Freilassung veranlasst, sagte der Präsident am Sonnabend bei einem Treffen mit Uno- Generalsekretär Ban Ki Moon in der Hauptstadt Lilonge. Stephen Monjeza (26) und Tiwonge Chimbalanga (20) waren wegen „unzüchtigen Verhaltens“ und „naturwidriger Handlungen“ zu 14 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Das Weiße Haus begrüßte die Entscheidung Mutharikas; es sei zu hoffen, dass sie „einen Dialog eröffnet (...) und weltweit eine Botschaft sendet“.

Malawis Staatschef war anzusehen, wie schwer ihm der Gnadenakt fiel. „Die Männer haben falsch gehandelt, falsch gehandelt“, betonte er auf dem roten Sofa im Amtszimmer seines Präsidentenpalastes sitzend. Homosexualität sei ein „Verbrechen gegen unsere Kultur“. Deswegen würde das schwulen-feindliche Gesetz auch nicht geändert. Seine Landsleute dürften gespürt haben, dass ihr Präsident auf den enormen Druck der Weltöffentlichkeit reagierte – denn das vor zehn Tagen gefällte Urteil gegen das schwule Paar hatte international Empörung ausgelöst.

Ban Ki Moon würdigte den „mutigen“ Schritt Mutharikas, betonte aber, das Gesetz gegen Homosexuelle verstoße gegen die Menschenrechte. Es „diskriminiert“ und „kriminalisiert“ eine Minderheit, beklagte der UN-Chef. Der Präsident saß mit dunkel getönter Brille und versteinertem Gesicht daneben.

Freunde des schwulen Paares waren am Wochenende auf der Suche nach einer sicheren Zuflucht. Befürchtet wurden Angriffe auf die Schwulen, die schon nach der Urteilsverkündung vom Mob wüst beschimpft worden waren. Der Richter hatte die Höchststrafe gegen die beiden damit begründet, dass die Öffentlichkeit „geschützt“ werden müsse. Die Männer waren nach ihrer Verlobung im Dezember festgenommen worden. Malawi ist nur eines von etwa drei Dutzend afrikanischer Staaten, in denen Homosexuelle gesetzlich verfolgt werden.

So beschuldigten zwei Aktivisten des Schwulen- und Lesbenverbandes GALZ die Polizei in Simbabwe, sie tagelang gefoltert zu haben. Ellen Chademana und Ignatius Muhandi wurden zwar am Donnerstag gegen Kaution freigelassen, müssen sich aber wegen angeblicher „Beleidigung“ von Präsident Robert Mugabe und Besitz von Pornografie vor Gericht verantworten. Der Anwalt der beiden, Dzimbabwe Chimbga, sagte, die Männer seien bei den Verhören geschlagen und gequält worden.

Der seit 30 Jahren selbstherrlich regierende Präsident Mugabe ist für seine Ausfälle gegen Homosexuelle bekannt. Jüngst nannte er sie „schlimmer als Schweine und Hunde“. Homosexualität sei „Wahnsinn“ und eine „ausländische Praxis, die in unser Land importiert wurde“. Homosexuelle haben in Afrika noch einen langen Weg zur Gleichberechtigung vor sich.

Freitag, 28. Mai 2010

Köhlers Afghanistan-Äußerungen: Missverständlich, aber in der Sache berechtigt

Von Birgit Wentzien, SWR

"Eine neue Kriegsdebatte", "brandgefährlich", "Kanonenpolitik aus dem Schloss Bellevue?" - Fette und wohlgesetzte Schlagzeilen, flink und prominent bestückt. Ganze fünf Tage nach dem Besuch des Bundespräsidenten in Afghanistan und einem von ihm gemachten Interview im Regierungsflieger auf dem Rückweg nach Berlin schlagen seine Aussagen Wellen. Horst Köhler erntet auf eine Art und Weise Aufmerksamkeit, wie er sie sicher nicht hat ernten wollen.

Horst Köhler hat in einer Antwort zwei Themen angesprochen und das eine nicht vom anderen abgesetzt und getrennt. Das kann man missverstehen, wenn man es in einem Atemzug hört.

Was Köhler zu Bundeswehreinsätzen sagte:

"In meiner Einschätzung sind wir insgesamt auf dem Wege, in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe, mit dieser Außenhandelsabhängigkeit, auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren - zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch negativ auf unsere Chancen zurückschlagen, bei uns durch Handel Arbeitsplätze und Einkommen zu sichern. Alles das soll diskutiert werden - und ich glaube, wir sind auf einem nicht so schlechten Weg."
Quelle: Bundespräsident Köhler auf dem Rückflug von Afghanistan nach Berlin gegenüber Deutschlandradio Kultur, 22.05.2010,
Der Bundespräsident hat den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr erwähnt und die Erwartungen der Bevölkerung auf einen schnellen Abzug aus Afghanistan und das Mandat der Vereinten Nationen für den Einsatz und die Verantwortung dafür und die vielen durchaus berechtigten Fragezeichen rund um diesen Einsatz.

Und Horst Köhler hat als zweites Thema deutsche Wirtschaftsinteressen und freie Handelswege erwähnt und gesagt, ein Land von der Größe Deutschlands müsse auch wissen, dass im Zweifel und im Notfall militärische Einsätze notwendig seien, um die Landesinteressen zu wahren.

Seine Kritiker sind auch nicht besser

Zwischen beiden Themen ist keine Köhler-Pause, keine neue Frage, kein Absatz, sondern nur ein Punkt. Der Bundespräsident, so betrachtet, atmet einmal durch, macht aber zwischen Bundeswehr-Einsatz auf der einen Seite - und möglichen weiteren militärischen Einsätzen für Wirtschaftsinteressen auf der anderen Seite keinen von der Sache her vollkommen klaren, nachvollziehbaren deutlichen Trennungsstrich. Aber den machen seine Kritiker auch nicht.

Audio: Wirbel um Äußerungen von Horst Köhler

AudioTorsten Mandalka (RBB), ARD Berlin 28.05.2010 08:34 | 2'55
Download Download des Audios: mp3-Format, Ogg Vorbis-Format

Nur - zur Klarstellung Köhlers und seiner Kritiker gehört auch diese Anmerkung - unbequem, schwierig und noch mit einem Tabu belegt: Die Nato denkt längst über die mögliche Sicherung beispielsweise von Handelswegen oder Erdölleitungen durch Militär nach. Im Weißbuch der Bundeswehr gibt es dazu ein Kapitel und öffentlich besprochen wurde das Thema vor Jahren bereits auf der Münchner Sicherheitskonferenz.

Immerhin: Die Aufmerksamkeit für den Einsatz ist hoch!

Geäußert hat sich da übrigens zum Thema auch der damalige deutsche Außenminister. Nachdenklich und vorsichtig und natürlich immer im Rahmen der Verfassung. Der Mann heißt Frank-Walter Steinmeier. Er ist heute Chef der größten Oppositionsfraktion, der SPD. Aus den Reihen der Sozialdemokraten werden die Äußerungen des Bundespräsidenten nun mit dem Titel "Kanonenboot-Politik" bedacht.

