Samstag, 31. Juli 2010

Polizei: Knöpfen und Klagen

Von Guido Kleinhubbert 
 Münstersche Polizisten beim Uniformieren: "Das akzeptieren wir nicht mehr"
  • Polizisten in NRW wollen das Anziehen als Dienstzeit anerkannt bekommen.
  • In erster Instanz hat ein Beamter gewonnen, das Land befürchtet Millionenkosten.
Acht Minuten vor dem Schichtwechsel betritt Polizeihauptkommissar Hartmut Rulle das Treppenhaus der Wache Münster-Nord. Er geht eine Etage nach unten, läuft über einen vollverkachelten Kellerflur und erreicht eine Tür, hinter der leise Männerstimmen zu hören sind. Was da gerade hinter der Tür passiere, sei eine Sache fürs Gericht, findet Rulle.

Der Mann von der Gewerkschaft der Polizei (GdP) klopft an, öffnet und tritt in einen Raum voller teilentkleideter Polizisten. Die Beamten schlüpfen vor ihren Holzspinden gerade in beige-grüne Diensthosen, zerren an den Klettverschlüssen ihrer ballistischen Unterziehwesten, machen Doppelknoten in ihre Funktionsschuhe oder spannen das Dienstkoppel, an dem Pistole, Handschellen und das Reizgassprühgerät befestigt sind.

Die Polizisten tun, was jeden Tag Millionen Menschen tun in Deutschland: Sie legen ihre Dienstkleidung an. Aber sie wollen dafür künftig entlohnt werden.

Uniformiert und ausgerüstet
Denn wie man in diesem Umkleideraum ja sehe, erklärt Rulle, müssten die Beamten sich bereits einige Minuten vor dem offiziellen Schichtwechsel in der Wache einfinden. Nur so sei es ihnen möglich, den Vorschriften entsprechend pünktlich uniformiert und ausgerüstet zu sein. Das Problem: Der einzelne Polizist bekomme diese Minuten, die er an seinem Arbeitsplatz verbringe, aber weder bezahlt, noch dürfe er sie abfeiern. So schenke er dem Land Nordrhein-Westfalen fürs An- und Ausziehen jeden Tag etwa eine Viertelstunde seiner Freizeit. "Das akzeptieren wir nicht mehr", sagt Rulle. Denn man müsse mal nachrechnen: 15 Minuten am Tag bedeuteten etwas mehr als einen halben Tag pro Monat und eine ganze Woche im Jahr.

Der Münsteraner Kreisgruppenvorsitzende Rulle und seine Mitstreiter vom Landesverband der GdP kämpfen deswegen dafür, dass ihre etwa 16.000 Kollegen im Wach- und Wechseldienst nun einen Ausgleich für das unentgeltliche Uniformieren bekommen, etwa eine Woche Extra-Urlaub. Wahlweise sollten die Beamten in Deutschlands bevölkerungsreichstem Bundesland das Recht erhalten, die Minuten fürs Knöpfen und Knoten auf ihrem Arbeitszeitkonto gutzuschreiben. Wer das dann zum Beispiel 30 Jahre lang anspare, könne mindestens ein halbes Jahr früher in Pension gehen, schätzt Rulle.

Auf dem Weg zu mehr Freizeit sieht es gar nicht schlecht aus für die Gewerkschaft. Denn Anfang Juli hat das Verwaltungsgericht Münster im Sinne eines klagenden Polizeioberkommissars und GdP-Vertrauensmannes entschieden, der die sogenannte Rüstzeit als Dienstzeit anerkannt haben wollte. Das Urteil hat noch keine Rechtskraft, weil das Land NRW Berufung eingelegt hat - und die Sache nun vom Oberverwaltungsgericht in Münster klären lassen will.

Es geht um viel
Für das Land geht es um viel: Um die Personallücken auszugleichen, die großzügigere Urlaubs- oder Überstundenregelungen verursachen würden, müssten etwa 400 zusätzliche Beamte eingestellt werden. Kosten: rund 20 Millionen Euro.

Dass vor deutschen Gerichten um Kleidung und Körperpflege gestritten wird, kommt immer wieder mal vor. Ein Müllmann wollte Geld fürs Duschen, verlor aber; der Koch eines Selbstbedienungsrestaurants ging bis ans Bundesarbeitsgericht, weil er fürs Anziehen am Morgen und fürs Ausziehen am Abend bezahlt werden wollte, unterlag dort aber seinem Arbeitgeber. Eine Krankenschwester wiederum wollte den Weg von ihrer Station zum Umkleideraum als Arbeitszeit angerechnet bekommen - und bekam Recht.

Zumeist seien es allerdings keine Angestellten, sondern Beamte, die mit ihren Arbeitgebern um Minuten feilschten. Die täten sich "wegen des gesicherten Dienstverhältnisses" etwas leichter, sagt Rechtsanwältin Sabrina Klaesberg, deren Kanzlei die Klage vor dem Verwaltungsgericht Münster vertrat.

"Schutz und Sicherheit"
Das Gericht begründete seine Entscheidung unter anderem damit, dass die Polizeiuniform nicht für den privaten Gebrauch tauge. Im Gegensatz etwa zum Anzug eines Bankangestellten sei die Dienstkleidung eines Polizisten "eine allein auf Gewährung von Schutz und Sicherheit ausgerichtete Ausrüstung". Es sei zudem eine "ungerechtfertigte Ungleichbehandlung", dass den Motorradkollegen und Fahrradstreifen das Anlegen ihrer Leder- und Radlerkluft sehr wohl als Dienstzeit anerkannt werde.

Für die GdP sind die NRW-Kollegen schon seit Jahren die Stiefkinder der deutschen Polizei. Die Beamten hätten in den vergangenen Jahren "sehr viele Zumutungen" hinnehmen müssen, klagt GdP-Landeschef Frank Richter. So sei zum Beispiel die wöchentliche Arbeitszeit von 38,5 Stunden auf 41 erhöht und das Weihnachtsgeld erheblich gekürzt worden. Der Rechtsstreit um die Rüstzeit ist insofern auch ein bisschen als Rache zu verstehen.

Richter lässt daher auch keinen Zweifel daran aufkommen, dass er im Falle eines Erfolgs am Oberverwaltungsgericht auf einen personellen Ausgleich für die urlaubenden Beamten bestehen würde. Schließlich gehe es doch um die Sicherheit des Landes.

Freitag, 30. Juli 2010

Afghanistan-Einsatz: Blutiger Juli für US-Truppen

Es ist ein Rekord: Der Juli ist für die US-Truppen in Afghanistan der verlustreichste Monat seit Beginn der Offensive vor neun Jahren. Und die Nato rechnet mit weiteren Angriffen. Während nun die ersten ausländischen Soldaten abziehen, erstarken die Taliban.



Die Bomben explodierten am Donnerstag im Süden Afghanistans und rissen drei US-Soldaten in den Tod. Der Tag markierte damit einen traurigen Höhepunkt für die US-Truppen am Hindukusch: Allein in diesem Monat starben 63 Soldaten, es ist damit der verlustreichste Monat seit Beginn des Einsatzes am Hindukusch vor neun Jahren.

Immer mehr tote Soldaten, immer mehr Verwundete: US-Präsident Barack Obama muss eine immer schwierigere Mission in Afghanistan verteidigen. Erst am Donnerstag unterzeichnete er ein Gesetz über die Finanzierung der Truppenverstärkung - 59 Milliarden Dollar sind vorgesehen für 30.000 zusätzliche Soldaten. Nach der kurzfristigen Aufrüstung soll ab Sommer 2011 dann mit dem Abzug der Truppen begonnen werden.

Doch es wird eng für Obama, der für Dezember eine umfassende Übersicht und Bewertung seiner Afghanistan-Strategie angekündigt hat. Sein Abzugsversprechen wird von der US-Öffentlichkeit zunehmend als unrealistisch beurteilt. Denn im Herbst sind Parlamentswahlen in Afghanistan, die Nato geht davon aus, dass die Extremisten im Land dann noch stärker angreifen werden.

Zudem steht er durch die Veröffentlichung von Tausenden Militär- Geheimdokumenten aus Afghanistan durch die Internetplattform WikiLeaks unter Druck. SPIEGEL, "New York Times" und "Guardian" hatten diese vorab erhalten, analysiert und ausführlich darüber berichtet.


Während die USA ihre Truppen verstärken, ziehen andere ihre Armee ab. Die niederländischen Soldaten verlassen Afghanistan am Sonntag nach vier Jahren. Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen lobte ihren Einsatz als "Maßstab für andere". Die Armeeführung der Niederlande fand ebenfalls lobende Worte für das erfolgreiche Engagement, doch es gibt auch viel Kritik.

Gegner des Abzugs bemängeln, dass die Niederländer ihre Mission nicht zu Ende gebracht hätten. Rasmussen hatte darum gebeten, den Afghanistan-Einsatz um ein Jahr zu verlängern - darüber zerbrach im Februar die Regierung in Den Haag. Es blieb beim Abzugstermin für die 1950 niederländischen Soldaten. Sie werden nun durch Soldaten aus den USA, aus Australien, Singapur und der Slowakei ersetzt.

