Donnerstag, 1. Oktober 2009

Sarrazins türkenfeindliche Tiraden lösen Entsetzen aus

Von Anne Seith, Frankfurt am Main

Sarrazin: Niemanden anerkennen, der "ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert"

"Geschmacklos", "unerhört", "durchgeknallt": Die Empörung über Bundesbankvorstand Sarrazin ist groß. Der ehemalige Berliner Finanzsenator hat in einem Interview über die Hauptstadt hergezogen - und über die dort lebenden Einwanderer. Migrantenverbände verlangen eine Entschuldigung.

Ein Meister der Diplomatie war er noch nie, aber so wie jetzt ist selbst Thilo Sarrazin noch nie aus der Rolle gefallen. "Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate", sagte der Bundesbankvorstand und Ex-Finanzsenator in Berlin in einem Interview mit der Kulturzeitschrift "Lettre International": "Das würde mir gefallen, wenn es osteuropäische Juden wären mit einem um 15 Prozent höheren IQ als dem der deutschen Bevölkerung. Ich habe dazu keine Lust bei Bevölkerungsgruppen, die ihre Bringschuld zur Integration nicht akzeptieren."

Es ist nur eines von zahlreichen Zitaten aus dem Gespräch über die Hauptstadt, das in Politik und Finanzwelt für Entsetzen sorgt. "Klasse statt Masse. Von der Hauptstadt der Transferleistungen zur Metropole der Eliten", ist der Artikel überschrieben, in dem Sarrazin über mehr als fünf Seiten hinweg mit seiner ehemaligen Wirkungsstätte abrechnet. Berlin sei belastet von der "68er-Generation" und dem "Westberliner Schlampfaktor", findet der Ex-Senator.

Für besondere Empörung sorgen jetzt vor allem die despektierlichen Beschreibungen der ausländischen Bevölkerung der Stadt. Er müsse "niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert", findet der Bundesbanker. "Das gilt für 70 Prozent der Türken und für 90 Prozent der arabischen Bevölkerung." "Türkische Wärmestuben" könnten die Stadt nicht voranbringen, sagte Sarrazin an anderer Stelle.

"Mit Maß und Mitte hat das nichts zu tun"

Man dürfe von Migranten nicht als Einheit reden, so Sarrazins These. Osteuropäer, Weißrussen, Ukrainer und Vietnamesen etwa seien durchaus "integrationswillig", sagt er. "Bei der Kerngruppe der Jugoslawen sieht man dann schon eher 'türkische' Probleme." Dazu gehört nach seiner Auffassung etwa Folgendes: "Ständig werden Bräute nachgeliefert." Seine Vorstellung wäre: "Generell kein Zuzug mehr außer für Hochqualifizierte und perspektivisch keine Transferleistungen mehr für Einwanderer."

Der niedersächsische Arbeitsminister Philipp Rösler (FDP), der vietnamesische Wurzeln hat, ist entsetzt. Man dürfe Probleme nicht schönreden, "aber das ist Polemik in die andere Richtung", sagt er. "Mit Maß und Mitte hat das nichts zu tun." Sarrazins Aussagen machten "alle Integrationsbemühungen der letzten fünf Jahre kaputt". Der Bundestagsabgeordnete und Grünen-Finanzexperte Gerhard Schick findet die Äußerungen "geschmacklos und diskriminierend", so etwas dürfe ein Bundesbankvorstand auch "als Privatmann nicht in die Öffentlichkeit husten". Der Grünen-Politiker Özcan Mutlu hält Sarrazin schlicht für "durchgeknallt". Die Aussagen seien "einfach nur peinlich": "In Berlin gibt es allein 6000 deutsch-türkische Unternehmer, die nahezu 20.000 Arbeitsplätze geschaffen haben", fügt Mutlu noch hinzu.

Sarrazin hat sich mittlerweile entschuldigt. Die Reaktionen zeigten, "dass nicht jede Formulierung in diesem Interview gelungen war. Mein Anliegen war es, die Probleme und Perspektiven der Stadt Berlin anschaulich zu beschreiben, nicht aber einzelne Volksgruppen zu diskreditieren", teilte er mit. Es sei ihm auch bewusst geworden, "dass Aussagen eines Vorstands der Deutschen Bundesbank wegen der besonderen Stellung der Person und der Institution von der Öffentlichkeit mit großer Aufmerksamkeit und Sensibilität wahrgenommen werden. Ich werde deshalb in Zukunft bei öffentlichen Äußerungen mehr Vorsicht und Zurückhaltung walten lassen".

Die Berliner Justiz hat bereits ein Ermittlungsverfahren gegen Sarrazin eingeleitet. Es werde der Anfangsverdacht der Volksverhetzung geprüft, sagte ein Sprecher der Berliner Polizei am Donnerstag. Die Bundesbank hatte sich schon vorher von den "diskriminierenden Äußerungen" ihres Vorstands "entschieden" distanziert. "Das Interview steht in keinerlei Zusammenhang mit den Aufgaben von Dr. Sarrazin bei der Bundesbank." Konsequenzen muss Sarrazin demnach wohl nicht fürchten.

Sarrazin für Entgleisungen bekannt

Dabei ist es nicht der erste Ausrutscher des schnodderigen SPD-Mannes. Sarrazin ist für seine derben Sprüche berühmt-berüchtigt. Über Berlin sagte der 64-Jährige schon früher: "Die Beamten laufen bleich und übelriechend herum, weil die Arbeitsbelastung so hoch ist." Ein weiterer Spruch lautet: "Wenn man sich das anschaut, ist das kleinste Problem von Hartz-IV-Empfängern das Untergewicht." Seine Tipps, wie Empfänger von Arbeitslosengeld II sich mit vier Euro täglich gesund ernähren können, sorgten bislang für die größte Welle der Empörung.

Sarrazin müsste also wissen, was er tut, wenn er über mehr als eine Seite lang seine Anschauungen zur Integrationspolitik darlegt. "Das klingt alles sehr stammtischnah", erklärt er denn auch einsichtig in dem Interview, behauptet aber: "Man kann das empirisch sehr sorgfältig nachzeichnen."

Die türkische Gemeinde in Berlin ist dementsprechend sauer über die einseitige Darstellung. "Das ist unerhört", sagte am Donnerstag der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat, der Deutschen Presse-Agentur. "Sarrazin schießt häufig über das Ziel hinaus und macht sich keine Gedanken über die Auswirkungen seiner Aussagen."

Auch der Vorstandsvorsitzende der Türkisch-Deutschen Unternehmervereinigung (TDU), Hüsnü Özkanli, und der Sprecher des Türkischen Bunds Berlin-Brandenburg, Safter Cinar, reagierten entrüstet. Cinar sagte, die Aussagen Sarrazins seien einseitig und unüberlegt. "Das ist absolut unter der Gürtellinie und inhaltlich völliger Quatsch." Es gebe auch eine andere, erfolgreiche Seite. "Migranten mit höherer Bildung sind Politiker im Abgeordnetenhaus. Es gibt 80 türkischstämmige Ärzte, die in Berlin eine Praxis haben, und 70 türkische Anwälte."

Özkanli betonte: "Wir tragen zum deutschen Wirtschaftssystem bei, indem wir Ausbildungs- und Arbeitsplätze schaffen, unsere Jugend studiert", sagte er. "Was sollen wir sonst noch machen, um unseren Integrationswillen zu demonstrieren? Uns die Haare blond färben?"

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