Woraus folgt: Wenn zwei das Gleiche sagen, ist es noch lange nicht dasselbe. Und - unter'm Strich: Die Aufmerksamkeit für den Einsatz der Bundeswehr-Soldaten in Afghanistan ist hoch! Das immerhin!

Reykjavik erwartet den Staats-Streich

Aus Reykjavik berichtet Henryk M. Broder

Satire an die Macht: Bei den Kommunalwahlen in Island hat eine Spaßpartei beste Chancen, das Rathaus in Reykjavik zu erobern. Der Komiker Jon Gunnar Kristinsson peilt sogar das Amt des Bürgermeisters an. Island rätselt: Meint er es eigentlich ernst?

Wer mit Jon Gunnar Kristinsson, alias Jon Gnarr, durch Reykjavik geht, den beschleicht das Gefühl, einen Pop-Star zu begleiten. Autofahrer hupen, Menschen bleiben stehen, um ihm die Hand zu drücken und "alles Gute!" zu wünschen, einige wollen ein Autogramm haben. Aber der 43-jährige Isländer, der ein wenig wie Boris Becker aussieht, ist kein Popstar - er kann kein Instrument spielen und Musik nicht leiden -, sondern ist Gründer und Vorsitzender einer politischen Partei namens "Besti flokkurinn", der "besten Partei". Und er möchte der nächste Bürgermeister von Reykjavik werden.

Glaubt man den Umfragen, könnte der Wunsch in Erfüllung gehen. Jeder zweite Reykjaviker will bei den Kommunalwahlen am Samstag Jons Partei wählen. Mit sechs bis acht Sitzen im 15-köpfigen Rat der Stadt würde die "Besti flokkurinn" dann den Bürgermeister stellen. Es wäre das erste Mal in der Geschichte Islands, dass eine Partei, deren Programm es ist, kein Programm zu haben und andere Parteien zu parodieren, ein Spitzenamt besetzt, ein Triumph der Satire über die Realität, "also genau das, was unsere Politiker uns eingebrockt haben", sagt Jon Gnarr und schaut dabei so unschuldig drein, als ginge es ihm um eine Senkung der Kita-Gebühren für alleinerziehende Mütter.

Aber der Mann meint es ernst. 1967 in Reykjavik als Sohn eines kommunistischen Polizeibeamten geboren, schmiss er die Schule mit 14 hin und kam für zwei Jahre in ein Internat für schwer erziehbare Jugendliche auf dem Lande. Zurück in der Stadt machte er "mal dies und mal das", wohnte "mal hier und mal dort", bis er einen Job als Pfleger in einem Heim für geistig und körperlich Behinderte annahm. Mit 19 schrieb er seinen ersten Roman ("Die Stadt der Mitternachtssonne"), mit 20 wurde er zum ersten Mal Vater. Das nächste Buch, Jahre später, war eine "fiktive Autobiografie" mit dem Titel "Der Indianer".

Seine Karriere als Komiker und Unterhalter begann er Anfang der neunziger Jahre beim staatlichen Rundfunk RUV mit einer wöchentlichen Radio-Sit-Com von jeweils sieben bis zehn Minuten Dauer: "Hotel Volkswagen". Es war die Geschichte eines isländischen Automechanikers, der aus Liebe zu VW nach Deutschland zieht und dort ein Hotel eröffnet.

In einem kleinen Land wie Island setzen sich Talente schnell durch

Jon wurde von einem privaten Sender abgeworben, wo er jeden Morgen "kontroverse Persönlichkeiten" interviewte, an denen in Island kein Mangel herrscht. Er trat als Komiker im Radio, Fernsehen und in Spielfilmen auf und eines Tages zum Katholizismus über und forderte die protestantischen Isländer auf, seinem Beispiel zu folgen, was ihm viele übel nahmen. Dabei wollte er doch nur, sagt Jon, darauf aufmerksam machen, "wie wichtig Demut für die Menschen" sei, wichtiger als Geld, Macht und Wohlstand. Er ließ keine Gelegenheit aus anzuecken, wobei er seine Freunde und Feinde immer im Ungewissen ließ, ob er es so meinte, wie er es sagte oder sie nur zu unbedachten Reaktionen verleiten wollte. "Ich mache einige Jahre Ferien auf diesem Planeten und will in dieser Zeit alles ausprobieren, so dass ich mir eine Meinung bilden kann, ohne mich auf andere zu verlassen."

Will er uns auf den Arm nehmen?
Als im Oktober 2008 das isländische Bankensystem kollabierte und ganz Island in eine schwere Finanz- und Psycho-Krise stürzte, geriet auch Jon aus der Bahn. "Bis dahin habe ich mich nicht für Politik interessiert. Die Politiker machten ihr Ding und ich machte meines."

Ende des Jahres 2009 wurde es ihm klar, dass die Politik eine zu ernste Sache ist, als dass man sie den Politikern überlassen könnte. Er gründete die "Besti flokkurinn", "um Einfluss zu nehmen und die Menschen zu ermutigen, ihre Interessen zu artikulieren".

Und so wie er während seiner katholischen Phase wie ein katholischer Missionar geredet hat, so spricht er heute wie ein Politiker, der sich vorgenommen hat, die Schäden zu reparieren, die andere verursacht haben. Wieder fragen sich die Isländer: Meint er es wirklich so oder will er uns auf den Arm nehmen?

Denn: Die beste aller Parteien hat keine Agenda, kein Programm, nur eine Losung: "Alles ist machbar!" Klassische Politik, erklärt Jon, sei nur "absurdes Theater", "fade Routine" und "ein Paket ohne Inhalt".

Er habe, sagt der Kandidat, vor Jahren versucht, Deutsch zu lernen und sich eine Linguaphone-CD gekauft. Der einzige Satz, der ihm im Gedächtnis blieb, war: "Hören Sie gut zu und wiederholen Sie!" So sei es auch in der Politik. Die Leute würden darauf trainiert, das Gehörte zu wiederholen. Und während korrupte Politiker scheinheilig ein "Ende der Korruption" fordern, will Jon die Korruption nur "transparent machen", das sei ehrlicher und realistischer.

"Reykjavik soll schöner", der Laekjartorg im Zentrum der Stadt, ein Platz von "extremer Hässlichkeit", umgebaut werden. "Wir brauchen mehr Plätze für ältere Menschen, wo sie Schach und Boule spielen können. Und Parkanlagen, in denen Hunde frei herumlaufen dürfen." Das chaotische Nahverkehrssystem müsse vollkommen umstrukturiert werden. Und was ist mit der Müllabfuhr, dem Sorgenkind aller Kommunen? "Die ist okay, da klappt alles."

Jon Gnarr ist überzeugt, dass die "beste Partei" am Samstag den Sprung ins Rathaus schaffen wird. Er hat einen smarten Wahlkampf geführt, der ihn fast gar nichts gekostet hat. Statt teure Anzeigen zu schalten, hat er die Medien für sich eingespannt; sein Freiwilligen-Team wird von einer 27-jährigen gut aussehenden Fachfrau geführt, Heida Kristin Helgadottir, die mit einer Arbeit über "Pluralismus und Elitismus in der isländischen Politik" ihren Bachelor gemacht hat. Gefragt, wie die Wahlen ausgehen werden, antwortet sie ganz souverän: "Samstagabend kurz nach zehn Uhr werden wir es wissen."