Zynische Glückwünsche kamen von den Taliban - sie feierten den niederländischen Abzug. "Wir möchten den Bürgern und der Regierung der Niederlanden von ganzem Herzen dazu gratulieren, dass sie den Mut hatten, diese unabhängige Entscheidung zu fällen", sagte Taliban-Sprecher Kari Jusuf Ahmadii in einem am Donnerstag veröffentlichten Gespräch mit der niederländischen Zeitung "Volkskrant".

Experten warnen, der Abzug bringe die bislang erzielten Fortschritte in Gefahr. "Man zieht nicht ab, wenn beginnt, Erfolg zu haben," sagt der Leiter des Haager Zentrums für Strategische Studien, Rob de Wijk. Der Chef der niederländischen Soldatengewerkschaft Acom, Jan Kleian, sagt, obwohl mehr als 24 Niederländer bei dem Einsatz starben, wollten die Soldaten gar nicht abziehen. "Sie wollen beenden, was sie begonnen haben; die Mission ist nicht erfüllt." Auch der Präsident der Soldatengewerkschaft AFMP, Wim van den Berg, plädiert für ein langfristiges Engagement: "Es dauert 20 oder 30 Jahre, Sicherheit in ein solches vom Krieg erschüttertes Land zu bringen."

Doch der Einsatz ist auch in anderen europäischen Ländern und den USA umstritten - ein Einsatz über 20 Jahre würde wohl große Proteste bewirken. Obama steht ein viel näheres Datum bevor: 2012 bewirbt er sich um eine Wiederwahl als Präsident. Bis dahin soll die Lage in Afghanistan unter Kontrolle sein.

Mittwoch, 28. Juli 2010

Im falschen Film: Wie Friseurlehrling Cumali zum Dichter wurde


Bücher lesen? Nö, lieber kicken gehen. Rechtschreibung? Geh mir fort! Der Deutsch-Türke Cumali Zengin, 18, hatte ganz andere Interessen, als sich Gedanken über Sprache zu machen. Doch dann schrieb er Liebeslyrik und ist heute ein preisgekrönter Dichter - mit einer miserablen Deutschnote.



Wenn Cumali Zengin das Deutschbuch aufschlägt, Seite 89, kann er es nicht richtig glauben. Er, der gerade eine Ausbildung zum Friseur macht, in einem Schulbuch. Als Vorbild. Als Dichter. "Dabei bin ich einer, der oft zu spät kommt und auch mal seine Hausaufgaben nicht macht", sagt er.

Doch Cumali, 18, der von sich selbst sagt, dass er noch nie freiwillig ein Buch gelesen habe, wird nun vielen Schülern als Dichter bekannt sein. "Erste große Liebe" heißt sein Werk. 16 Verse ist es lang.

In der Stadt
am Rande eines Hauses
sah ich dort
das erste Mal
meine große Liebe
alles klar
doch jetzt
der Traum zerplatzt

Schwarz gelocktes Haar
an deiner Seite
lieben gelernt
meine Seele gewärmt
verlassen
Schicksal entscheidet
kein Gedicht
das Leben
Es steht links oben auf Seite 89, rechts daneben sein Foto: Ein dunkelhaariger Jugendlicher grinst spitzbübisch in die Kamera. Aus einem Kasten erfahren die Schüler, dass Cumali 1991 geboren ist, die türkische Staatsangehörigkeit hat und den Hauptschulabschluss. Unter dem Gedicht stehen Aufgaben: Schüler sollen sich etwa über Cumalis Sprachrhythmus Gedanken machen.

Cumali schrieb sich seine Enttäuschung von der Seele
Hätte Cumali vor zwei Jahren nach seinem Hauptschulabschluss einen Ausbildungsplatz bekommen, er wäre wohl nie auf die Idee gekommen, ein Gedicht zu schreiben. Er landete damals im Übergangssystem, das Jugendliche wie ihn auffangen, das den Stillstand verhindern soll. In Herrenberg nahe Stuttgart machte er sein Berufseinstiegsjahr an der Hilde-Domin-Schule. Die hat der Seite "Schularten" auf ihrer Homepage das Bonmot eines italienischen Dichters vorangestellt: "Der Mensch weiß erst dann, was er leisten kann, wenn er es versucht."

Für Cumali hieß das: Unterricht ohne Chance auf einen weiteren Abschluss, mit wöchentlichen Praxistagen im Sägewerk, mit Unterricht zu Dingen, die ihn wenig interessierten. Und wozu sollte er sich Gedichte anhören, geschweige denn selbst eines schreiben?

Doch seine Lehrerin und die Schulsozialarbeiterin ließen nicht locker. Sie wollten den Jugendlichen einmal etwas anderes zeigen - und luden den Schriftsteller Walle Sayer, 49, ein. Er las Gedichte vor, dann waren die Schüler dran. Cumali steckte die Kopfhörer seines MP3-Players in seine Ohren und kritzelte seine Gedanken auf ein Papier. Die drehten sich um Liebe: Seine Beziehung zu einem Mädchen war gerade zu Ende gegangen. Die russischstämmigen Eltern lehnten es ab, dass ihre Tochter einen Türken zum Freund hatte.

Cumali schrieb sich seine Enttäuschung von der Seele. "Das kam so aus dem Bauch heraus", sagt er heute, als stammten die Worte seines Gedichts von irgendjemand anderem, nur nicht von ihm. Nach wenigen Stunden war er fertig.

Erst der große Auftritt, dann ein Rückschlag
Bei dem Workshop entstanden zahlreiche Gedichte, 20 davon wählten die Lehrerin und die Schulsozialarbeiterin aus und sendeten sie zur Mörike-Gesellschaft. Die hatte einen Lyrikwettbewerb für Schüler ausgerufen, Thema: "Enttäuschte Liebe". Aus rund 500 Einsendungen wurden zwölf Sieger gekürt - einer davon heißt Cumali Zengin.

Als der Anruf in den Sommerferien kam, war er baff. "Und meine Mutter wahnsinnig stolz", sagt der Deutsch-Türke. Zusammen mit ihr und einem Freund fuhr er einige Wochen später, ganz schick in Hemd und Krawatte, nach Stuttgart ins Literaturhaus zur Preisverleihung. Dass es so etwas gibt, ein Haus nur für Bücher, Gedichte und Autoren - das wusste er gar nicht.

Bei der Preisverleihung traf Cumali auf Gymnasiasten, Waldorfschüler, einen Realschüler. Jugendliche, die sich in ihrer Freizeit mit Literatur beschäftigen. Cumali geht gern kicken. Doch das spielte keine Rolle, sagt er, "die waren alle nett". Er spricht langsam und ruhig, in knappen Sätzen. Manchmal verschluckt er eine Silbe.

Den großen Auftritt im Literaturhaus hatte er im Herbst 2008. Doch dann folgte ein Rückschlag: Cumali wollte nach dem Berufseinstiegsjahr seinen Realschulabschluss nachholen, doch sein Zeugnis war nicht gut genug. Oder genauer: die Note in einem Fach - Deutsch. Ausgerechnet. "Rechtschreibung ist nicht mein Ding, Groß- und Kleinschreibung und so", sagt er, als müsste er sich entschuldigen.

"Gedichte schreiben, das ist mein Traum"
Inzwischen hat Cumali einen Ausbildungsplatz, er arbeitet in einem Friseurladen. Er will das durchziehen. Der Preis habe ihn selbstbewusster gemacht, sagt er. Und sein Stolz ist greifbar, wenn er erzählt, dass sein Gedicht auch in einer renommierten Literaturzeitschrift erschienen ist, dass er Interviews gegeben hat und von der Lokalzeitung porträtiert wurde.

Freunde, die ihn anfangs belächelten, sind heute beeindruckt, wenn sie seinen Namen googeln. Mädchen haben ihm via Internet geschrieben und ihn in der S-Bahn angesprochen. "Einige haben gefragt, ob ich ihnen auch ein Gedicht schreiben kann. Aber das geht natürlich nicht so einfach", sagt Cumali.

Eine richtige Überraschung war der Anruf seines Cousins aus dem wenige Kilometer entfernten Böblingen. Der saß gerade in der Berufschule im Deutschunterricht. Thema: Lyrik. Beispiel: "Erste große Liebe", Cumalis Gedicht. Seine Lehrerin könne nicht glauben, dass er den Autor kenne, sagte der Cousin. Cumali beantwortete ein paar Fragen der Klasse, die Schüler klatschten.

Viele Gedichte hat er seit dem Erfolg beim Mörike-Wettbewerb nicht geschrieben. Aber er hat nun oft ein kleines Büchlein bei sich, in dem er Gedanken und Satzfetzen aufschreibt. "Gedichte schreiben, das ist mein Traum", sagt Cumali.
Die nächste Gelegenheit hat er schon: Er wird bald Hauptschülern von seinem Werdegang erzählen. Es ist ein Projekt, mit dem Erwachsene Jugendlichen Perspektiven aufzeigen wollen. Cumali wird sagen, dass er nun eine Ausbildung zum Friseur macht. Und ein Gedicht vortragen. Über das Finden eines Berufs.

Gott ist gescheitert



Für Diego Maradona war es der Job seines Lebens: Nationaltrainer von Argentinien. Er legte Wert auf Herzblut und Motivation, Intuition war ihm wichtiger als Planung und Taktikschulung. Das konnte nicht gutgehen.