Volksverhetzung zweiter Klasse

Lena geht baden und Irland gewinnt


Während im zweiten Semifinale die letzten Kandidaten fürs Finale des Grand Prix gewählt wurden, badet Lena der Fanmenge, zu der auch der deutsche Botschafter gehört.

Von Michael Götz-Pijl

Die deutsche Botschaft mietete eigens für den Empfang von Lena die Fähre "Color Fantasy" an. Gleich nach einer kurzen Ansprache des Botschafters durfte Lena auf die Bühne - und intonierte eine knappe halbe Stunde ihre Lieder. Am Ende ertönte natürlich ihren Hoffnungstitel "Satellite", den das ganze Schiff mitsang - einschließlich des Botschafters.

Neben Lena war auch die Jury anwesend, die in diesem Jahr für Deutschland die Punkte vergeben darf. Gemäß den neuen Regeln der EBU stellt jedes Land eine Fachjury zusammen die ihrerseits neben dem Publikum Punkte für alle Länder (außer das eigene) abgeben darf. Die Punkte vom Publikum und Jury werden zu gleichen Teilen gewertet.

Für Deutschland besteht die Jury in diesem Jahr aus Hape Kerkeling, Schlagerstar Mary Ross, Singer-Songwriter Johannes Oerding, Reporter Hadnet Tesfai und WDR-1-Live-Programmchef Jochen Rausch. Alle sind bekennende Mitglieder des Lena-Fanclubs.

Den Ernst des Lebens mussten am Donnerstag aber die Beiträge aus 17 Ländern im zweiten Semifinale erfahren. Wie erwartet lagen Freud und Leid nah beieinander. Für die Jurys war übrigens nicht nur die Show, die in Deutschland nur im Digitalkanal Eins Festival live übertragen wurde, sondern auch die Generalprobe wichtig: Denn laut den Regeln der EBU müssen die Jurys 50 Prozent ihrer Entscheidung vom Auftritt bei der letzten Probe abhängig machen.
Nackte Männerkörper sind raus
Dass Bulgarien, Slowenien und Litauen nicht weiterkamen, war eine kleine Überraschung. Bulgarien war in diesem Jahr definitive der Augenschmaus eines jeden schwulen Fans. So bot Miro mit seinem Song "Angel Si Ti" (Du bist ein Engel) und seiner Bühnenshow nackte durchtrainierte Männerkörper. Auch sein markantes Gesicht und seine traumhaften Augen regen die Fantasie an. Das Lied - einer der wenigen Dance-Songs - wurde perfekt vorgetragen. Nichts mehr war von Miros Sturz in der zweiten Semifinal-Probe zu sehen, als er gestützt von seinen Tänzern die Bühne verlassen musste.

Unerwartet war auch das Ausscheiden von Litauen, bot doch die Gruppe InCulto mit Minishorts und Standup-Comedy reichlich Aufheiterndes zwischen den vielen Balladen. Die Auswahl der Weitergekommenen zeigt, dass der Contest wieder ernster werden könnte.

Ein wahrer Schock war das Aus von Schweden, das sich seit 1994 immer für das Finale qualifizieren konnte. Dabei versuchten Anna Bergendahl und ihre Helfer mit der für Skandinavien gewohnt routinierten Nummer "This is my Life" jeden Trick, um die nächste Runde zu erreichen. So erhielt jeder Zuschauer in der Halle Leuchtstäbe, die während Ihres Auftrittes für die rechte Stimmung sorgen sollten - ihren Effekt aber wohl verfehlten.

Mit Kroatien und der Gruppe Feminnem ist eine weitere sichere Bank auf den Finaleinzug gescheitert. Ihr Song "Lako je sve" (Alles ist einfach) scheiterete trotz der drei wundervoll anzusehenden Frauen, die am Ende des Songs ein großes Plüschherz hervorzauberten. Und mit den Niederlanden und der Schweiz schieden zwei Gründernationen und große Fanlieblinge aus.

 

Die ukrainische Rihanna

Wie immer mit dabei sind dagegen die Türkei, Rumänien, Armenien und Aserbaidschan. Die beiden letzteren zählten bereits im Vorfeld zu den Favoriten. Bei Georgien und der Ukraine hat sicher die stimmliche und künstlerische Qualität der Interpretinnen den Auschlag gegeben. So klingt Alyosha, die ukrainische Vertreterin, wie Rihanna und legte alle Kraft und Power in ihre Stimme, als Sie Ihren Song "Sweet People" (Liebe Leute) darbot.

Dänemark wird derzeit zwar nicht zum engen Kreis der Favoriten gezählt, aber das Lied "In a Moment Like This" von Chanée & N´Evergreen ist sehr eingängig. Israel konnte einfach nur überzeugend. Der fesche Harel Skaat - getaucht in weißes Licht und umgeben von einem Streichorchester - war einfach herzzerreißend und sicherte dem Land - wahrscheinlich mit recht vielen Punkten - erneut den Einzug ins Finale.

Sehr zur Freude der zahlreich angereisten Fans aus Irland kehrt der Rekordmeister nach zweijähriger Pause wieder ins Finale zurück - und das mit einer waschechten Siegerin, die sich vor Ort durch ihre frische, umgängliche Art viele Sympathien erworben hat. Niamh Kavanagh gewann bereits 1993 den Song Contest für die grüne Insel und feierte nach 17 Jahren mit "Its for you" ein gelungenes Comeback. Vielleicht lag es auch daran, dass Johnny Logan, der den Contest drei Mal für Irland gewann (davon zwei mal als Interpret und ein Mal als Songschreiber) dabei war und ihr sichtlich alle Daumen drückte.

Eine letzte positive Überraschung ist die Truppe aus Zypern, die diesmal ohne Punktehilfe aus Griechenland weiterkam (das Problemland stimmte im ersten Semifinale ab). Dem süßen Waliser Jon Lilygreen traute eigentlich zunächst kaum jemand den Einzug ins Finale zu. Doch mit einem guten Lied "Life will be better in Spring" (Das Leben wird im Frühling besser sein) und einem tollen Auftritt ist er nun weiter. Zuletzt stand Zypern 2005 in Kiew auf der großen Bühne.

Jetzt bleibt nur noch das Finale, in dem vor allem Armenien, Aserbaidschan und Deutschland als Favoriten gelten. Allerdings wird in Oslo gemunkelt, dass es dieses Jahr mal zu einem Außenseitersieg kommen könnte. Am Sonntagmorgen wissen wir mehr.


Das Finale des Eurovision Song Contest wird am Samstag ab 21 Uhr in Das Erste und Das Erste HD live ausgestrahlt
Mit Galerie: http://www.queer.de/galerie.php?gal_id=576

"Don´t ask, don´t tell" vor dem Aus

"Marching On" von Timbaland feat. OneRepublic ZDF-WM-Song 2010

Mainz (ots) - "Marching On" heißt der offizielle ZDF-Song bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika. Das Stück wird jeweils die "Bilder des Tages" am Ende der ZDF-WM-Sendetage musikalisch untermalen.

Der Song ist ein weiteres Ergebnis der kreativen Zusammenarbeit zwischen dem Hip-Hop-Musiker und Produzenten Timbaland und der amerikanischen Pop-Rock-Band OneRepublik. Bereits 2007 gab es mit "Apologize" einen gemeinsamen Welthit. "Marching On" ist sowohl auf dem aktuellen Timbaland-Album "Shock Value 2" als auch auf dem zweiten Album "Waking Up" von OneRepublic zu finden.

Der Titel wird zum Abschluss der Übertragung des Fußball-Länderspiels Ungarn - Deutschland am Samstag, 29. Mai 2010, zum ersten Mal im ZDF zu hören sein.

In den ZDF-WM-Programmtrailern und in den Vorspännen zur ZDF-WM-Berichterstattung kommt der offizielle FIFA-WM-Song "Waka Waka - Time for Africa" von Shakira feat. Freshlyground zum Einsatz

Mephistopheles Köhler

Was machen deutsche Soldaten in Afghanistan? Warum hat Deutschland sich am Kosovo-Krieg beteiligt? Warum beteiligt sich die deutsche Marine an Anti-Piraterie-Maßnahmen vor dem Horn von Afrika? Natürlich, es geht bei allen diesen Militäreinsätzen primär um die direkten und indirekten Interessen der deutschen Wirtschaft und ganz profan um Macht. Krieg – dieses ungehörige Wort, das heute niemand mehr auszusprechen wagt – ist nun einmal nach Clausewitz eine Fortführung der Politik mit anderen Mitteln. Clausewitz ist immer noch aktuell, es liegt an der Politik, für welchen Zweck militärische Mittel eingesetzt werden. Über diese Dinge kann man offen und frei diskutieren – sie als Diskussionsgrundlage zu verwenden, ist zweckdienlich und ehrlich und ein deutlicher Fortschritt zur verlogen Diskussion über die vorwärtsgewandte Vaterlandverteidigung am Hindukusch. Dafür sollte man Horst Köhler Respekt zollen, auch wenn man sicherlich nicht mit seiner Position übereinstimmen muss. Der Präsident spricht Tacheles und das ist gut so.
“Meine Einschätzung ist aber, dass wir insgesamt auf dem Wege sind, doch auch in der Breite der Gesellschaft zu verstehen, dass ein Land unserer Größe mit dieser Außenhandelsorientierung und damit auch Außenhandelsabhängigkeit auch wissen muss, dass im Zweifel, im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege, zum Beispiel ganze regionale Instabilitäten zu verhindern, die mit Sicherheit dann auch auf unsere Chancen zurückschlagen – negativ durch Handel, Arbeitsplätze und Einkommen.”
Horst Köhler

What are we fighting for?

Kriege werden nie aus altruistischen Gründen geführt, es geht nicht um Brunnen, Schulen oder gar Frauenrechte. Bestenfalls spielen utilitaristische Motive eine Rolle und die Brunnen, Schulen und Frauenrechte fallen als positive Kollateralschäden bei der eigenen Nutzenmaximierung ab. Die Kriege des Westens werden nicht wegen der Freiheit der Menschen, sondern wegen der Freiheit der Märkte geführt. Die Big Player der freien Märkte sitzen in den Zentren des Westens und immer, wenn sich rückständische Marktwirtschaften dem freien Wettbewerb aussetzen, sind es die Big Player, die sich die neuen Märkte einverleiben.
Freie Märkte, von denen der Westen maßgeblich profitiert, können jedoch nur in einem politischen System entstehen, das pluralistisch und repräsentativ demokratisch ist. Hinter den Truppen des britischen Empires kamen die Händler. Auf dem Höhepunkt des Imperialismus kontrollierten mächtige Kolonialhandelsgesellschaften wie die Britische Ostindien-Kompanie sogar „eigene“ Armeen, die unter der Flagge der Kompanie und der des Königs Interessenpolitik mit militärischen Mitteln durchsetzen. Der westliche Imperialismus des 21. Jahrhunderts ist da eher „sophisticated“ – auch heute kommen die „Kompanien“ im rußgeschwärzten Windschatten der Armeen, sie treten allerdings nicht mehr direkt als Kriegsparteien auf, sondern betreiben politische Landschaftspflege.

Chapeau mon president

Horst Köhler hat Recht – die Kriege des Westens werden primär deshalb geführt, um wirtschaftliche Interessen durchzusetzen. Dies hilft dem Handel, dem Einkommen und in gewisser Art und Weise sogar den Arbeitsplätzen. Der moderne Imperialismus richtet zum Wohl des Zentrums Schaden in der Peripherie an. Es gibt gewichtige Gründe, diesen Imperialismus abzulehnen, zumal er fundamental so ziemlich allen völkerrechtlichen Grundlagen widerspricht. Wer, wie Köhler, diesen Imperialismus nicht ablehnt, sollte ihn allerdings auch selbstbewusst und offensiv verteidigen und sich nicht hinter dem Bau von Schulen und Brunnen, den Frauenrechten oder der Sicherheit im Heimatland verstecken. Über Köhlers ehrliche Positionen kann man diskutieren, über das bigotte Lügengebäude der Tagespolitik nicht.
Kein Wunder, dass sowohl Union als auch SPD und Grüne vor Wut im Karree springen, da Köhler ihnen in die Parade gefahren ist. Nur die FDP, die hinter Köhler steht, und die Linke, die froh ist, endlich jemanden gefunden zu haben, der offen die Kriegsgründe anspricht, können mit der ungewöhnlich offenen Art des Präsidenten gut leben. Die wahren Kriegstreiber in diesem Lande sind die moralinsauren Lügner, die Kriege, die nichts mit Humanität zu haben, mit einem humanitären Mäntelchen versehen, da sie dem Volk Sand in die Augen streuen.
Ja, wir führen Krieg am Hindukusch, um die zentral- und südasiatischen Märkte und die Handelswege für Brennstoffe unter demokratischer, also marktliberaler, Kontrolle zu halten. Ja, damit verdient unsere Wirtschaft im Erfolgsfall viel Geld und der Steuerzahler trägt das Risiko, da er den Militäreinsatz finanziert. Ja, unsere Söhne, Töchter, Brüder und Schwestern sterben für die finanziellen Interessen unserer Eliten – war es denn je anders?

Mephistopheles Köhler

Köhler hat dies ausgesprochen, was im Land, in dem man noch nicht einmal das Wort Krieg in den Mund nehmen darf, ein Dammbruch ist. Bleibt zu hoffen, dass die präsidiale Offenheit nun auch die Diskussionskultur revolutioniert. Wer gegen den Krieg ist, muss schließlich auch wissen, wogegen er ist. Köhler hat mit seiner Aussage wahrscheinlich mehr für die Anti-Kriegs-Bewegung getan, als es tausende Leitartikel in linksalternativen Medien je tun könnten. Kein Wunder, dass die bellizistischen Kommentatoren der Qualitätsmedien nun vor Wut schäumen. Ein wunderbares Beispiel für den „Mephisto-Effekt“ – unser ehemalige Sparkassendirektor ist in diesem Fall ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will, und stets das Gute schafft.