Als Julio Grondona sein Amt als Chef des argentinischen Fußballverbandes angetreten hat, war Diego Armando Maradona gerade einmal 17 Jahre alt. Grondona ist seit der Heim-Weltmeisterschaft 1978 in Amt und Würden, ein mächtiger Strippenzieher, mit seiner Leibesfülle und seinem Machtinstinkt ein Funktionär wie aus dem Klischee-Album. Acht Trainer hat Grondona im Laufe seiner 32 Amtsjahre angeheuert, bis zum Dienstag war keiner dabei, dem er den Stuhl vor die Tür setzen musste. Alle gingen von selbst. Bis auf Maradona. Selbst im Abgang ist der Fußballgott "El Diéz" einmalig.

Maradona hat 20 Monate amtiert. In dieser Zeit hat er das gemacht, was er am besten kann: Schlagzeilen produziert. Ob er im Vorfeld der WM 100 neue Spieler ausprobierte, nominierte und wieder nach Hause schickte, ob er nach der mit Hängen und Würgen gelungenen WM-Qualifikation die Journalisten auf das Übelste beleidigte, ob er mit dicker Zigarre auf dem Trainingsgelände auftauchte - Maradona war auch als Nationaltrainer immer anders als alle anderen. Genau das hat ihn ausgemacht, genau das hat ihm allerdings am Ende auch den Job gekostet.

Taktik hat den 49-Jährigen nicht besonders interessiert, in nächtelanger Kleinarbeit ein Konzept auszutüfteln, wie die gegnerische Mannschaft auszutricksen sei, so etwas hat ihn nicht gereizt. Defensivarbeit hat ihn gelangweilt. Motivation, Herzblut - das sind die Kategorien, in denen Maradona denkt - und es gab Momente bei der Weltmeisterschaft in Südafrika, in denen man glaubte, dass dies ausreichen könnte, um die Argentinier bis zum Titelgewinn zu tragen. Die Fußball-Millionäre von heute, die Messis, Tévez' und Higúains, schienen angesteckt von der Begeisterung, die Maradona vorlebte. Von der Gefühligkeit, die an der Seitenlinie herrschte, von all dem Geherze, Geknuddel und Geknutsche.

Joachim Löw und sein Team haben all das als Budenzauber entlarvt.

Im Viertelfinale gegen Deutschland ist das System Maradona an seine Grenzen gelangt. Gegen eine Mannschaft, deren Trainerstab die Schwächen der Argentinier genau analysiert hat, die die Gnade des frühen Tores hatte und zudem körperlich und konditionell im Vorteil war, war Argentinien mit all seinen hochveranlagten Spielern ratlos, hilflos, kraftlos. Die emotionale Ansprache allein macht noch keinen Weltmeister. Das musste ein Jürgen Klinsmann 2006 erfahren, das hat Maradona noch brutaler vier Jahre später erlebt.

Eine Welt von Gefallen und Gegen-Gefallen
Grondona hat die Defizite der argentinischen Mannschaft sehr genau erkannt und nach dem Turnier verlangt, Maradona solle einige seiner Assistenten auswechseln. So zum Beispiel den Fitnesstrainer Fernando Signorini, der für den beklagenswerten körperlichen Zustand der Weiß-Blauen in Südafrika verantwortlich war. Oder Maradonas Co-Trainer Alejandro Mancuso, dem Schwächen im menschlichen Umgang mit den Spielern attestiert wurden. Beide sind alte Kumpel Maradonas, beide haben ihm in der traurigen Endphase seiner Karriere, als der Star schon ein Altstar war, dick und drogensüchtig, zur Seite gestanden.

So etwas vergisst ein Diego Maradona nicht. Freundschaft, Netzwerke. Einer hilft dem anderen, Gefallen gegen Gegen-Gefallen - das ist die Welt, die er um sich aufgebaut hat. Es gehört zur inneren Logik von Maradonas Denken und Handeln, dass er lieber seinen Job riskiert, als seine Buddys im Stich zu lassen. Es heißt, Verteidiger Gabriel Heinze habe vor allem deswegen einen Stammplatz in Argentiniens Team sicher gehabt, weil Heinzes Bruder Sebastián ein Geschäftspartner Maradonas sei.

Dem Trainer Maradona fehlte all das, was einen vermeintlich modernen Coach ausmacht. Ihm ging jegliche kühle Vernunft ab, jegliche akribische Planung. Er war der Anti-Löw. Oder noch mehr der Anti-Bierhoff. Von Maradona hätte man nie von "Konzeptfußball" gehört und davon, dass man "gegen den Ball arbeiten" müsse. Wenn ein Trainer Maradona letztlich Erfolg gehabt hätte, hätte dies all die Taktikprofessoren, all die Tüftler und Video-Studierenden, die so tun, als sei Fußball eine Wissenschaft so wie die Astrophysik, blamiert. Es wäre ein Sieg des Irrationalen gewesen, ein Triumph der Intuition über den Plan. Viele Fans hätte das gefreut. Aber Fußball ist nicht mehr so.

Mit jeder Faser Nationaltrainer
Deutschland wurde 1990 noch Weltmeister mit einem Trainer, der seine Profis lediglich aufforderte: "Gehts raus. Spielts Fußball!" Der Mann hieß Franz Beckenbauer und war wohl der deutscheste Maradona, den der DFB als Trainer je hatte. Ähnlich unvernünftig in einem guten Sinne, ähnlich verliebt in das Spiel, ein Stimmungsmensch. Aber Beckenbauer hatte damals ein Team um sich herum, das die Arbeit erledigte, das die Fitness der Spieler gewährleistete, für das taktische Verständnis sorgte, für Disziplin und Struktur auf und neben dem Platz. All das fehlte Maradona. So konnte Argentinien nicht Weltmeister werden.

Man merkte Maradona an, dass er mit jeder Faser Nationaltrainer war. Er fühlte sich berufen, es war für ihn wie selbstverständlich, dass ihm dieser Job irgendwann zufallen würde. Man kann sich im Grunde jetzt kein neues Amt mehr für Diego Armando Maradona vorstellen. Nichts, was ihn nur annähernd so ausfüllen könnte. Er wird möglicherweise wieder zwischen Fidel Castro und Hugo Chavez hin- und hertingeln, den Machthabern auf Kuba und in Venezuela, die er zu seinen engsten Freunden zählt. Er wird ein paar verächtliche Sprüche über seinen Nachfolger machen, aber er hat seine Aufgabe verloren. Möglicherweise wird er wieder als argentinischer Edelfan bei einem Turnier auftauchen.

Diego Maradona war auf einer Mission. Die Mission ist gescheitert.

Polizei übertreibt Überwachung

Polizisten dürfen auf friedlichen Demonstrationen nicht filmen, urteilt das Verwaltungsgericht. Ein Ohrfeige für die Polizei, die fast jeden Protest mit Kameras verfolgt.

VON SVENJA BERGT

Demonstrant unter Beobachtung.

Auf Demonstrationen wird der Anblick von Polizisten mit Kameras seltener werden. Grund dafür ist eine Entscheidung des Berliner Verwaltungsgerichts. Darin erklären die Richter die Videoüberwachung einer Großdemonstration im vergangenen September für rechtswidrig. Geklagt hatten ein Mitveranstalter und ein Teilnehmer.

Rund 50.000 Menschen hatten damals gegen Atomkraft protestiert - friedlich, wie es auch im Vorfeld zu erwarten war. Die Polizei filmte trotzdem und begründete das vor dem Verwaltungsgericht mit der Notwendigkeit, Einsatzkräfte und Verkehr zu lenken. Die Anti-Atomkraft-Demo ist kein Einzelfall: Videoüberwachung durch die Polizei ist in den vergangenen Jahren zum Standard geworden. So fährt nicht nur häufig ein Wagen mit Kamera vorweg. Auch einzelne Polizisten sind mit Kameras ausgestattet. Zahlen, wie viele Demos filmisch überwacht werden, nennt die Polizei nicht.

Die Richter ließen sich von der Argumentation der Polizei nicht überzeugen. Denn das Filmen schränke das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit und das informationelle Selbstbestimmungsrecht ein. "Wer damit rechnet, dass etwa die Teilnahme an einer Versammlung […] behördlich registriert wird, und ihm dadurch Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte verzichten", so die Richter in der am Dienstag bekannt geworden Entscheidung. Eine "einschüchternde Wirkung", so sieht es das Gericht, gehe schon von dem "ständig vorausfahrenden Übertragungswagen" aus.

Für eine Einschränkung des Versammlungsrechts durch eine Videoüberwachung gebe es nur dann eine rechtliche Grundlage, wenn von der Versammlung eine "erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung" ausgeht, erläuterte Michael Dolle, Sprecher des Verwaltungsgerichts. "Wenn man davon ausgehen kann, dass es ein friedlicher Protest wird, darf die Polizei nicht filmen. Insofern hat das Urteil auch Auswirkungen auf andere Demonstrationen."

In Zukunft hängt es also an der Gefährdungsanalyse, die die Polizei im Vorfeld einer Demonstration erstellt, ob die Demo überwacht wird oder nicht. Wie das in der Praxis umgesetzt wird, ist noch offen. Unklar ist beispielsweise, ob der Veranstalter beim Anmeldergespräch im Vorfeld einer Demo über die Videoüberwachung informiert wird und dagegen - wie auch gegen Auflagen - im Eilverfahren vor dem Verwaltungsgericht klagen kann. Bei regelmäßig stattfindenden Demonstrationen wird sich die Einschätzung der Polizei an der jeweils vergangenen Demo orientieren. Verlief also beispielsweise die Liebknecht-Luxemburg-Demonstration im letzten Januar friedlich, müsste die Polizei gute Gründe nennen, um ein Jahr später eine erhebliche Gefahr festzustellen. Denn im Nachhinein gegen die Videoüberwachung vor Gericht zu ziehen, das betont Dolle, können die Veranstalter bereits heute.

"Es wird sicher Fälle geben, in denen wir über die Gefährdungsanalyse streiten werden", sagt Sven Lüders, Geschäftsführer der Humanistischen Union. Der Verband beteiligt sich unter anderem an der Organisation der Datenschutzdemo "Freiheit statt Angst" am 11. September. Im vergangenen Jahr nahmen an der Demonstration rund 25.000 Menschen teil. Da das Urteil des Verwaltungsgerichts noch nicht rechtskräftig ist und Lüders vermutet, dass die Polizei einen Antrag auf Zulassung der Berufung einreichen wird, rechnet er nicht damit, dass die Veranstaltung in diesem Jahr schon überwachungsfrei laufen wird.

Die Polizei teilte lediglich mit, dass das Urteil erst seit Montag vorliege und derzeit noch geprüft werde. Rechtsanwältin Ulrike Donat, die die Kläger vertritt, kündigte allerdings an, mit der Klage notfalls bis vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen.

(Az.: VG 1K 905.09)

Weiteres Todesopfer nach Loveparade

Teilnehmer der Loveparade fliehen über eine Treppe; Rechte: WDR/Domke

Die Zahl der Todesopfer bei der Duisburger Loveparade hat sich am Mittwoch (28.07.10) auf 21 erhöht. Wer trägt die Schuld an der Katastrophe? Die NRW-Landesregierung macht in einer vorläufigen Ursachenanalyse den Veranstalter für die Panik verantwortlich.

In der Nacht zum Mittwoch (28.07.10) ist eine 25 Jahre alte Frau aus Heiligenhaus bei Essen im Krankenhaus ihren schweren Verletzungen erlegen, berichtete der Duisburger Staatsanwalt Rolf Haverkamp. Die genaue Todesursache werde derzeit untersucht. Damit hat sich die Zahl der Todesopfer nach der Panik bei der Duisburger Loveparade am Samstag (24.07.10) auf 21 erhöht. 13 Frauen und acht Männer kamen im Gedränge des Techno-Spektakels ums Leben. Über 500 wurden verletzt.

Über Sicherheitsbedenken hinweggesetzt?

In ihrer vorläufigen Ursachenanalyse der Vorkommnisse belastet die NRW-Landesregierung den Veranstalter, die Lopavent GmbH um den Unternehmer Rainer Schaller, schwer. Dem Bericht zufolge hat der Veranstalter Sicherheitsbedenken der Behörden ignoriert. Er soll außerdem weniger Ordnungskräfte eingesetzt haben als angekündigt. Er habe auch nicht, wie von Experten vorgeschlagen, im Zugangsbereich eine Videoüberwachung installiert. Nach Informationen der Süddeutschen Zeitung kommen die Behörden zu dem Schluss, dass der Veranstalter völlig falsch eingeschätzt habe, wie sich die Menschenmassen auf dem Loveparade-Gelände am ehemaligen Duisburger Güterbahnhof verteilen würden. Details zum Stand der Ermittlungen geben NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) und Polizeiinspekteur Dieter Wehe am Mittwoch (28.07.10) ab 15 Uhr im Düsseldorfer Landtag bekannt.

Druck durch Stau

Die Panik war an der Rampe entstanden, dem einzigen Zu- und Ausgang des Festivalgeländes, zu der die Besucher aus zwei 16 Meter breiten Tunneln strömten. In ihrer vorläufigen Analyse kommt die Landesregierung zu dem Ergebnis, dass sich die Techno-Fans nicht wie erwartet schnell von dieser Rampe entfernt und auf dem Areal des ehemaligen Güterbahnhofes verteilt haben. Vielmehr sei es im Eingangsbereich zu einem Stau gekommen, auf den die nachströmenden Menschenmassen verhängnisvollen Druck ausgeübt habe.
Die Polizei habe den Veranstalter zuvor auf diese Problematik hingewiesen, hieß es aus Ermittlerkreisen. Der aber habe versichert, es werde alles reibungslos ablaufen und abgewiegelt mit dem Hinweis: "Wir haben da unsere Erfahrungen."

Als Spaßbremse verspottet

Duisburgs Oberbürgermeister Adolf Sauerland; Rechte: ddpAdolf Sauerland

Schaller selbst hatte versucht, der Polizei vor Ort den schwarzen Peter zuzuschieben. Zur Katastrophe habe die "verhängnisvolle Anweisung" geführt, die Schleusen vor dem Tunnelzugang auf dem Gelände zu öffnen. Der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, wies dies zurück und forderte erneut den Rücktritt der Entscheidungsträger. "Der Oberbürgermeister und die politisch Verantwortlichen waren geradezu besessen von der Idee, die Loveparade in Duisburg zu veranstalten, so dass sie die Warnsignale entweder nicht wahrgenommen oder beiseite geschoben haben", sagte er. Er habe bereits vor einem Jahr gewarnt, dass die Stadt Duisburg viel zu eng und daher ungeeignet für eine solche Veranstaltung sei. "Damals hat man mich als Spaßbremse und Sicherheitsfanatiker verspottet", berichtete Wendt.

Sauerland in der Kritik

Duisburgs Oberbürgermeister Adolf Sauerland (CDU) soll sogar Sicherheitsbedenken des Direktors der Berufsfeuerwehr und von ranghohen Polizeibeamten in den Wind geschlagen haben, obwohl diese ihm ihre Kritik schriftlich mitgeteilt hätten. Sauerland hatte noch am Dienstag (27.07.10) bestritten, im Vorfeld der Loveparade überhaupt gewarnt worden zu sein. Inzwischen klagt die Duisburger SPD-Ratsfraktion öffentlich darüber, bei den Vorbereitungen zu dem Techno-Festival von Sauerland schlecht informiert worden zu sein. "Wenn kritisch nachgefragt wurde zu dem Thema, hat er durch ironische Bemerkungen versucht, den Fragenden ins Lächerliche zu ziehen, um vom eigentlichen Thema abzulenken und hat Fragen einfach gar nicht beantwortet", sagte SPD-Ratsfrau Elke Patz dem WDR.

Trauerfeier ohne Stadtoberhaupt

Der OB will einem Zeitungsbericht zufolge nicht an der für Samstag (31.07.10) geplanten Trauerfeier in Duisburg mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundespräsident Christian Wulff (CDU) teilnehmen. Sauerland begründet diesen Schritt damit, dass er "die Gefühle der Angehörigen nicht verletzen und mit seiner Anwesenheit nicht provozieren" wolle, sagte ein Sprecher der Duisburger Stadtverwaltung der Rheinischen Post. Das Blatt zitierte zudem Polizeikreise, dass auch Sicherheitsbedenken eine Rolle spielten, da Sauerland Morddrohungen erhalten habe.

Dienstag, 27. Juli 2010

OB Sauerland versteckt Familie

Duisburg, 27.07.2010, Wolfgang Gerrits, Gregor Herberhold


Duisburg. Gegen den Duisburger OB Sauerland gibt es nach der Loveparade-Tragödie offene Morddrohungen. Seine Familie ist nicht mehr in Duisburg. Auch andere Mitarbeiter der Stadtverwaltung erhalten wüste Beschimpfungen.

Es gibt offene Drohungen gegen Oberbürgermeister Adolf Sauerland. „Ich will den Tod meines Kindes an Dir rächen“, formulierte ein Unbekannter in seinem Schreiben an den Duisburger Verwaltungschef. Adolf Sauerland selbst seit Sonntag unter Personenschutz. Seine Familie hält sich nach WAZ-Informationen im Sauerland versteckt.

Drei Tage nach der Loveparade-Tragödie wächst nicht nur der Druck auf den OB. Den bekommen inzwischen auch die Mitarbeiter der Stadtverwaltung zunehmend zu spüren. In wüsten Beschimpfungen werden sie selbst als Mörder tituliert. Man hat den Eindruck, als sehne die Belegschaft den Zeitpunkt herbei, dass Adolf Sauerland aufgibt und sein Amt zur Verfügung stellt. „Die Situation für uns ist unerträglich“, schilderte ein verzweifelter Mitarbeiter. Auch am Dienstag zogen zahlreiche Bürger zum Rathaus und forderten den Verwaltungschef zum Rücktritt auf.

Eklat bei Trauerfeier befüchtet

Hinter den Kulissen geht es um die Frage, ob der OB bei der Feier in Anwesenheit von Bundespräsident und Kanzlerin vor der Trauergemeinde und den Angehörigen der Todesopfer reden soll. Manche befürchten in diesem Fall einen Eklat: Es wird daran erinnert, dass Sauerland schon bei einem Besuch im Todestunnel an der Karl-Lehr-Straße am Sonntag von wütenden Passanten angegriffen wurde. Wenn er nicht zur Gedenkfeier komme, dann weil er die Trauernden nicht durch seine Anwesenheit stören wolle, sagte der OB am Dienstagabend. Sauerland erwägt nach Angaben seines Sprechers, nicht hinzugehen - aber eine endgültige Entscheidung sei noch nicht gefallen.