Spaniens Generation Weder-Noch

Aus Madrid berichtet Katharina Peters

Sie studieren nicht, und sie arbeiten auch nicht - mit diesem Klischee kämpfen Spaniens Jugendliche. 40 Prozent von ihnen haben keine Stelle, der Jobmarkt muss dringend reformiert werden. Ministerpräsident Zapatero gerät immer stärker unter Druck. Die jungen Menschen wenden sich ab.

Ihre Hochzeit hat Sonsoles García verschoben. Sie hatte eine große Feier im Sommer 2009 geplant. In der Marketing-Abteilung ihrer Firma war sie gerade befördert worden. Doch dann verlor García ihren Job. Die Karriere vorbei, das Fest geplatzt. Sie ist mit 28 Jahren eine von vielen Arbeitslosen in Spanien. Und reiht sich seit einem Jahr immer wieder in die Schlange vorm Arbeitsamt ein.

Anderthalb Stunden wartet sie an diesem Freitag in Madrider Stadtteil Moratalaz, nur um zu erfahren, dass sie keine Beihilfe mehr bekommt. Die Luft ist stickig in dem überfüllten Raum. Die Wände waren mal weiß, heute sind sie abgestoßen. Alte, Junge, Männer, Frauen, Spanier und Einwanderer lehnen sich an.

Mit rund 20 Prozent hat Spanien die zweithöchste Arbeitslosenquote der Europäischen Union. Doch am härtesten hat es die Jugendlichen getroffen. Von den unter 25-jährigen Spaniern haben 40 Prozent keinen Job - innerhalb von zwei Jahren hat sich die Quote verdoppelt. Eine Generation, die K.o. geschlagen wurde, sagen einige. Mutlos und lustlos, sagen andere.

Eine verlorene Generation.
"Du kannst alles erreichen, was du dir vornimmst", verspricht eine schöne Brünette auf einem Poster im Arbeitsamt. Davor füllen zwei Männer mittleren Alters Anträge für Arbeitslosengeld aus.

Einen Job finde ich schnell wieder, dachte Sonsoles García am Anfang. Sie fuhr nach England und meldete sich zu einem Sprachkurs in Bournemouth an, sie blieb sieben Monate. Arbeit gab es in Spanien ohnehin nicht, auch danach nicht. Das Schlimmste ist, dass ich mich ständig sorge, sagt García. Sie ist 28 Jahre alt, hatte sich eine Wohnung gekauft, die Hypothek zahlen nun ihre Eltern. Damit hat sie noch Glück. Das Arbeitsamt hat sie mal zu einem Kurs über Umweltbildung geschickt, doch das war's. Seminare gibt es jetzt auch nicht mehr.

"Gefangen in einem Gefühl der Nutzlosigkeit"
Kurse? Borja Sánchez hat sich schon ein paarmal eingeschrieben, aber gebracht hat das auch nichts. Mit 17 ist er von der Schule abgegangen, hat als Fahrstuhlmechaniker gearbeitet, immer nur befristet. Deswegen erhält er jetzt kein Arbeitslosengeld, aber einen neuen Job findet er auch nicht. Er ist 21, seine Mutter unterstützt ihn.

Borja gehört zu jenen, die wohl am stärksten unter der Krise leiden: junge Männer, schlecht ausgebildet. Als Spaniens Wirtschaft florierte und der Bausektor expandierte, da begingen viele junge Männer einen "historischen Fehler", sagt der Soziologe Luis Garrido. In den Boom-Jahren ließen sich viele von der Idee verführen, dass der Aufschwung niemals endet. Sie arbeiteten auf dem Bau, eine Ausbildung hatten sie nicht. "Sie hatten Geld in der Tasche. Und jetzt können sie nichts mehr bezahlen", sagt Garrido. Die Schulabbrecher leiden nun unter der Krise, 30 Prozent der spanischen Jugendlichen verlassen die Schule ohne mittleren Bildungsabschluss. Garrido fasst das so zusammen: "Je jünger, je schlechter ausgebildet, desto mehr von der Krise betroffen."

Das Problem lähmt die ganze Gesellschaft. Denn wer keinen Job findet, verlässt auch nicht das Elternhaus: Das Phänomen "Nesthocker" hat sich in der Krise noch verschärft. Und wer arbeitslos wird, kehrt wieder zur Familie zurück. Julio Camacho vom Jugendinstitut Injuve nennt das den "Yo-Yo-Effekt". Die Jugendlichen werden von den Eltern aufgefangen - und bleiben von ihnen abhängig.

Vielleicht ist das der Grund, warum die Jugendlichen nicht protestieren. Warum sie nicht auf die Straße gehen. "Wir sprechen von jungen Männern ohne Studium, die bei ihren Eltern leben, gefangen in einem Gefühl der Nutzlosigkeit, dass sich Mühe nicht lohnt", sagt der Soziologe Enrique Gil Calvo.

Der Chef des IWF verlangt eine radikale Reform
"Unbedingt" müsse der Arbeitsmarkt reformiert werden, forderte der ehemalige Wirtschaftsminister Miguel Boyer erst am Mittwoch in der Zeitung "El País". Der Chef des Internationalen Währungsfonds, Dominique Strauss-Kahn, wurde im spanischen Fernsehen noch deutlicher: Der Arbeitsmarkt funktioniere nicht, eine "radikale Reform" sei dringend notwendig. Zu viele Menschen seien arbeitslos, zu viele hätten nur vorübergehend Arbeit und müssten mit befristeten Verträge leben, mahnte Strauss-Kahn am Montagabend.

Tatsächlich gibt es eine große Kluft in Spanien: Angestellte mit unbefristeten Verträgen profitieren von einem rigiden Kündigungsschutz und erhalten bei einer Entlassung sehr hohe Abfindungen. Gekündigt wird daher vor allem den Beschäftigten mit Zeitverträgen. Jeder Vierte arbeitete im vergangenen Jahr unter diesen Bedingungen. In Deutschland war es nur jeder Zehnte. Besonders die jungen Menschen müssen häufig diese kurzfristigen Verträge - die sie einfach nur "Müllverträge" nennen - annehmen. Neueinsteiger haben kaum Chancen auf einen regulären Job. Viele junge Akademiker bezeichnen sich selbst als "Mileuristas", zu Deutsch 1000-Euro-Verdiener.

Das Arbeitsministerium hat vorgeschlagen, die Vergütung für Unter-30-Jährige anzuheben und den Jugendlichen mehr und bessere Ausbildungsverträge zu sichern. "Die Jugend hat allen Grund, kritisch zu sein", sagt Maravillas Rojo, Generalsekretärin für Beschäftigung im Arbeitsministerium. "Wir haben ihn nicht richtig vermittelt, wie sich die Arbeitswelt verändert hat. Wir müssen ihnen mehr Möglichkeiten eröffnen."

Zapatero peitscht Sparpaket durch das Parlament
Spaniens Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero gerät dabei immer stärker unter Druck. Nicht nur der IWF, auch die europäischen Partner drängen zu Reformen. Hatte er sich vor wenigen Wochen noch optimistisch gegeben, von steigenden Steuereinnahmen nach überwundener Rezession gesprochen und den Beamten Gehaltserhöhungen gewährt, vollzog Zapatero nun eine Kehrtwende.