Mittlerweile stellte sich heraus, dass der Oberbürgermeister in der heißen Genehmigungsphase gar nicht im Dienst war. Bereits zur Ruhr 2010-Veranstaltung Stillleben auf der A 40 weilte er mit seiner Familie an seinem Urlaubsort in Österreich. Erst am Tag der Loveparade, also am vergangenen Samstag, war er nach Duisburg zurückgekehrt. Anschließend wollte er sich ein paar Tage zu Hause in Walsum entspannen.

Haus verwaist

Daran ist nicht mehr zu denken: Selbst sein Privathaus wird wegen unzähliger schriftlicher und telefonischrn Drohungen inzwischen von der Polizei beobachtet, wie Nachbarn im Gespräch mit der WAZ berichten. Ob kontinuierlich oder nur sporadisch, dazu gibt es keine klaren Informationen. Mal sehe man Beamte, mal nicht. Die Polizei sagt nichts, aus „taktischen Gründen“.

Ob sich der Oberbürgermeister überhaupt noch in seinem Haus in einem sehr ruhigen Wohnviertel Walsums aufhält, wissen die Nachbarn nicht. Seit 17 Jahren wohne er dort, die Familie sei sehr leise, man sehe den Oberbürgermeister nur selten. Deshalb sei es schwer, eine klare Aussage zu treffen, so eine Frau. Allerdings ist den Menschen im Umfeld aufgefallen, dass Sauerlands Hunde nicht bellen - nicht einmal, wenn sich Fremde der Tür nähern. Das spreche dafür, dass das Haus derzeit verwaist sei. Zumal auch Rollläden heruntergelassen sind.

Spurlos vorbei geht die Situation an den Walsumern nicht. Sie haben im TV gesehen, wie Sauerland unter Polizeischutz am Sonntag von der Karl-Lehr-Straße flüchtete, wo er Blumen niederlegte. Protest in seinem Wohnviertel gab es bislang nicht, aber die Nachbarn sind alarmiert: Argwöhnisch werden deshalb unbekannte Personen auf der Straße beobachtet, man schaut sich Fahrzeuge mit fremden Nummernschildern genau an.

Brunner-Prozess: "I' nimm oan mit"

Von Gisela Friedrichsen, München

Im Fall Brunner hat das Gericht einen Mitschnitt der tödlichen Schlägerei abgespielt - das spätere Opfer droht den Angeklagten, die reagieren mit wüsten Beschimpfungen. Das Tondokument, aufgezeichnet von Brunners Handy, ist in einem Verfahren voller Widersprüche einer der wenigen belastbaren Belege.

Mitschnitte von Tatgeschehen sind stets hochdramatisch. Der Zuhörer sieht nichts, aber er hört Schreie, Stöhnen, Ächzen, durcheinander, gleichzeitig, helle Stimmen, dunklere Töne, Hintergrundgeräusche. Er glaubt, dabei zu sein, fühlt sich mitten im Geschehen. "Oan' derwischt's jetzt" - die Stimme des späteren Opfers, hoch erregt. Dann, wieder das Opfer: "I nimm oan' mit", einmal, zweimal, dann wieder: "I nimm oan' mit!". Und noch einmal "I nimm oan' mit!" Dazwischen einer der Täter: "Komm her, Mann, du Dreckschwein! Du Sau!"

Wüste Beschimpfungen folgen. "Du Bastard!", "Motherfucker", "Wichser", das übliche Vokabular, "Arschloch", überlagert von grellen Schreien: "Hört's auf!", "Aufhören!".

Die Tonqualität ist erbärmlich. Der Mitschnitt stammt von Dominik Brunners Handy, das er angeschaltet am Körper trug, als die Auseinandersetzung mit den nun wegen Mordes angeklagten Markus Sch., 19, und Sebastian L., 18, auf dem Münchner S-Bahnhof Solln am 12. September 2009 stattfand. Das Gerät schabte am Stoff, der Ton rauscht und kratzt, dann wieder die erregten Stimmen. Und immer wieder dazwischen die roboterhafte Stimme des Polizeinotrufs "Bitte legen Sie nicht auf" - piep - "Bitte legen Sie nicht auf" - piep. Wer in Not ist und Hilfe braucht, gibt da jede Hoffnung auf.

Dass der Zeugenbeweis ein höchst unzuverlässiger ist, weiß man nicht erst seit dem Brunner-Prozess, der zurzeit vor der Jugendkammer des Landgerichts München I geführt wird. Doch dass so viele Zeugen sich widersprechende, ja zum Teil sich ausschließende Angaben vor Gericht machen wie in diesem Fall, ist auffallend.

Zeugen, die sich Vorwürfe machen, an jenem 12. September 2009 an der S-Bahn-Haltestelle München-Solln vielleicht nicht so gehandelt zu haben, wie es angebracht gewesen wäre, wollen nun wenigstens vor Gericht besonders gute Zeugen sein. Manche weinen, wenn sie Reaktionen von Passanten schildern, die angeblich unbeteiligt weggingen, obwohl eine ganze Reihe von Notrufen abgesetzt wurde. Andere füllen Lücken oder Unverstandenes in ihrer Erinnerung mit dem auf, was sie in den Zeitungen gelesen und im Fernsehen gesehen haben, zum Teil sogar wörtlich.

Erstaunlich, was da ausgesagt wurde
Einige Zeugen berichten von Wahrnehmungen, die sie gar nicht gehört oder gesehen haben können, sie schildern wortreich Abläufe, die anders gewesen sein müssen. Eine Arzthelferin etwa war sich am Montag sicher, dass die S-Bahn, mit der Brunner und die vier Schüler gekommen waren, schon wieder abgefahren gewesen sei, als die Schlägerei anfing. Doch mehrere Zeugen, die mit dieser S-Bahn weiterfuhren, haben in der vorigen Woche detailliert beschrieben, welche Schläge sie aus dem Zug heraus genau hatten sehen können. Was stimmt?

Die Zeugen lügen nicht - nein, sie sind von der Geschichte, die sie erzählen, fest überzeugt. In ihrem Gedächtnis hat sich eine Version des Geschehens eingenistet, die ihr Bild von sich selbst sowie von Gut und Böse schützt und stärkt. Die Täter hätten "gelächelt", sagt die Arzthelferin, sie habe erst gedacht, es gehe um Spaß. Was will dieser Herr mit den Jugendlichen? An einen eiskalten, verachtungsvollen Blick eines der Täter erinnert sich ein anderer Zeuge. Hat Brunner sich noch gewehrt, als er schon am Boden lag? Ja, mit Händen und Füßen, berichten mehrere Zeugen. Andere sagen: Nein, er hat sich überhaupt nicht mehr bewegt. Nein, er sei auch nicht mehr aufgestanden, er habe das gar nicht mehr gekonnt. Doch, sagen andere, er habe kurz noch nach seiner Brille gegriffen. Er sei aufgestanden und zusammengesackt. Was stimmt?

Überraschend andere Zeugenaussagen waren nun zu Wochenbeginn zu vernehmen. Wir schreiben inzwischen den achten Verhandlungstag, als ehemalige Lehrer, Psychologen, Betreuer und Sozialpädagogen, die mit den Angeklagten Sebastian L. und Markus Sch. in den vergangenen Jahren zu tun hatten, vor Gericht auftraten. Es war erstaunlich, was da ausgesagt wurde - und wie wenig darüber berichtet wurde.

So brutal die Tat wohl gewesen war, die vermutlich den Tod des 50 Jahre alten Dominik Brunner bewirkt hat - so wenig passen dazu die Charakterbeschreibungen der Angeklagten durch jene Personen, die von Berufs wegen täglich mit der Vielfalt des Verhaltens junger Menschen zu tun haben. L. und Sch. seien stille, unauffällige junge Burschen gewesen, nie durch aggressives Verhalten auffallend, eher verschlossen, zurückhaltend, ja scheu. Keine Intensivtäter, keine Schläger, keine Draufgänger also, wie die Anklage vermuten lässt, sondern depressive, mutlose Personen ohne Perspektive und Initiative. Nicht "Killer", die manche Medien aus ihnen machen, sondern gescheiterte Existenzen, die erst jetzt zu begreifen scheinen, wohin sie ihre Disziplinlosigkeit, ihr Widerstand gegen jede Art von Bevormundung und ihre Regelverstöße gebracht haben, von ihrem Ausweichen in Drogen und Alkohol ganz zu schweigen.

"Wie kommt L. denn im Jugendgefängnis klar?" fragt der Vorsitzende Richter eine Gefängnismitarbeiterin, die einen Führungsbericht über den jüngeren der Angeklagten verfasst hat. "Wir konnten uns erst überhaupt nicht vorstellen, dass dieser kleine Junge, der so im Hintertreffen ist, einer von denen aus Solln sein soll. Die Mitgefangenen stürzten sich erst auf ihn wegen seiner 'Prominenz'. Aber sie merkten bald, als Gangster-Kollege eignet er sich doch nicht."

"Er war jemand, der sich eingemischt hat"
Als wäre die Nachricht, dass die Angeklagten offenbar bis zu dem Vorfall im vergangenen September nicht jene aggressiven Brutalos gewesen sind, als die sie bis zum Prozess dargestellt wurden, dem Andenken an Brunner abträglich, meldeten die Münchner Zeitungen am Dienstag als wichtigste Information, dass Brunners 80-jähriger Vater erkrankt sei und an dem Strafverfahren fortan nicht mehr teilnehmen werde, auch nicht als Zeuge. Allerdings hatte er bereits im Ermittlungsverfahren angekündigt, dass er dafür nicht zur Verfügung stehen werde, was sein gutes Recht ist.

So erfuhr man aus der verlesenen Aussage des Vaters und aus der am Dienstag vor Gericht gemachten Zeugenaussage der früheren Lebensgefährtin des Toten, dass Dominik Brunner ein "Cineast" gewesen sei und an Literatur interessiert, dass er laut Vater früher einmal Kampfsport betrieben, laut Lebensgefährtin hingegen nur einen Selbstverteidigungskurs absolviert, mit Kampfsport aber nichts zu tun gehabt habe. Beruflich sei er "sehr eingebunden" gewesen; über "sehr viel Arbeit" habe er häufig geklagt.

Von einer Herzerkrankung Brunners, der jede Woche tausend Meter zu kraulen pflegte, war den ihm nahestehenden Personen offenbar nichts bekannt. "Er war schon jemand gewesen, der sich eingemischt hat", sagt die ehemalige Freundin vor Gericht, "aber immer nur verbal." Von körperlichen Auseinandersetzungen sei ihr nichts bekannt. "Wenn er meinte, jemand strahle Angst aus, dann hat er relativ schnell die Spannung rausgenommen," so die Zeugin.

Den am Tatort wenige Minuten nach der Tat eintreffenden Rettungskräften fiel damals gleich auf, dass offenbar die rechte Herzkammer des am Boden liegenden, blau angelaufenen und bewusstlosen Mannes nicht funktionierte, da seine Halsvenen entsprechend gestaut waren. "Das ist eher untypisch für eine Schlägerei", sagte ein Rettungssanitäter als Zeuge. Äußere Verletzungen seien, außer zwei kleinen Blutungen an der Stirn, nicht zu sehen gewesen. Ein erster "Body-Check" habe nichts ergeben. "Bei so einem Meldebild - nämlich Hiebverletzungen - passt das eigentlich nicht. Da hätte man zumindest eine blutende Nase erwartet." Auch Verformungen des Brustkorbs seien nicht zu sehen gewesen.

Eine Stunde lang versuchte man damals noch am Tatort, Brunner zu reanimieren. Sein Herz fand jeweils für einen kurzen Moment einen Rhythmus, setzte dann aber wieder aus. Der Notarzt sah auch sofort die gestauten Halsvenen und stellte Nasenbluten fest. Nachdem Passanten von Schlägen und Tritten sprachen, hielt er jedoch auch ein Schädel-Hirn-Trauma für möglich. "Da man, als wir kamen, leicht drücken konnte, waren wohl durch die Reanimation schon Rippen gebrochen", sagte der Arzt als Zeuge.

Loveparade: Warum nur diese Polizeikette?

Jürgen G. entschied eher spontan, zur Loveparade zu gehen. Auf dem Weg zum Veranstaltungsgelände erlebte er das Chaos aus nächster Nähe. Sein Augenzeugenbericht liefert plausible Gründe, warum es zur Katastrophe kam.

Augenzeugenbericht von der Loveparade: Warum nur diese Polizeikette?
Jürgen G. ist kein Raver. Der Architekt entschied sich am vergangenen Samstag eher spontan mit seinem Freund Stephan, die Loveparade in Duisburg zu besuchen. Die verspäteten Züge ab Düsseldorf waren überfüllt, der Duisburger Hauptbahnhof auch. Warten mit den Massen: Vor der Zugangskontrolle verbrachten die beiden eine Dreiviertel Stunde. Um 16 Uhr betraten sie den gefüllten, aber nicht überfüllten Ost-Tunnel. Zu diesem Zeitpunkt wäre noch genügend Platz gewesen für zwei Menschenströme, die sich in entgegengesetzter Richtung bewegen. Dennoch war Jürgen G. froh, als er den Tunnel verlassen konnte – und auf die Rampe bog.

Um 16.10 Uhr wieder ein Stopp. Der Weg zum Veranstaltungsgelände endete am unteren Ende der Rampe nach etwa 20 Metern: die erste Polizeisperre. Etwa zehn Polizisten wollten verhindern, dass die abgehenden Besucher auf die Masse der ankommenden Menschen traf. Links und rechts von den Beamten waren Absperrgitter zu einem Dreieck aufgebaut, die wiederum mit einem einfachen Gitter die Lücke zu den seitlichen Wänden schlossen. Sowohl für die Menschen, die aus den Tunneln um die Ecke bogen, als auch für die Heimgänger war hier Endstation. Der Raum zwischen den Tunnelenden füllte sich.

Die beiden suchten Schutz hinter dem linken Sperr-Dreieck, weil sie befürchteten, dass die Polizisten dem Druck der Massen nicht mehr lange standhalten würden. Um etwa 16.20 Uhr war es dann soweit. Die ersten kletterten von Norden über die Sperrgitter Richtung Tunnel und rissen das Hindernis in der Nähe der Treppe am westlichen Rand der Rampe nieder. Die Polizisten mussten ihre Kette aufgeben. Die Besucher strömten ungehindert vom oberen Rampenende Richtung Tunneleingang. Stephan machte sich auf den Rückweg, weil er keine Möglichkeit mehr sah, zur Loveparade zu gelangen. Er konnte gerade noch über den West-Tunnel die Menschenmassen hinter sich lassen.

Ordner im blauen T-Shirt halfen

Innerhalb von wenigen Minuten, so Jürgen G., gegen 16.25 Uhr, war der Platz, an dem die beiden Tunnel aufeinander treffen und die Rampe beginnt, total überfüllt. Die ersten versuchten, über die Treppe an der West-Seite der Rampe zu fliehen. Auf der anderen Seite kletterten Besucher einen Stahlmast hinauf. Sie wurden von Ordnern im blauen T-Shirt noch daran gehindert. Doch dann halfen diese ihnen.
 
Um 16.30 Uhr bekam Jürgen G. einen Anruf von Stephan. Eine zweite, kleinere Rampe sei offen und frei. Jürgen G. verließ daraufhin seinen Schutzraum hinter dem Gitterdreieck, um durch den West-Tunnel zu entkommen. Keine Chance: Nach etwa 15 Metern steckte er in der Masse fest, der Druck wurde unerträglich. Zum ersten Mal bekam Jürgen G. beklemmende Angst. Er war in der Nähe der Treppe, eine bewusstlose Frau wurde gerade von Helfern hinauf gezogen.
Jürgen G. änderte wieder seine Richtung. Doch er orientierte sich dieses Mal, gegen 16.35 Uhr, weg von der Treppe, hin zum östlichen Rand der Rampe. Als er in die Nähe des Mastes gelangte, den Besucher waghalsig hinaufkletterten, sah er oben plötzlich Polizisten, die ihm und anderen klar machten, er solle weiter die Rampe entlang gehen, und zwar am rechten Rand. Dort war zwar ursprünglich ein schmaler Streifen von der Polizei für Einsatzfahrzeuge abgesperrt. Aber einige Absperrgitter lagen schon am Boden. Jürgen G. schob sich dort entlang, um am Ende des abgesperrten Streifens mit Hilfe von Polizisten über eine Böschung auf die Ebene der Gleise zu gelangen. Hier blieb er für knapp eine halbe Stunde stehen, schockiert und benommen. Jetzt erst konnte er überblicken, was sich dort unten abspielte.

Die Rampe wäre die beste Fluchtmöglichkeit gewesen

Er sah eine zweite Polizeikette am oberen Ende der Rampe, die ebenfalls gehende Besucher stoppen sollte. Dennoch konnten Dutzende Richtung Tunnel laufen. Erst gegen kurz vor fünf schafften es die Polizisten, die Rampe von oben komplett zu sperren. Obwohl es die erste Sperre seit über einer halben Stunde nicht mehr gab, war die Rampe immer noch recht leer. Jetzt erst verstand Jürgen G., warum er recht unbedrängt von dort unten die Rampe hochgehen konnte. Die Menschen konnten nicht sehen, dass die Rampe die beste Fluchtmöglichkeit war.

In ihrer Panik drängten sie dorthin, wo andere Besucher erfolgreich der Menschenmasse entfliehen konnten: zur Treppe, zum Mast und später zum Container. Rund um diese Fluchtpunkte drängten sich die Menschen. Jürgen G. hätte es vermutlich ähnlich gemacht, hätte er nicht die Hinweise der Polizisten gesehen. Um 17.15 Uhr machte er oberirdisch auf den Weg Richtung Westen. Er passierte die zweite Rampe, die ihm zu unsicher war, und erreichte schließlich kurz vor halb sechs Uhr den Eingang des West-Tunnels. Die dritte Polizeisperre. Sie hielt. Um 17.30 Uhr hört er eine Durchsage der Polizei, dass das Veranstaltungsgelände geschlossen sei. Es war die erste Durchsage, die er an diesem Tag hörte.