Am Donnerstag peitschte er einen harten Sparplan mit nur einer Stimme Mehrheit durch das Parlament. Das Paket soll helfen, das Staatsdefizit zu drücken. Binnen drei Jahren will Zapatero den Haushalt um 65 Milliarden Euro entlasten, dafür die Löhne im öffentlichen Dienst kürzen und Sozialausgaben zurückführen. Doch das Votum fiel denkbar knapp aus - keine Oppositionspartei stimmte mit ihm.

Der sozialistische Premier steht nun für harte soziale Einschnitte. Da hilft auch keine "Reichensteuer", die er einführen will. 81 Prozent der Spanier meinen einer Umfrage von "El País" zufolge, dass die Regierung auf die Krise nicht die richtige Antwort gefunden hat.

Ausgerechnet das wichtige Projekt Arbeitsmarktreform stockt. Die Gespräche von Regierung, Gewerkschaften und Wirtschaftsvertretern sind festgefahren. "Die Dinge laufen nicht allzu gut, und es ist möglich, dass die Regierung den Arbeitsmarkt über ein königliches Dekret reformieren muss", gab der Fraktionssprecher der regierenden Sozialisten, José Antonio Alonso, zu. Wenn es bis zum Monatsende keine Einigung gebe, würden die Sozialisten das Gesetz im Alleingang durchboxen. Am Freitag wurden die Gespräche erneut vertagt.

Die Gewerkschaften gaben sich schon zuvor kampfeslustig. Der Chef der Gewerkschaft CCOO kündigte am Montag an, das Land stehe einem Generalstreik näher als noch vor einer Woche. Dennoch wäre es ihm lieber, wenn es nicht so weit komme. "Ein Generalstreik wäre für Spanien das Schlimmste", sagte er. Eine Einigung bei den Arbeitsmarktreformen sei weiterhin möglich.

Zapatero macht denn auch Druck: Er rufe die gesamte Gesellschaft auf, "so bald wie möglich zu einer Einigung zu kommen, damit junge Menschen leichter Arbeit finden und diejenigen mit befristetem Arbeitsvertrag sich größere Hoffnungen auf eine sichere Stelle machen können". Das Arbeitsministerium hofft, mit einer Arbeitsvermittlung im Internet mehr junge Menschen zu erreichen. "Wenn wir miteinander verbunden sind, ist es einfacher", wirbt das Ministerium auf Plakaten und in Annoncen.

Generation "Ni-Ni"
Doch der Zusammenhalt bröckelt. Schon sind die Jugendlichen als Generation "Ni-Ni" abgestempelt. Die Abkürzung steht für "ni estudian, ni trabajan" - weder studieren sie, noch arbeiten sie. Eine faule Jugend, die sich bei den Eltern ausruht und sich von ihnen aushalten lässt, das ist das Bild, das durch Spanien schwirrt. In einer Reality-Soap wurden Exemplare dieser Generation über mehrere Wochen gefilmt, wie sie von Psychologen dazu angeleitet wurden, "Projekte zu finden, die ihnen Spaß bringen und sie in ihrem künftigen Leben motivieren", so die Beschreibung des Senders. Das Programm hatte magere Einschaltquoten und löste vor allem durch sexuelle Übergriffe der Insassen Empörung aus.

Doch nicht die "Ni-Ni" sind das Problem - laut Jugendinstitut Injuve sind tatsächlich nur äußerst wenige Jugendliche faule "Ni-Nis" -, sondern die fehlenden Chancen. Einige junge Menschen wandern aus. Andere studieren wieder.

Auch Sonsoles García hat sich an der Fernuniversität für einen MBA eingeschrieben. Sie wollte in ein paar Jahren Kinder bekommen, aber diesen Plan hat sie, wie die Hochzeit, erst einmal verschoben: "Um Familie zu haben, braucht man ja Geld."

Wie Spanien den Bankenkollaps verhindern will

Das Land erholt sich mühevoll von einer schweren Rezession. Der Bankensektor schwächelt. Die Pleitegefahr unter den Sparkassen wächst und bringt das Finanzsystem in Gefahr. Die Notenbank hält dagegen und lässt auch den Sektor bluten. Ein Erklärstück. von Tobias Bayer  Frankfurt und Georgia Hädicke, Frankfurt
 
In Spanien ist die Immobilienblase geplatzt. Doch die Aufräumarbeiten im Bankensektor beginnen erst langsam. Nach Schätzung der Notenbank nahm der Finanzsektor Immobilien im Umfang von 60 Mrd. Euro auf die Bilanz - durch Zwangsvollstreckungen, Käufe oder Umschuldungen ("Debt-to-assets-Swaps"). Gerade die Sparkassen - Cajas genannt - ächzen unter den Lasten. Bisher allerdings mussten "nur" zwei Institute gestützt werden.
 
Der Notenbank geht der Prozess zu langsam. Sie forciert den Totalumbau im Sparkassensektor. Am Donnerstagabend verabschiedete sie deshalb härtere Abschreiberegeln für Immobilienkredite, die - so die Absicht - die Cajas zum Handeln zwingen. FTD.de stellt die neuen Vorschriften vor - und beantwortet die wichtigsten Fragen.
 
Die spanische Notenbank verschärft die Bewertungsvorschriften für Immobilienkredite. Künftig müssen Kredite, die 90 Tage lang nicht bedient wurden, innerhalb eines Jahres vollständig wertberichtigt werden. Bisher muss für derartige notleidende Darlehen die notwendige Vorsorge stufenweise innerhalb von zwei bis sechs Jahren gebildet werden.
 
Darüberhinaus müssen die Banken künftig schneller und drastischer ihre Risikovorsorge anpassen. Übernimmt ein Kreditinstitut eine Immobilie, weil der Schuldner nicht zahlen kann, dann wird nach der neuen Vorschrift ein Puffer von 30 Prozent fällig, sofern die Vermögenswerte für mehr als zwei Jahre auf der Bilanz bleiben. Bereits nach zwölf Monaten muss die Risikovorsorge bei 20 Prozent liegen.
 
Die härteren Regeln dürften die Ertragskraft der Banken erheblich schwächen. Nach Schätzungen der Notenbank würde eine Anhebung der Risikovorsorge um zwei Prozent den Vorsteuergewinn 2010 um durchschnittlich zehn Prozent drücken. Die Konsequenz davon: Der Druck auf die Cajas, sich zusammenzuschließen, steigt.
 
"Das ist auf jeden Fall positiv zu werten. Die Regeln beschleunigen den Konsolidierungsprozess", sagte Citigroup-Analyst Ignacio Moreno. "Das alles kommt rechtzeitig. Investoren hätten sonst vielleicht befürchtet, dass die Notenbank ihre Aufsichtspolitik etwas abmildert." In den nächsten Wochen seien deshalb mehr Zusammenschlüsse von Cajas zu erwarten, so Moreno.
 
Spaniens Wirtschaftsministerin Elena Salgado macht den Cajas BeineSpaniens Wirtschaftsministerin Elena Salgado macht den Cajas Beine
 
Die spanische Notenbank hat ein ehrgeiziges Ziel. Von 45 Sparkassen sollen bis Mitte dieses Jahres nur 15 bis 20 übrig bleiben. Wegen Widerständen in der Lokalpolitik liegen die Cajas hinter dem Plan zurück. Laut ihrem Verband verhandelten momentan 23 Institute über ein Zusammengehen. Wirtschaftsministerin Elena Salgado fordert die Regionalregierungen und Sparkassen auf, ihre persönlichen Interessen zurückzustellen.
 