Loveparade: Sitzungsprotokoll belastet Duisburgs OB Sauerland

Ein Protokoll zur Sicherheit belegt: Das Konzept der Loveparade war lange Streitthema, die Veranstalter übten Druck aus. Auch Oberbürgermeister Sauerland wusste Bescheid.
Neue Erkenntnisse in der Schuldfrage von Duisburg: Bereits vier Wochen vor der Loveparade hat das Bauordnungsamt massive Einwände gegen das vorgelegte Sicherheitskonzept der Loveparade erhoben. Das geht aus einem Sitzungsprotokoll hervor, das den Zeitungen der WAZ-Gruppe vorliegt. Demnach mussten die Sicherheitsbedenken auch dem Duisburger Oberbürgermeister Adolf Sauerland im Detail bekannt gewesen sein. Dies geht aus dem Verteiler hervor, der handschriftlich auf dem Protokoll vom 18. Juni vermerkt ist und das Kürzel OB trägt.
Sauerland hatte zuvor darauf beharrt, nichts von Sicherheitsbedenken vor der Loveparade gewusst zu haben. Kritische Stimmen gebe es vor solchen Veranstaltungen immer, die Stadt habe aber alles genau geprüft. Wie mehrere Regionalzeitungen berichten, unterschrieb Sauerland die ordnungsbehördliche Erlaubnis für die Veranstaltung allerdings erst kurz vor Beginn der Loveparade.
Lopavent bestand dem Papier zufolge auf 155 Meter Fluchtweg, da es ihrer Erfahrung nach "ausreichend sei, wenn ein Drittel der Personen entfluchtet werden können".
 
Aus dem Schriftstück geht weiter hervor, dass der Ordnungsdezernent Wolfgang Rabe, der an dem Gespräch teilnahm, Druck ausübte. "Herr Rabe stellte in dem Zusammenhang fest, dass der OB die Veranstaltung wünsche, und dass daher hierfür eine Lösung gefunden werden müsse. Die Anforderungen der Bauordnung, dass der Veranstalter ein taugliches Konzept vorlegen müsse, ließ er nicht gelten", so das Protokoll. Rabe forderte das Bauordnungsamt, das normalerweise nur Kontrollfunktion hat, auf, "an dem Rettungswegekonzept konstruktiv mitzuarbeiten".

Der Leiter des Baudezernats Jürgen Dressler kommentierte das Schreiben handschriftlich: "Ich lehne aufgrund dieser Problemstellung eine Zuständigkeit und Verantwortung (...) ab. Dieses entspricht in keinerlei Hinsicht einem ordentlichen Verwaltungshandeln und einer sachgerechten Projektstellung."

Wie die Süddeutsche Zeitung berichtet, hatte auch die Duisburger Polizei schon früh vor Mängeln im Sicherheitskonzept gewarnt. Sie sei aber auf politischen Widerstand in der Stadt gestoßen. Vor allem der mittlerweile in Ruhestand gegangene Polizeipräsident Rolf Cebin soll sich heftig gegen die Austragung der Veranstaltung gewandt und damit den Unmut der Lokalpolitik zugezogen haben. Der SZ zufolge verlangte der Duisburger CDU-Kreisvorsitzende und Bundestagsabgeordnete Thomas Mahlberg gar die Absetzung Cebins.

Deswegen sieht die Polizei die Verantwortung bei der Stadtverwaltung. Der Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei in Nordrhein-Westfalen, Frank Richter, sagte, die Stadt sei als Genehmigungsbehörde zuständig gewesen, und habe trotz kritischer Stimmen aus der Polizei "darauf bestanden, das in dieser Art und Weise durchzuführen".

Die Deutsche Polizeigewerkschaft in Nordrhein-Westfalen hat unterdessen empört auf die Kritik von Love-Parade-Veranstalter Rainer Schaller an ihrem Vorgehen vor der Katastrophe in Duisburg regiert. "Die neuen Schuldzuweisungen gegen die Polizei durch die Veranstalter sind eine Frechheit", erklärte die Gewerkschaft. "Er meldete 500.000 Teilnehmer an, erhielt eine Genehmigung der Stadt für 250.000 Teilnehmer und feierte bereits mittags öffentlich über eine Million Teilnehmer."

Loveparade-Organisator Rainer Schaller hatte der Einsatzleitung vorgeworfen, sie habe alle Schleusen vor dem westlichen Tunneleingang öffnen lassen, wodurch der Hauptstrom der Besucher unkontrolliert in den Tunnel gelangt sei. Zuvor hätten die Veranstalter 10 der 16 Schleusen geschlossen gehalten, weil bereits zu viele Menschen in dem Tunnel waren.

Polizei weiter in der Kritik

Angeblich soll die Party-Genehmigung der Bauaufsicht erst am Sonntag der Polizei vorgelegen haben. Auch der Veranstalter kritisierte die Polizei. Sie habe die Panik erst ausgelöst.

Warum? Diese einzige Frage soll beantwortet werden.

Nach der Loveparade-Katastrophe mit inzwischen 20 Toten tauchen immer neue Ungereimtheiten auf. Die offizielle Genehmigung der Bauaufsicht der Stadt Duisburg für die Mega-Veranstaltung lag der Polizei nach Informationen der FDP in Nordrhein-Westfalen erst am Tag nach dem Unglück vor, wie Radio Erft (Köln) am Dienstag den innenpolitischen Sprecher der FDP-Fraktion, Horst Engel, zitierte.

Engel habe demnach diese Information von Landesinnenminister Ralf Jäger (SPD ) erhalten. "Die Genehmigung der Bauaufsicht, der Bauverordnung, der Bauverwaltung der Stadt Duisburg ist vom 21. Juli. Und die hat die Polizei erst am Sonntag erreicht, also (...) direkt nach der Veranstaltung."

Nach dem Unglück sehen sich Polizei und Duisburgs Oberbürgermeister Adolf Sauerland (CDU) neuen heftigen Vorwürfen ausgesetzt. Zudem dringt die Deutsche Polizeigewerkschaft auf einen Sicherheits-TÜV für Großveranstaltungen.

Nach Einschätzung von Loveparade-Chef Rainer Schaller könnte die Tragödie durch eine verhängnisvolle Anweisung der Polizei ausgelöst worden sein. Schaller kritisierte die Einsatzleitung der Polizei. Diese hat nach Schallers Angaben alle Schleusen vor dem westlichen Tunneleingang öffnen lassen. Zuvor hätten die Veranstalter 10 der 16 Schleusen geschlossen gehalten, weil bereits eine Überfüllung des Tunnels gedroht habe.

Durch die Anweisung der Polizei sei dann der Hauptstrom der Besucher unkontrolliert in den Tunnel gelangt. "Für den Fall der Überfüllung sollten die Schleusen geschlossen werden", sagte Schaller.

Der Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, pocht auf neue Regelungen für Mega-Events. "Das Sicherheitskonzept für Massenveranstaltungen ist derart anspruchsvoll, dass es nicht allein in den Händen einer Stadtverwaltung liegen darf", sagte Wendt der Neuen Osnabrücker Zeitung. Es sei zwingend erforderlich, eine Art TÜV für Großveranstaltungen einzuführen. Künftig sollten Ereignisse wie die Loveparade nur noch möglich sein, wenn der zuständige Landesinnenminister grünes Licht gegeben habe.

Wie die Kölnische Rundschau berichtete, unterschrieb Duisburgs OB Sauerland die ordnungsbehördliche Erlaubnis für die Loveparade erst kurz vor Beginn um neun Uhr. In einem Artikel der Zeitung heißt es: "Noch am Freitag wurde in verschiedenen Sitzungen über das Sicherheitskonzept debattiert, wobei die Duisburger Berufsfeuerwehr und Polizisten nochmals deutlich machten, dass die Großveranstaltung so nicht stattfinden kann." Sauerland sagte der Rheinischen Post, er habe nichts von Sicherheitsbedenken vor Beginn der Loveparade gewusst.

Was löste die Loveparade-Katastrophe aus?


Zu viele Fragen sind noch offen

Wie genau konnte es zu dem verhängnisvollen Gedränge im Zugang zum Partygelände kommen? Auch am Tag zwei nach der Tragödie bei der Duisburger Loveparade mit 19 Menschen, die kamen ums Leben, 524 wurden verletzt.



Gedränge vor dem Tunnel; Rechte: WDR/NeumannWie viele Teilnehmer hatte die Loveparade wirklich?

Drängende Enge vor dem Nadelöhr

Bei dieser zentralen Frage sind die offiziellen Angaben derzeit mehr als widersprüchlich. Am Samstag (24.07.10) hatte der Veranstalter noch von rund 1,4 Millionen Besuchern gesprochen. Am Tag nach der Katastrophe hatten die Veranstalter keine neuen Schätzungen mehr genannt. Auch Polizei und Stadt Duisburg wollten sich auf einer Pressekonferenz am Sonntag nicht auf eine Zahl festlegen. Genannt wurde nur die Zahl der Menschen, die per Bahn angereist waren: 105.000 Personen. Allerdings weisen die Luftbilder vom Gelände auf ein Vielfaches dieser Zahl hin. Bei den Loveparades in den Jahren 2007 und 2008 sollen nach offiziellen Angaben zwischen 1,2 und 1,6 Millionen Menschen gefeiert haben. Eine eigene Schätzung, wie es nach Großveranstaltungen oder Demonstrationen üblich ist, hat die Polizei auch am Montag nicht veröffentlicht. Gegenüber WDR.de verwies ein Polizeisprecher darauf, dass weitere Informationen zu diesem Thema nur in Absprache mit den Ermittlungsbehörden erfolgen können.

War das Gelände für solche Menschenmengen ausgelegt?