Richtig erhört wird die Botschaft aber nicht. Die Sparkasse Bancaja aus Valencia sitzt bei einer Bilanzsumme von 111 Mrd. Euro auf einem Immobilienrisiko von 4,5 Mrd. Euro. Das entspreche rund 116 Prozent des Eigenkapitals, hieß es in einem Bericht von Nomura. Dennoch beharrt das Institut laut einem Bericht von "El País" auf seiner Eigenständigkeit. Eine Sitzung des Verwaltungsrats sei mit eben diesem Resultat geendet, schrieb die Zeitung.
 
Eine Fusion ist kein Allheilmittel. Oft verschmelzen die Sparkassen nur auf dem Papier. Sie bilden gemeinsam ein Sistema Institucional de Protección (SIP). Dabei vereinen die beteiligten Geldinstitute ihr Kapital in einer Holding und vereinbaren, sich gegenseitig Liquidität zu versorgen, wenn einer der Partner ins Straucheln geraten sollte. Die Sparkassen behalten jedoch ihren eigenen Rechtsstatus, eine wirkliche Verschmelzung findet nicht statt. Dadurch werden die nötigen Einschnitte wie Filialschließung und Mitarbeiterabbau oft umgangen.
 
Besonders beliebt sind die SIP oder auch "kalte Fusionen" bei den Regionalpolitikern, die ihren Einfluss auf lokale Geldhäuser möglichst behalten wollen. Daher stimmen sie einem SIP meist eher zu, besonders wenn sich Sparkassen aus unterschiedlichen Regionen zusammenschließen. Zuletzt kündigten die vier Sparkassen Caja Mediterráneo, Cajastur, Caja Cantabria und Caja Extremadura solch eine kalte Fusion an, die sie zum fünftgrößten Institut in Spanien machen wird. Da die SIPs ebenfalls den Restrukturierungsfonds für Banken (den spanischen FROB) anzapfen dürfen, erhalten diese vier Sparkassen ebenfalls Geld: 1,6 Mrd. Euro. Das ist der Höchstsatz, den Institute beantragen können.
 
Die vom spanischen Staat unterstützte Sparkasse CajaSur wird nach Angaben der spanischen Notenbank eine Finanzspritze rund 800 Mio. Euro aus dem Bankenrettungsfond FROB erhalten. Nach Einschätzung der Banco de Espana ist dieser Betrag notwendig, damit das Institut wieder auf die vorgeschriebene Deckung von 8 Prozent ihres Eigenkapitals kommt. Die Notenbank hatte am Pfingstwochenende einschreiten müssen, als Verhandlungen zwischen der CajaSur und der Unicaja über einen Zusammenschluss endgültig gescheitert waren. Sonst hätte der Sparkasse, die der katholischen Kirche gehört, die Pleite gedroht.
 
Die spanischen Banken hängen am Tropf der EZBDie spanischen Banken hängen am Tropf der EZB
Die spanischen Banken müssen bis Ende nächsten Jahres nach Schätzung der Deutschen Bank 125 Mrd. Euro an fällig werdenden Anleihen umschulden. Auf die Sparkassen entfalle rund die Hälfte davon, schrieb Deutsche-Bank-Analyst Carlos Berastain in einem Researchbericht: "Für uns ist Liquidität die größte Sorge. Aus Sicht der Refinanzierung sehen wir die Sparkassen in einer sehr schwachen und riskanten Position."
 
Die Institute sind deshalb abhängig von der Europäischen Zentralbank (EZB). Sie hinterlegen in Frankfurt im Rahmen eines Repogeschäfts Wertpapiere und erhalten im Gegenzug Bargeld. Laut der spanischen Notenbank erhöhten die Banken ihre Leihgeschäfte mit der EZB im April auf den höchsten Stand seit 18 Monaten. 89,4 Mrd. Euro nahm der Sektor über Darlehen mit einer Laufzeit von drei Monaten auf. Das entspricht etwa 13,5 Prozent der gesamten von der EZB ausgereichten Mittel. "Wir gehen davon aus, dass den spanischen Banken genügend Wege offenstehen, um ihren Liquiditätsbedarf zu decken", schrieb Berastain.
 
Spanien hat weiter - im Gegensatz zu Griechenland - freien Zugang zum Kapitalmarkt. Allerdings verteuert sich die Geldaufnahme. Diese Woche nahm das Land 3,1 Mrd. Euro über die Emission von drei- und sechsmonatigen Schatzwechseln auf. Zwar gab es genügend Nachfrage, die geforderte Rendite war jedoch gegenüber Ende März um 32 beziehungsweise 78 Basispunkte höher, gegenüber Ende April lag der Zusatzaufschlag bei 13 und 53 Basispunkten. "Diese Spitze bei den Refinanzierungskosten ist der Angst um die spanischen Sparkassen geschuldet", sagte David Watts, Analyst beim Researchhaus Creditsights.
 
Alarmierend ist aber der Rückgang der Kaufinteressen für spanische Staatspapiere. Lag die Nachfrage nach dreimonatigen Schatzwechseln Mitte Februar noch beim sechsfachen des Emissionsvolumens, so sackte die Quote bis Mai auf den Faktor 3,1 ab. Bei sechsmonatigen Schwatzwechseln ging die Überdeckung von 3,2 auf 1,9 zurück. Auch bei längeren Laufzeiten stockt es. So musste sich Spanien bei der Begabe von 12- bis 18-monatigen Papieren nur mit 6,44 Mrd. Euro anstatt der angepeilten 8 Mrd. Euro zufrieden geben. "Die rückläufige Nachfrage ist noch besorgniserregender als die höheren Kosten", sagte Watts.

Zapateros Regierung kämpft ums Überleben

Sein Sparpaket bekam er mit hauchdünner Mehrheit durchs Parlament. Trotzdem könnten die Tage des spanischen Regierungschefs gezählt sein. Bei der Arbeitsmarktreform und beim Haushalt steht sein Amt auf dem Spiel.
 
Nach dem Zittersieg bei der Abstimmung über das spanische 15-Mrd.-Euro-Sparpaket warten auf die sozialistische Minderheitsregierung von José Luis Rodríguez Zapatero bereits neue Herausforderungen. An der Arbeitsmarktreform und dem Haushalt für 2011 könnte seine Regierung zerbrechen, zumal sie von der Unterstützung der Opposition abhängig ist.
 
Spaniens Premier Zapatero steht an der Spitze einer ...
Spaniens Premier Zapatero steht an der Spitze einer Minderheitsregierung
Auch auf den traditionellen Verbündeten, die Gewerkschaften, kann Zapatero nicht setzen. Im Gegenteil: Die Arbeitnehmerorganisationen drohen mit Streiks, um das Sparprogramm zu Fall zu bringen. Die Opposition fordert bereits Neuwahlen.
 
Die politische Unsicherheit dürfte auch die Finanzmärkte beunruhigen. Spanien steht dort unter besonderer Beobachtung. Investoren befürchten, dass die viertgrößte Volkswirtschaft der Euro-Zone angesichts der Schuldenkrise und seiner hohen Verbindlichkeiten wie Griechenland ins Straucheln geraten könnte.
 
Das Sparprogramm passierte das Parlament am Donnerstag mit der denkbar knappen Mehrheit von einer Stimme. Es ging nur durch, weil sich Abgeordnete von Regionalparteien der Stimme enthielten. Die Sozialisten verfügen über keine eigene Mehrheit im Parlament. "Sie sind wirklich komplett auf sich alleine gestellt. Sie haben ihre 169 Stimmen, und das war's", sagte Juan Diez vom Institut Analisis Sociologicos, Economicos y Politicos. Eine Abstimmungsniederlage wäre wohl das Ende der Regierung Zapatero gewesen.
 
Bei Neuwahlen dürften die Sozialisten kaum eine Chance haben. In Meinungsumfragen liegen die oppositionellen Konservativen von der Partido Popular deutlich vor ihnen: Laut der Zeitung "El Paìs" liegen Zapateros Sozialisten neun Prozentpunkte zurück. Gerade die desolate Lage auf dem Arbeitsmarkt macht Zapatero zu schaffen: Die Arbeitslosenquote beläuft sich auf 20 Prozent.
 
Eine Reform der verkrusteten Strukturen auf dem Arbeitsmarkt gilt als Schlüssel zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit des Landes. Doch die Verhandlungen zwischen Regierung, Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden laufen schlecht. Das räumt selbst die Regierung ein. Im Notfall müsste sie die Reformen im Alleingang durchsetzen.

Nun hat Spanien auch noch ein Deflationsproblem

Die Regierung spart, die Wirtschaft muss wettbewerbsfähiger werden. Aus Sicht einiger Volkswirte droht Spanien das Schicksal Japans - und eine lange Phase fallender Preise. Nur Optimisten halten dagegen. von Tobias Bayer  Frankfurt
 
Der harte Sparkurs der spanischen Regierung schürt die Angst vor einer Deflation. Da dem Land aufgrund der Mitgliedschaft in der Euro-Zone die Abwertung der Währung nicht möglich ist, ist nach Ansicht von Volkswirten Lohnzurückhaltung der einzige Weg, um wieder an Wettbewerbsfähigkeit zu gewinnen. Kombiniert mit geringeren Staatsausgaben könnte das eine Periode fallender Preise einläuten "Das ist ein Anpassungsmechanismus, um wieder wettbewerbsfähiger zu werden", sagte Luigi Speranza, Volkswirt bei BNP Paribas.
 
Erste Anzeichen gibt es. Im April war die Kerninflation - das ist der Anstieg der Verbraucherpreise, wobei Energie und Lebensmittel ausgeklammert werden - zum ersten Mal seit Beginn der Datenaufzeichnung negativ. Zum Vergleich: Der europäische Durchschnitt lag bei einem Plus von 0,8 Prozent. Das ist bemerkenswert, da die Teuerungsrate Spaniens normalerweise über dem europäischen Durchschnitt liegt.
 
Im Mai legten die Verbraucherpreise nach einer ersten Schätzung um 1,8 Prozent zu. Das ist etwas mehr als erwartet. Klaus Baader, Volkswirt bei Société Générale, geht indes davon aus, dass die Kerninflation gegenüber April nur um 0,1 Prozent zunahm. "Die Differenz zwischen der Haupt- und der Kernrate wird sehr groß bleiben. Das liegt an der Verteuerung von Alkohol, Tabak und Energie infolge von Steuererhöhungen", sagte Baader.
 
Für das Land ist die Preisentwicklung gefährlich. Spanien erholt sich von einer zweijährigen Rezession. Doch die Arbeitslosigkeit liegt bei rund 20 Prozent. Zudem ist der spanische Bankensektor angeschlagen. Die Sparkassen - Cajas genannt - ächzen unter problematischen Immobilienkrediten. Sinkt die Teuerung, steigt die reale Schuldenlast.
Impulse von der Regierung sind nicht zu erwarten. Ministerpräsident José Luis Rogríguez Zapatero verschärft den Sparkurs, um das das drittgrößte Haushaltsdefizit in der Euro-Zone von 11,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu senken und damit internationale Investoren zu beruhigen. Die Regierung strebt bis 2013 den Abbau auf drei Prozent an.
 
Zapatero brachte deshalb ein zusätzliches Sparpaket im Umfang von 15 Mrd. Euro auf den Weg, das am Donnerstag durch das Parlament verabschiedet wurde. Die Einschnitte treffen vor allem die Rentner und die Beamten. Zudem soll die Mehrwertsteuer von 16 auf 18 Prozent erhöht werden. Um die wütenden Proteste der Gewerkschaften zu beruhigen, verordnete Zapatero seinen Ministern eine Gehaltskürzung und stellte baldige Steuererhöhungen für die rund 50.000 spanischen Großverdiener in Aussicht.
 
Die Ratingagenturen begrüßen das, sehen aber Risiken wegen des Widerstands. "Das alles geht in die richtige Richtung", sagte Kreditanalystin Myriam Fernandez de Heredia von Standard & Poor's (S&P) Bloomberg TV. "Allerdings besteht das Risiko, dass die Sparpläne nicht umgesetzt werden." Die S&P-Analystin drängt Madrid zu weiteren Schritten. Wichtig sei die Reform des Arbeitsmarkts. Eine solche "Flexibilisierung" würde die Kreditwürdigkeit des Landes positiv beeinflussen.
 
Einsparungen der Regierung allein werden Spanien nicht helfen. Seit 1990 kletterten die Lohnstückkosten in dem südeuropäischen Land um 20 Prozent. Einige Analysten sind allerdings der Ansicht, dass Deflation dennoch nicht das wahrscheinlichste Szenario darstellt. "20 Prozent höhere Lohnstückkosten bedeuten nicht automatisch, dass Spanien die Lohnstückkosten jetzt um 20 Prozent drücken muss, um seine Leistungsbilanz wieder auszugleichen", sagte Gilles Moec, Analyst der Deutschen Bank.
 
Sein Argument: Das Wiedererlangen der Wettbewerbsfähigkeit hängt auch von der Lohnentwicklung im Ausland ab. "Damit die spanischen Exporte mit dem gleichen Tempo wachsen wie die Nachfrage aus dem Ausland, reicht es aus, dass sich die Lohnstückkosten stabilisieren. Sie dürfen nicht schneller wachsen als im Ausland. Die Geschwindigkeit der Anpassung der Leistungsbilanz hängt dann von der heimischen und ausländischen Nachfrage ab", schrieb Moec in einem Researchbericht.
 
In einem Modell kommt er unter bestimmten Annahmen zum Schluss, dass das Leistungsbilanzdefizit in knapp drei Jahren geschlossen werden kann - und das ohne Deflation. "Die Rechnung zeigt, dass es einen gangbaren Weg für die spanische Wirtschaft geben kann." Angenehm wird das dennoch nicht: Das Wachstum werde in den kommenden Jahren unter einem Prozent liegen. Andere Länder hätten solch Phasen auch schon durchgemacht: "Deutschland wuchs zwischen 2000 und 2005 jährlich nur um 0,5 Prozent."