Luftaufnahme des Geländes

Übersicht Loveparade-Gelände; Rechte: WDR/ddp [M], akLaut Polizei ist das gesamte Gelände des Güterbahnhofs, auf dem die Loveparade stattfand, 200.000 bis 240.000 Quadratmeter groß. Für die Paradewagen und das eigentliche Partygelände hätten 120.000 Quadratmeter zur Verfügung gestanden: Nicht ausreichend, wenn tatsächlich mehr als eine Million Menschen die Loveparade besucht haben. Selbst wenn man eine gewisse Fluktuation der Besucher in die Rechnung einbezieht, hätte das eingezäunte Gelände nicht den Vorgaben der Versammlungsstättenverordnung NRW entsprochen. Am Sonntag hatte der Leiter des Krisenstabes, Wolfgang Rabe, angegeben, dass der Platz 250.000 bis 300.000 Menschen hätte aufnehmen können. Diese Zahl sei aber zu keiner Zeit erreicht worden.


Nach Angaben des Landesministeriums für Bauen und Verkehr hat das Duisburger Amt für Baurecht und Bauberatung am 21. Juli eine Genehmigung für 250.000 Besucher auf dem Gelände erteilt. Dabei habe es sich um die oberste Grenze gehandelt, sagte Ministeriumssprecherin Heike Dongowski WDR.de. Schon weit vor diesem Zeitpunkt hatte allerdings der Veranstalter angekündigt, dass man mit weit mehr Besuchern rechne. 400.000 bis 500.000 Besucher könnten sich gleichzeitig im abgesperrten Bereich aufhalten, hatte Kersten Sattler vom Veranstalter Lopavent eine Woche vor dem Ereignis angegeben.

Waren die Zugänge zum Gelände groß genug?

Bis zu dem Unglück, bei dem 19 Menschen starben und mehr als 340 Personen verletzt wurden, gab es nur einen Ein- und Ausgang zum Festgelände, der durch zwei Tunnel unter Bahngleisen zu erreichen war. Von den Tunneln ging es die Ecke auf eine breite Straßenrampe zum alten Güterbahnhof. Vorwürfe, damit ein Nadelöhr geschaffen zu haben, das nicht den gesetzlichen Vorgaben entspreche, wies die Stadt am Montag (26.07.10) zurück. "Unsere Bauordnung hat den Zugang abgenommen", sagte eine Stadtsprecherin WDR.de. "Die Vorschriften und Vorgaben sind dabei eingehalten worden." Eben das wird bezweifelt: Der Tunnel, an dessen Rampe die meisten Menschen starben, habe nur eine Kapazität von 20.000 Menschen pro Stunde, sagt Panikforscher Michael Schreckenberg, der das Sicherheitskonzept für die Veranstalter begutachtet hatte. Auch die Kölner Polizei, die im Vorfeld der Partyveranstaltung um ihre Meinung gefragt wurde, hat laut WDR-Informationen die Zugangswege als nicht ausreichend bezeichnet.

Der Zugang zum Gelände sei nicht Gegenstand der Genehmigung gewesen, hieß es beim Bauministerium am Montag. Darin seien nur die Zahl und die Kapazität der Notausgänge festgelegt. Das Ministerium werde die Unterlagen zeitnah anfordern und überprüfen.

Was war der Auslöser für das Unglück?


Tunnelzugänge - links und rechts der roten Markierung

Plan der Festivalgeländes; Rechte: WDR/TV GrabIm Gedränge vor dem einzigen Zugang zum Gelände stauten sich gegen 17:10 Uhr die Menschen. Besucher, die ungeduldig zur Party strebten, trafen auf andere, die das Fest schon verlassen wollten. Viele kletterten auf Container oder Zäune, um der drangvollen Enge zu entfliehen. 14 Opfer seien bei solchen Kletteraktionen von einer Metalltreppe an der westlichen Seite des Zugangs gestürzt, zwei seien an einer Plakatwand am Aufgang zum Gelände ums Leben gekommen. Die anderen seien später im Krankenhaus gestorben, teilte die Polizei mit. Augenzeugen hatten dagegen berichtet, dass im Tunnel selbst Menschen zu Tode getrampelt worden seien. Das wollte die Polizei nicht bestätigen. Forscher Schreckenberg sieht "Schuldige auf beiden Seiten" und meint damit auch risikofreudige Kletterer unter den Besuchern. Allerdings könne auch das "Tunnelmanagement" des Veranstalters zu der Situation beigetragen haben.

Bei der Loveparade sollen 524 Menschen verletzt worden sein, 283 von ihnen kamen ins Krankenhaus. Das teilte die Duisburger Polizei am Montagnachmittag (26.07.10) mit. Allerdings soll es sich dabei nicht nur um Folgen der Massenpanik handeln, unter den Verletzten seien auch Besucher, die wegen Alkohol- oder Drogenmissbrauch ärztliche Hilfe brauchten. Im Zusammenhang mit der Massenpanik hatten die Behörden am Wochenende von 342 Verletzten gesprochen. Laut Polizeiangaben befanden sich am Montag noch 43 Loveparade-Besucher in stationärer Behandlung, eine Person soll sich noch in Lebensgefahr befinden.

Montag, 26. Juli 2010

30 Jahre Haft für »Duch«

Erstes Urteil des Sondertribunals in Kambodscha gegen Vertreter der Roten Khmer
 
Von Thomas Berger
 
Es ist ein Datum, das in den kambodschanischen Geschichtsbüchern einen Platz finden wird. Am 26. Juli haben die Richter des Sondertribunals gegen die Verbrechen der Diktatur der Roten Khmer (17. April 1975 bis 7. Januar 1979) ihr erstes Urteil gesprochen. Es lautet auf 30 Jahre und betrifft Kaing Guek Eav alias Duch, der als Chef-Folterer der Führungsclique um den nicht mehr lebenden Pol Pot gilt. Duch, damals Leiter des unter der technischen Bezeichnung S-21 betriebenen größten Gefängnisses Tuol Sleng, wurde von den Richtern sowohl Kriegsverbrechen als auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit für schuldig befunden. 30 Jahre Gefängnis lautet ihr Urteil.

Das ursprüngliche Strafmaß ist bereits um fünf Jahre abgesenkt worden, da die Richter die Inhaftierung des Angeklagten ohne ausreichende Rechtsgrundlage, verhängt durch ein Militärgericht im Jahr 1999, für illegal befanden. Auch die seither bereits als faktische Untersuchungshaft hinter Gittern verbüßten elf Jahre sind angerechnet worden, so daß die Reststrafe nun noch 19 Jahre beträgt.

Mit Hochspannung war im In- und Ausland erwartet worden, wie der Prozeß gegen den 67jährigen ehemaligen Mathematiklehrer ausgehen würde. Nicht nur, daß es sich um den ersten Fall handelt, der vor dem Tribunal verhandelt wurde. Alle Beteiligten standen auch vor der schwierigen Fragen, wie die individuelle Schuld des Angeklagten an den zu Diktaturzeiten in seinem Verantwortungsbereich verübten Greueltaten zu werten ist. Duch selbst hatte sich mit Hilfe seiner Anwälte immer wieder als kleines Rad im Getriebe des Schreckensregimes darzustellen versucht, der lediglich als Befehlsempfänger die Vorgaben der Führung umsetzte und selbst Repressalien bis zum Tod zu befürchten hatte. Die Anklagevertreter hingegen machten deutlich, daß ihrer Ansicht nach Duch im vorauseilenden Gehorsam für die vielen Toten in S-21 zum großen Teil auch selbst die Schuld trage.

Rund 17000 Insassen hat das Spezialgefängnis in der kurz nach der Machtübernahme der Roten Khmer fast völlig evakuierten Hauptstadt Phnom Penh in den knapp vier Jahren gehabt. Handelte es sich anfangs um die als Gegner eingestuften Intellektuellen sowie einige Vertreter des alten, amerikatreuen Regimes, wurden im Zuge interner »Säuberungsaktionen« der unter einem regelrechten Verfolgswahn herrschenden Regierung immer mehr Kader der mittleren und sogar höheren Ebene eingeliefert, denen man unterstellte, ausländische Spione zu sein. Insbesondere im Grenzgebiet zu Vietnam wurden fast alle Kommandeure der Bewegung verhaftet und später nach unter Folter erzwungenen Geständnissen ermordet. Nur ein Dutzend Überlebende fanden sich bei der Befreiung des Gefängnisses durch die zum Jahreswechsel 1978/79 einmarschierten Vietnamesen.

Opfer und Hinterbliebene reagierten enttäuscht auf den Urteilsspruch. »Millionen Menschen wurden getötet, Millionen Dollar (für den Prozeß) ausgegeben, aber der Mörder könnte wieder freigelassen werden«, empörte sich der 79jährige Tuol-Sleng-Überlebende Chum Mey. »Es wurde keine Gerechtigkeit gesprochen.« Auch der Gründer von Kambodschas Zentrum für Gerechtigkeit und Versöhnung, Theary Seng, kritisierte das Urteil als zu mild. Es könne kein Urteil hingenommen werden, wonach Duch möglicherweise wieder frei komme, sagte der Sohn von Opfern der Roten Khmer. Unter der Herrschaft der Roten Khmer waren in den 1970er Jahren zwei Millionen Menschen ums Leben gekommen, ein Viertel der kambodschanischen Bevölkerung.

Vier weiteren ehemaligen Anführern der Roten Khmer soll im nächsten Jahr der Prozeß gemacht werden.